Angesichts des „Sturms auf Berlin“ (Martina Wolf)

"Kinder, ihr seht den Sturm auf Berlin. Für Generaloberst Wassilij Iwanowitsch Kusnetzow war es das wichtigste, dass wir den Reichstag erobern. Um 21.50 Uhr, am 2.Mai, wird die Fahne zur Kuppel getragen und es strahlt unser Sieg mit dem Blau des Maihimmels als Hintergrund." So die Museumsführerin auf Russisch aus dem Off.

Die Video-Künstlerin Martina Wolf, Absolventin der Dresdner Kunsthochschule und Meisterschülerin von Lutz Dammbeck, hat 2009 als Stipendiatin der Hessischen Kulturstiftung in Moskau gelebt. Sie spricht russisch und interessiert sich dafür, wie der "Große Vaterländische Krieg" heute betrachtet wird, dessen Heroisierung in der Schule zu ihren Kindheitserinnerungen gehört. Sie hat die Moskowiter, die gekommen sind, um das riesige Diorama des "Sturms auf Berlin" zu betrachten, von hinten gefilmt – schwarzweiß und ohne Ton.

Hübsches Erinnerungsfoto

Touristen schlendern ins Bild, sie zeigen auf die Panzer, und Liebespaare benutzen das gemalte Gemetzel als Hintergrund für ein hübsches Erinnerungsfoto. Der Betrachter betrachtet die Betrachter, und er gesellt sich, wenn er den Lichtstrahl des Beamers kreuzt, als Schatten noch selber dazu.

Eine zweite Video-Arbeit behandelt denselben Gegenstand anders. Hier fährt die Kamera das Schlachtenbild mit quälender Langsamkeit ab, so dass die Ausschnitte wie Gemälde wirken, auf denen das Abbild der Schlacht in mehr oder weniger abstrakte Farbflächen kippt, deren Colorit mitunter an Bonnard, Vuillard und Turner erinnert. Aus Geschützfeuer werden gelbe Diagonalen, aus Panzerdetails eine kubistische Struktur, aus feuerrotem Rauch Wolken bei Sonnenuntergang. Doch in die schöne Abstraktion schiebt sich immer wieder die entsetzliche Realität. Der Giebel des Reichstags etwa mit der Inschrift DEM DEUTSCHEN VOLKE sinkt langsam ins Nichts.

So betrachtet man die wandernden Bilder mit buchstäblich gemischten Gefühlen, eine Spannung kommt auf, man wartet, was kommt. Durch das Kippen wird der appellative Charakter der Vorlage gebrochen, die realistische Direktheit mutiert in den Bildausschnitten zur rätselhaften Andeutung. Damit geschieht allerdings genau das, was östliche Abbildtheoretiker westlicher Kunst vorwarfen. Während das schulmäßig gut gemalte Diorama – die Vorlage, das große Ganze – in Schwarzweiß wie Erinnerung wirkt, wird die realistische Darstellung durch die dahin schwindenden Bildausschnitte der zweiten Arbeit transformiert: aus Abbildrealismus wird Kunst, aus einem Appell der Partei wird eine Interpretation des Betrachters. Die beiden aufeinander bezogenen Teil-Arbeiten erscheinen als Reflektion einer abgelebten, ideologischen Weltbetrachtung, die eine – erkenntnistheoretisch unmögliche – Unmittelbarkeit vorspiegelte. Tatsächlich ist unsere Wahrnehmung selektiv, das heißt interessegeleitet und ausschnitthaft. Ohne eigenes Zutun ist uns die Welt nicht zugänglich.

Ausstellung: Galerie Anita Beckers, Frankfurt am Main,  Juli/August 2010