Als Weinhändler war Jean Dubuffet stets gut sortiert, als Künstler hingegen ließ er nur das Durcheinander gelten. Auf den Spuren eines Großmeisters der modernen Kunst
„Dann werde ich Künstler. Dann stelle ich im Salon aus. Und dann begräbt man mich im Panthéon. Und dann verkauft man meine Zeichnungen für zehn Millionen. Und dann bin ich berühmt für die ganze Ewigkeit“, schrieb der Sechzehnjährige ironisch an einen Schulfreund. Nun, Künstler ist er schließlich geworden, nachdem er zweimal aufgegeben hatte und wieder Weinhändler geworden war wie sein Vater. Im „Salon“ hat er nicht ausgestellt, denn diese uralte staatliche Institution, die noch Manet von der Teilnahme ausgeschlossen hatte, existierte nicht mehr. Die erste Einzelausstellung hatte er in der Galerie René Drouin an der Place Vendôme. Seine Strichmännchen machten einen derartigen Skandal, dass sie von der Polizei bewacht werden mussten.
Das war im Jahr 1944, und der am 31. Juli 1901 in Le Havre geborene Jean Dubuffet war schon nicht mehr der Jüngste. Wer die steinerne Wendeltreppe in die Krypta des Panthéon hinabsteigt, wird in der kühlen Gruft, in welcher die unsterblichen Franzosen ruhen, rechts von Jean-Jacques Rousseau und links von Voltaire empfangen. Auch Soufflot, der Architekt des Panthéon, liegt hier begraben. Aber Dubuffet? Keine Spur. Während die beiden Denker der Aufklärung und vehementen Kritiker des Feudalismus zu den geistigen Vätern der Französischen Republik zählen, hat Dubuffet zeitlebens alles getan, um sich dem Zugriff der etablierten Normen- und Denksysteme sowie den mit dem Staat verflochtenen Kulturapparaten zu entziehen.
„Typisch für die Kultur ist“, schrieb er in einem seiner brillanten Essays, „dass sie die Schmetterlinge nicht fliegen lassen kann. Sie ruht nicht eher, als bis sie aufgespießt und etikettiert sind. Das ursprüngliche, massenhafte Gewimmel, der fruchtbare Humus, auf dem tausend Blumen wachsen können, wird von der Kulturpropaganda nicht gepflegt.“ „Aufspießen“, damit meinte er das Registrieren, Analysieren, Klassifizieren, Hierarchisieren, Evaluieren, das Zuschnappen der kulturellen Begriffs- und Wertsysteme.
„Ich bin eher für das Durcheinander“, schrieb er. Warum? Eben weil für ihn „die unterschiedliche, horizontal ausgebreitete Vielfalt unterschiedlicher Dinge“ das Leben selber ausmachte. In der ihm eigenen luziden und anmutigen Ausdrucksweise schrieb er einmal, man dürfe „den Wind nicht vom Baum trennen“. Von Anfang an versuchte er in seiner Kunst, die herrschenden Begriffssysteme zu unterlaufen, welche die Welt analytisch auseinander reißen und in Kategorien ordnen, nach denen dies gut und jenes schlecht, dies schön, jenes hässlich, dies normal, jenes anormal ist.
Dubuffet wollte subversiv, wollte Outsider bleiben, und das so sehr, dass er es sogar ablehnte, seine Werke zwischen die der „Berufskünstler“ (J. D.) zu hängen. Ehrungen lehnte er ab. Zu Vernissagen erschien er nicht. Was nun aber die „zehn Millionen“ anlangt: Heute dürften – anders, als der junge Dubuffet es sich vorstellte – seine Werke ein Vielfaches wert sein. Und „berühmt“, was schließlich das betrifft, so sind wenigstens Dubuffets Arbeiten aus der Werkphase der L’Hourloupe (1962 bis 1974), jene puzzleartigen, zellularen Zusammenhänge, die sich unverwechselbar auf Bildern und Wänden, als Skulpturen, als Architektur und schließlich sogar als Theater wie ein fremder Kosmos ausbreiten, ebenso weltbekannt wie Giacomettis fadendünne Menschen.
Mit der großen Retrospektive zu seinem hundertsten Geburtstag wurde Jean Dubuffet vor zwei Jahren im Centre Pompidou als einer der Heroen der modernen Kunst Europas gefeiert, der fraglos neben Giacometti und Picasso rangiert. Sein fünf Meter hohes Konterfei hing in allen Pariser Métrostationen, die groß genug dafür waren.
Obwohl oder weil man seine Arbeiten verhöhnte, war er bald berühmt geworden. Documenta, MoMA, Guggenheim, Biennale: Alle Kunsttempel haben ihn ausgestellt. Hat er es dann doch genossen, dass seine Werke „vom kulturellen Magen verdaut“ (J. D.) wurden? Mme Armande Ponge de Trentinian lacht: „Dass er schließlich geschätzt wurde, hat er wohl auch genossen.“ Die langjährige Direktorin der Fondation Jean Dubuffet ist die engste (sie sagt: très proche) Mitarbeiterin des Künstlers gewesen. Sie hatte schon zuvor sein Sekretariat organisiert.
„Ja“, meint sie, als ich sie in ihrer mit Dubuffets voll gehängten Wohnung in Paris besuche, „ein Sekretariat, das war für einen Künstler damals schon außergewöhnlich.“ Dubuffet, der „Vertreter der Unordnung“ (J. D.) in der Kunst, der die ästhetischen Prinzipien durch Mischungen der abenteuerlichsten Materialien konterkarierte, hielt im bürgerlichen Leben und bei der Organisation seiner Projekte auf strikte Ordnung.
Als ich die neuen Pariser Papierkörbe sehe, durchsichtige grüne Plastikbeutel mit der Aufschrift „vigilance propreté“ (Sauberkeitsüberwachung) in einem Gestell, fällt mir der Film ein: Jean Dubuffet verlässt in Hut und Mantel – er war immer höchst seriös gekleidet – sein Haus in Vence bei Nizza und lüftet den Deckel einer Mülltonne. Wie selbstverständlich kramt er darin herum und dann lässt er – flutsch – etwas in die Tasche seines Trenchcoats gleiten. Er hatte etwas für eine Assemblage gefunden, diese Methode, ein „Durcheinander“ herzustellen.
Kurt Wyss, Dubuffets Fotograf, in dessen Atelier ich viele Fotos aus den Katalogen wiedererkenne, sagt mir in Basel: „Er war auch ein hervorragender Manager.“ Ein Manager? Als Dubuffet in den Siebzigerjahren das Großprojekt „L’Hourloupe“ schuf – seine „Villa Falbala“, eine Welt aus weißen, schwarz umrandeten Puzzles, in der man herumgeht und bald die Orientierung verliert, und „Coucou Bazar“, ein totales L’Hourloupe-Theater, bei dem sich die in riesige hourloupeske Kostüme gekleideten Tänzer von den Kulissen nur dadurch unterscheiden, dass sie sich bewegen –, da beschäftigte er mehrere Technikerteams, oft mehr als zwanzig Mann.
Humanistisch gebildet, gutbürgerlicher Herkunft, erfolgreicher Weingroßhändler, der in der Okkupationszeit mit Geschick gutes Geld gemacht hatte, besaß er einen Sinn für effektive Organisation. Gemessen an Chaoten wie Giacometti, der mit Bruder Diego in einem Loch lebte, verstand es Jean Dubuffet, seine Arbeit zu organisieren. Wie auch sein Leben.
In der Rue Lhomond, wo der Künstler von 1935 bis 1944 wohnte und arbeitete, sehe ich zum Atelierfenster hinauf. Dort muss es gewesen sein, dass er Le Corbusier ein Bild schenkte, weil er das Verkaufen für unanständig hielt. Obwohl der Künstler schließlich wohlhabend wurde, war er – wie mir Mme de Trentinian sagte – doch immer darauf bedacht, dass die Preise erschwinglich blieben. „Er wollte“, sagt sie, „dass seine Arbeit überall und allen bekannt würde.“ So gründete er eine Stiftung („Fondation“), die über tausende von Werken verfügt, welche auch nach seinem Tode unabhängig vom kommerziellen Kunstbetrieb gezeigt und ausgestellt werden.
Er wohnte in Nummer 34 und arbeitete in Nummer 35. Die alten, kleinstädtisch wirkenden Häuser stehen einander dicht gegenüber. Um zur geliebten Lili zu kommen, brauchte er nur über die Straße zu springen. Bei Mme de Trentinian sehe ich ein frühes Bild von ihr. War es ein glückliches Verhältnis? „Ja, sehr!“, lächelt Madame. Lili sieht vergnügt aus. Es scheint mir nicht unschicklich, sich der frechen erotischen Zeichnungen „Conjugaison“ (1949) zu erinnern, so anmutig, weil beide Partner großes Vergnügen haben und (im Unterschied etwa zu Picasso) jede Gewalt fehlt.
Ich mache mich auf zur Rue de Vaugirard 114[bis], wo Dubuffet die längste Zeit wohnte und 1985 gestorben ist. Da lassen gerade zwei blutjunge Polizisten ihre superschnellen Fahrräder auf dem Hinterrad hüpfen, ohne runterzufallen. Kurz nach diesem Rodeo treffe ich auf einen Geschäftsmann aus dem Viertel, der sich an Dubuffet erinnert: „Ein großer Künstler, ein großer Mann!“ Er sagt mir, dass die Ateliers im hinteren Haus heute nicht mehr existieren. Und wie war das da? „Nach dem Krieg war es so kalt, dass Dubuffet in die Sahara ging.“ Und sich für die Spuren im Wüstensand begeisterte.
Der Künstler hatte nicht nur hier ein Atelier, sondern auch eins in Vence, eins in Le Touquet, und er mietete in der Banlieue von Paris immer wieder riesige Hallen für seine Großprojekte an, darunter auch in der Cartoucherie im Park von Vincennes. Um zu sehen, wo er für „Coucou Bazar“ geprobt hat, bin ich dorthin gefahren. Man nimmt die Métrolinie 1, diesen wunderbaren, nicht in Waggons abgeteilten Zug, der eine 250 Meter lange Durchsicht erlaubt. Ein ferner Musettewalzer kommt immer näher, aber in den Kurven wird er leiser und in sehr engen Kurven bricht er ganz ab. Und endlich materialisiert er sich als ein junger Ziehharmonika spielender Russe.
In der Cartoucherie (in der einst Granaten gefüllt wurden) residieren jetzt mehrere Theater, darunter das „Théâtre de soleil“. Die kostümierten Theaterleute sind freundlich. Ein Bär erlaubt mir einen Blick hinter die Bühne.
Die „Fondation Jean Dubuffet“ versteckt sich in der Rue de Sèvres 137 hinter Jasmin- und Rosensträuchern in einer Art Gartenhaus. Im Entrée liegen unter einem Großfoto des Künstlers 38 Kataloge. Ausgestellt in einer Vitrine sind auch die kleinen elektrischen Glühdrahtwerkzeuge, mit denen er Polyester schnitt. Schade, die jetzige Direktorin, Mme Webel, macht verlängertes Wochenende. Später, am Telefon, sagt sie: „Aber nein, Monsieur, um Dubuffet persönlich zu kennen, bin ich zu jung.“
Hier war zuvor die Collection de l’Art Brut untergebracht, die unangepassten Werke devianter Autodidakten, oft Anstalts- und Gefängnisinsassen, für die Dubuffet sich interessierte, weil er ihre Arbeiten als noch nicht durch die gesellschaftlichen Normen kontaminiert ansah. Der Künstler hat die Sammlung später der Stadt Lausanne geschenkt, wo man nun im Château Beaulieu in der Tat die unglaublichsten Werke sehen kann. Die augenblickliche Ausstellung in der Fondation Jean Dubuffet zeigt eine Übersicht seiner verschiedenen Werkphasen, die erkennen lassen, worauf es Dubuffet immer ankam: den Zusammenhang von allem und jedem. „Kakaismus!“, hatte die Kritik geheult, als er Dreck und Ölfarbe mischte.
Dubuffets geistiger Ansatz ist heute darum so aktuell, weil er – lange bevor „Durchmischung“ in Soziologie und Architektur zum geflügelten Wort wurde – gegen das uralte, unheilvolle Denkmodell der Reinheit (Homogenität) die Heterogenität („das chaotische Gewimmel“) ins Feld führte, das heißt das Leben selbst gegen die Herrschaft des analytischen Geistes.
Was aber gibt es nun in Paris von Dubuffets Werken zu sehen? Im Centre Pompidou den Wintergarten („Jardin d’hiver“), ein Stück aus der L’Hourloupe-Welt. Leider ist die Sammlung, die Dubuffet dem Musée d’arts décoratifs in der Rue de Rivoli geschenkt hat, für längere Zeit unzugänglich. Dort wird momentan renoviert. So gehe ich durch die Gärten der Tuilerien und finde auf einem kleinen eingehegten Rasenstück neben dem Eingang zum Jeu de Paume an der Place de la Concorde die fuchtelnde Figur „Bel costumé“ aus dem L’Hourloupe-Zyklus. Ein ehrenvoller Platz – fünfzig Meter weiter stehen drei große Skulpturen von Rodin.
Ich frage eine Dame, die gerade vorbeigeht, ob ihr die Skulptur gefällt. „Ein bisschen zu modern für meinen Geschmack“, meint sie. „Ich bin mehr für das Klassische.“ – „Kennen Sie den Künstler vielleicht, Madame?“, frage ich. „Aber nein“, wehrt sie höflich ab, ganz sicher, dass Dubuffet nichts für sie ist. Anders gesagt: Jean Dubuffet ist selbst heute noch nicht allgemein konsumierbar.