Der Herr an der Mülltonne
Skandal machte Jean Dubuffet (1901–1985), der sich nach langen Studien nur schwer entschloss, ein Künstler zu sein, schon mit seiner ersten Ausstellung im Jahre 1946: Er forderte die Ehrenrettung des Schmutzes, verquickte die traditionsreiche Ölfarbe programmatisch mit Dreck und kratzte in die „haute pâte“ verrückte Figuren und Gesichter. Vorbilder waren die Kritzeleien von Geisteskranken, Kindern und Pissoirbesuchern, die er zur Art Brut erklärte und sammelte. Er suchte nach Ursprünglichkeit: äMan muss andere völlig ungewohnte Mittel einsetzen, um das Sehen wieder zu wecken. Scharfzüngig und voller Witz hatte Dubuffet nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die etablierte Kultur einer moralisch bankrotten Bourgeoisie polemisiert.
Nach der opulenten Retrospektive im Saarbrückener Saarland-Museum (1999) zeigt nun der Ulmer Kunstverein mit Lithographien eine weniger bekannte Seite des großen Franzosen, der in allen Künsten experimentierte, auch in Musik, Theater und Architektur. Hatte er in der Malerei die rohe Materie ins Bild geholt, arbeitete er in seinen Lithographien mit Abdrücken der Materie: dem Erdboden, Mauern, alten Koffern und sogar der Rückenhaut eines Freundes. Diese objektiven Wirklichkeitsabdrücke kombinierte er dann und schuf so ein geschichtetes Realitätskonzentrat wie in „Les Phénomenès: 362 Lithos“, von denen fünf zu sehen sind.
Ausschnitte davon verwendete er dann zu Collagen wie der lustigen „Karottennase“, die der Ulmer Ausstellung den Namen gibt. Die Collage war für ihn die Technik, welche dem assoziativen wilden Denken entspricht. Er streute Nähfaden, Papierschnipsel, Brotkrümel auf die Druckplatten, ließ sie vom Regen betropfen oder erhitzte sie auf der Herdplatte er tat mithin alles, was der professionelle Lithograph peinlich vermeidet. „Ich konnte,“ schrieb er, „in unendlicher Mannigfaltigkeit Drucke entwerfen, ohne jemals einen Pinsel zu berühren, sondern einfach durch Variation in der Abfolge der Matritzen. Das könnte durch eine dritte Person ausgeführt werden …“
In der hohen Zeit des Informel mit seinem emphatischen Subjektivitätsbegriff ließ Dubuffet die leblose Materie in Abbildern selbst zu Worte kommen und vergeistigte sie so. Er nahm sich als Künstler zurück, eine Haltung, die Züge der objektivistischen Kunsttendenzen der 60er Jahre vorwegnimmt. Unter den Exponaten aus Privatsammlungen und den Leihgaben der Staatlichen Graphischen Sammlung München findet man seltene Künstlerbücher mit handschriftlichen Texten des Künstlers, besonders schön: die 15 Serigraphien Oriflammes Tot/blau auf gelbem Grund von 1984, die in Zusammenhang mit den Farbfilzstiftarbeiten der Argument-Reihe und den Bildern des Typs Mire Kowloon (1983) entstanden; das Algèbre de „LHourloupe“ (1967), 52 Spielkarten nach Dubuffets berühmter puzzleartiger Bildschrift LHourloupe; und die 15 Lithos „Les Murs“ (1945) mit Graffiti-Inschriften auf rissigen schwarzen Flächen mit Figuren.
Ein Video zeigt den Künstler, der stets gekleidet ging wie ein Herr, in einer Abfalltonne suchend, abblätternde Mauern musternd, Steinchen aufklaubend, die er schnell in die Tasche seines schönen Trenchcoats steckt. Dubuffet, der zurückgezogen lebte und doch mit allen Größen der Zeit bekannt war, sprach langsam und artikuliert. Er war hoch gebildet, sprach unter anderem Arabisch und Russisch, bewunderte Paul Klee und schrieb täglich. Seine Texte umfassen vier Bände à 400 Seiten. 1947, als in Paris die Kohlen knapp waren, fuhr er in die Sahara. Im Wüstensand fand er Spuren, Fußabdrücke von Tieren und Menschen: Spuren als Zeichen der Geschichte, Spuren des gewöhnlichen Lebens, aus dem er sich die Erneuerung der Kunst erhoffte.
Wegen der Seltenheit der Exponate ist die Ausstellung für Kenner Dubuffets ein Muss und für die Kunstinteressierten Gelegenheit, einen der großen Revolutionäre der Kunst kennen zu lernen.
Jean Dubuffet, Nez carrotte, Kunstverein Ulm, bis zum 4. Juni 2000.