Verkehrsberuhigung nach Schweizer Art: Autos, Fahrräder und Fußgänger werden in Burgdorf gemeinsam in die „Flanierzone“ geschickt. Die Folge: Man arrangiert sich
Ein Rechtsabbieger, in dessen Kleinwagen die Bässe wummern, schneidet auf der Fahrradspur einen Radler. Der schüttelt die Faust, denn der Stärkere hat ihm sein Recht beschnitten. „Du Sau, brutale!“
Der rachedurstig gestimmte Radfahrer findet sich 400 Meter weiter durch einen Lieferwagen behindert, der auf der Fahrradspur parkt. Ha! Böse verbiegt der Radfahrer dem Falschparker den Scheibenwischer. Als dieser, vom Abladen zurückgekehrt, den Angriff mit einem Fluch entdeckt, der leicht die nächste Zeile füllen könnte, radelt jener schon durch die Fußgängerzone.
Hasserfüllt beschließt der Kombifahrer, bei nächster Gelegenheit sein Mütchen an einem der vielen Radfahrer zu kühlen, die er überhaupt für Ungeziefer hält. Während der Radler auf die Armbanduhr schaut, läuft ihm ein junger Mann ins Rad, das Handy am Ohr. „Passen Sie doch auf!“ „Pass selber auf, alter Sack!“ Das Handy liegt auf dem Pflaster, der Davonradelnde zeigt den Effenberger. Fünf Minuten später bringt der erboste Fußgänger dem nächstbesten Herrenrad einen doppelten Platten bei.
Nachmittags wechselt der Rechtsabbieger auf sein Mountainbike. Als er – den Walkman in der Tasche und den Knopf im Ohr – über den Zebrastreifen brettert, springt eine junge Mutter zurück, und der Kombifahrer, der gerade zur Stelle ist, weil die Geschichte es so will, drückt das Gaspedal durch. Ein meterlanger Fluch. Der ehemalige Rechtsabbieger und jetzige Biker kommt mit dem Schrecken davon. Beide Kontrahenten zeigen einander den Effenberger.
Weil die Verkehrspolitiker wissen, dass der Deutsche auf seinem Recht besteht, sei es als Autofahrer, Radler oder Fußgänger – je nachdem, in welcher Rolle er sich gerade einbetoniert hat –, haben sie für eine Entflechtung des Verkehrs gesorgt. Jeder Sorte Verkehrsteilnehmer wurde eine eigene Spur zugewiesen, und wo eine Begegnung unvermeidlich ist wie an der Kreuzung, wird die Vorfahrt durch Ampelanlagen geregelt.
Diese Beschränkung auf den eigenen Weg, die der Logik einer Gettoisierung entspricht, hat dazu geführt, dass man auf der eigenen Spur nicht erwartet, von anderen Verkehrsteilnehmern belästigt zu werden. Schläfrig fährt man vor sich hin wie auf Schienen, und trifft man doch einmal mit der anderen Sorte zusammen, besteht man auf seinem Recht – das mitunter als Faustrecht missverstanden wird. Das Fahren ist zu einem rein technischen Vorgang geworden – mit der Folge, dass die sozialen Tugenden der Umsicht, Rücksicht, Vorsicht und Nachsicht verloren gegangen sind. Kaum etwas ist besser zur Förderung unsozialer Verhaltensweisen geeignet als der Straßenverkehr, der als ein bloß technischer Vorgang angelegt ist.
Seit 1996 läuft in dem 15.000 Einwohner großen Ort Burgdorf in der Schweiz ein Experiment, das ein Heilmittel für die beschriebenen deutschen Verhältnisse sein könnte, denn es verspricht die fällige Resozialisierung des Verkehrs.
Das Modell ist ein Kompromiss zwischen den Verfechtern der traditionellen Fußgängerzone und den örtlichen Ladenbesitzern, die jene Kunden zu verlieren fürchten, die mit dem Auto vorzufahren wünschen. Man hat sich dort darauf geeinigt, den Fußgängern unbedingten Vortritt zu lassen und die Höchstgeschwindigkeit auf zwanzig Stundenkilometer zu beschränken.
Die „Flanierzone“ Burgdorf wurde durch ein einfaches Transparent und Handzettel eingeführt, also mit denkbar geringen Mitteln. Nach einigem Hin und Her wurde das Konzept angenommen. Eineinhalb Jahre nach der Einführung überschritten nur noch fünfzehn Prozent der Autofahrer das Limit. Die Fußgänger kommen zurecht. Man arrangiert sich.
Inzwischen ist das Projekt als so genannte Begegnungszone in die schweizerische Straßenverkehrsordnung eingegangen. Bemerkenswert an diesem Ansatz ist, dass er den Fußgänger als den Schwächsten der Verkehrsteilnehmer zum Maßstab macht – in der Tat eine Vermenschlichung des Verkehrs. Jeder Verkehrsteilnehmer ist in Burgdorf nunmehr gehalten, sich im eigensten Interesse aufmerksam und rücksichtsvoll, oder besser: flexibel vorwärts zu bewegen.
In ambivalenten Situationen verständigt man sich wieder über Blickkontakt. Ein Auto- oder auch ein Fahrradfahrer, der versuchen sollte, sich als der Stärkere durchzusetzen, hat zwischen den Fußgängern schlechte Karten. Er kommt nicht weit.
Fahrerflucht, die ja immer häufiger praktiziert wird, wäre hier ganz unmöglich. Das soziale Übereinkommen ist offenbar praktischer als eine rein technische Regelung, welche die verschiedenen Arten der Verkehrsteilnehmer einander fremd und zu bloßen Hindernissen gemacht hat.
Das so simple Schweizer Konzept ist von jenem Geist, der die Stadt wieder als das auffasst, was sie einmal war: ein soziales Gesamtkunstwerk und nicht ein technischer Betrieb.