Mauern zum Zusammenleben

Ich sehe was, was du auch siehst (3):
Eine Sommerserie über selbstverständliche Dinge des Alltags:
Die Wand

Nichts ist selbstverständlicher als eine Wand. Dabei ist Wand an Wand zu wohnen, also eine Mauer zu teilen wie in den Stadthäusern, ein Kulturfortschritt, wird doch im Unterschied etwa zum frei stehenden Eigenheim ein prinzipielles Vertrauen in den Nachbarn unterstellt. Die Germanen waren stolz, um ihre Wohnstätten herum einen möglichst weiten unbewohnten Raum zu haben – je größer dieser war, als umso gefürchteter galt der Stamm. In griechischen und italienischen Dörfern, in denen die Häuser eng aneinander gebaut sind, lebt man weniger distanziert, also geselliger als in Orten, wo die Häuser einzeln und auseinander stehen.
Wenn ein junges Paar zusammenzieht, sagt man, sie wohnen jetzt „in den eigenen vier Wänden“, und nicht, sie haben nun ein „Dach über dem Kopf“. Das Dach gilt als Schutz gegen die Natur, die Wände sind eine Abgrenzung gegenüber den anderen. Das Dach ist das Mindeste, die Wände aber sind eine soziale Umgrenzung des Eigenen, des Privaten, Intimen – und des Besitzes. Die Rede, dass „die Wände Ohren haben“, soll aus der Zeit der Bartholomäusnacht stammen, in der die protestantischen Hochzeitsgäste des Henri Quatre von Navarra grausam ermordet wurden. Katharina von Medici hatte damals unsichtbare Horchkanäle in die Wände des Louvre einbauen lassen, damit sie aus verschiedenen Zimmern hören konnte, was man über sie sprach. Mehreren Mordplänen soll sie dadurch zuvorgekommen sein, schreibt Lutz Röhrich.
„Der Horcher an der Wand hört seine eigene Schand’“, lautet ein Spruch und besagt damit auch, dass Wände in der Regel dünn sind. Besonders in Japan, wo die traditionellen Wände aus Papier so leicht und durchsichtig sind, dass das, was wir Westler unter Privatleben verstehen, nicht möglich ist. Es liegt auf der Hand, dass die Art der Wände einen starken Einfluss auf das Zusammenleben hat. Wenn jemand „die Wand hoch geht“, ist er fuchsteufelswild. Offenbar kann er keine Tür krachend hinter sich zuschlagen. Es ist also eine Wut, die keinen Ausweg hat – eine wirklich furchtbare Wut.
Es waren die großen Baumeister des Barocks, die den Spruch, dass die „Wände wackeln“, buchstäblich verwirklicht haben. In Borrominis Kirche San Carlo alle Quattro Fontane in Rom hat man den Eindruck, sich im Inneren eines pulsierenden Herzens zu befinden, so sehr scheinen sich die geschwungenen Wände zu bewegen. Im Unterschied zu dem sachlichen Ausdruck „Mauer“ bezeichnet „Wand“ den Aspekt der Menschenbezogenheit, das heißt die Seite der Mauer, die den Menschen zugewandt ist. Darum wird die Wand verputzt: Sie wird schön gemacht. Erst durch diese Ausformung der Zugewandtheit wird aus der Mauer wirklich eine Wand – für uns.
Erst mit der Wand gibt es die Möglichkeit, innerhalb des Hauses Räume nach ihrer Nutzung voneinander abzuscheiden. Als Goethe auf seiner Italienreise einen Gastwirt nach der Möglichkeit fragte, ein gewisses Bedürfnis zu befriedigen, sagte der: „dappertutto“ („überall“) und wies in den Hof. Sowohl das Klo wie das Bad waren zu jener Zeit nur ausnahmsweise im Haus. Badete man zu Hause, wurde ein Paravent vor den Holzzuber gestellt. Der faltbare Paravent (wörtlich: gegen den Wind) ist ein Vorläufer der flexiblen Wand, die – wohl in den 20er-Jahren erfunden – in den 70er-Jahren wieder entdeckt wurde, als die Variabilität gegenüber der Verknöcherung der Nachkriegsverhältnisse überall Programm war. Die Räume konnten so unterschiedlich abgeteilt werden.
Wandlosigkeit kennzeichnet dagegen urtümliche Verhältnisse. Carlo Levi beschreibt das typische Bauernhaus in der süditalienischen Provinz Matera aus den 30er-Jahren: „Die Häuser der Bauern bestehen aus einem einzigen Raum. Das Zimmer ist fast ganz ausgefüllt von einem riesigen Bett, in ihm muss die ganze Familie schlafen. Die Kleinsten haben kleine Weidenkörbchen, die an Stricken von der Decke hängen. Unter dem Bett liegen die Tiere: der Raum ist so in drei Schichten aufgeteilt: auf dem Fußboden die Tiere, auf dem Bett die Menschen und in der Luft die Säuglinge.“ Wände würden diese drei Schichten in getrennte Räume verwandelt haben.
Wände verändern solche archaischen Zustände, indem sie die Kontrollmöglichkeit des Patriarchen begrenzen. Mit dem anscheinend demokratischen Großraumbüro wird der alte Zustand reinstalliert: Der Abteilungsleiter kontrolliert alles – außer dem Klo.