Ich sehe was, was du auch siehst (1):
Eine Sommerserie über selbstverständliche Dinge des Alltags:
Der Stuhl
– ein Möbel, um den Menschen sesshaft zu machen. Ein Stuhl erhöht den Menschen über den Boden und erfüllt sein tiefes Bedürfnis, sich von den Tieren zu unterscheiden, die sich im Dreck wälzen – am verächtlichsten die beinlose Schlange, ein Sinnbild des Teufels. Als Erhöhung ist der Stuhl Ausdruck der Menschenwürde. Vom Bettler erwartet man, dass er auf dem nackten Boden hockt, im Schmutz, um die entwürdigende Niedrigkeit seines sozialen Status sinnfällig zu machen. Tatsächlich sieht man nirgends einen Bettler auf einem Stuhl sitzen. Abendländer betrachten darum Asiaten, die abends nach getaner Arbeit am Straßenrand – sogar in New York – in der Hocke zu sitzen pflegen, mit Befremden. Der Kaiser von China saß einmal auf einem hohen Thron, und man näherte sich ihm auf allen vieren kriechend.
Der Stuhl ist mit Sitz, Rückenlehne, Armstützen und Beinen dem menschlichen Körper so sehr angeschmiegt, dass er in der Kunst manchmal als Symbol für den Menschen selbst steht. Schwellende Kissen und Polster sind dem weichen Fleisch der Müßigen nachgebildet, und die Marodeure aller Zeiten stachen anstelle der Herrschaften, die geflohen waren, die Kissen ab. Wenn auch dem Menschen angepasst, so ist der Stuhl mit seinen vier Beinen, Ziegenfüßen oder Löwentatzen doch andererseits ursprünglich auch ein Tier – ein Reittier. Goethe pflegte in seinem Gartenhaus zu Ilmenau auf einem Stuhlbock mit Sattel zu dichten.
Die Gattungsbezeichnung Möbel (von lat. mobilis) erinnert an die prinzipielle Beweglichkeit des Stuhls, die er in einer Sonderbarkeit, im Tragstuhl – der Sänfte – noch im 18. Jahrhundert praktisch unter Beweis stellte. Der wurde von vornehmen Damen und hohen Geistlichen für kürzere Wege benutzt, in Italien sogar auf Gebirgspfaden. Wenn man jemandem einen Stuhl anbietet und zum Sitzen einlädt, räumt man ihm einen festen Platz ein.
Wer Platz genommen hat, gibt damit zu erkennen, dass er nicht so bald weggehen wird – im Unterschied zu denen, die stehen bleiben oder stehen bleiben müssen und damit immer im Aufbruch begriffen scheinen. Daher der Ausdruck „stante pede“, das heißt „stehenden Fußes“ im Sinne von „sofort“. Sitzen zu dürfen bedeutet, einen Platz gefunden zu haben, sei es im Wartezimmer oder bei Hofe – man hat sich etabliert.
An den Sitzen so manchen Kirchengestühls sind die Namen der Familien eingetragen, die dort einen ständigen Platz haben. Der Stuhl bedeutet Besitz. Man sitzt mit seinem ganzen Gewicht auf dem, was einem gehört, ist sesshaft, hat einen Wohnsitz oder Alterssitz. Insofern der Stuhl (obwohl ein Möbel) einen festen Sitz bedeutet, bezeichnet er als „Heiliger Stuhl“ die Institution der katholischen Kirche in Rom.
Ein erhöhter Stuhl ist der Thron. Afrikanische Häuptlingsthrone machen deutlich, was das heißt: Der Sitz wird von Menschenleibern gestützt beziehungsweise erhebt sich auf den Rücken der Untertanen. Der Ausdruck „Untersassen“ gibt eine Ahnung davon. Der Vorsitzende (vgl. Präsident) heißt im amerikanischen einfach chair.
Am französischen Hof war es nur den Damen der Granden gestattet, sich auf Taburetts um den König zu scharen. Diese Ehre wurde hart umkämpft. Zu sitzen bedeutete dazuzugehören. Bei Gesellschaften wird mit einer durch Tischkarten festgelegten Sitzordnung eine Hierarchie hergestellt: Die Bevorzugten sitzen zur Linken und zur Rechten der Hauptperson oder dieser direkt gegenüber. Die Sitzlandschaften der 70er-Jahre waren mehr als eine Mode, denn sie richteten sich – antiautoritär wie so vieles in jener Zeit – gegen eine feste Sitzordnung: ein demokratisches Sitzen.
Eine Sonderform des Stuhls ist der Kackstuhl – übrigens wie das Wort „kacken“ selbst, das sich von griechisch kakós (schlecht) herleitet, ein grundseriöser Ausdruck. „Stuhlgang“ erklärt sich als Gang zu diesem Stuhl.
Schnitzereien, Verzierungen weisen auf die Wichtigkeit des Stuhls in seiner Funktion als Erhöhung hin – und damit auch auf den Rang dessen, der darauf Platz nimmt. Ein Hocker dagegen ist eine Sitzgelegenheit ohne Lehne, also gerade desjenigen Teils, welcher der Muße dient und damit ein Zeichen der Herrschaft ist. Der Hocker ist ein Arbeitsmöbel für Mägde und Knechte und der Elektrische Stuhl eine Perversion, weil er als Stuhl – als Ausdruck der Erhöhung des Menschen – dessen größter Erniedrigung dient.