Gehetzter Blick nach draussen
Der Kanadier Roger Dale hat gemalt, was ein KZ-Häftling hätte sehen können
FREIBURG. Als die Delegierten des britischen Parlaments am 21. April 1945 das KZ Buchenwald besichtigten, waren sie ebenso fassungslos wie der amerikanische Panzergeneral George S. Patton, dessen Soldaten das Lager zehn Tage zuvor befreit hatten.
Fassungslosigkeit ist Ausdruck des Unvermögens, etwas in Worte und Bilder zu fassen, das alle Vorstellung übersteigt. Was für ein schöner Sonntag!, Jorge Sempruns Buch über Buchenwald, ist eine anhaltende Abschweifung vom Ort des Schreckens. Nicht erst seit dem Film Schindlers Liste ist das Eis gebrochen. Dem Grauen eine darstellende Form zu geben, trauten sich Künstler des Realsozialismus seit jeher zu, da ja die offizielle Erkenntnistheorie die Abbildung der sichtbaren Wirklichkeit zur Doktrin erhob.
Mit der Fassungslosigkeit ist es vorbei, wie die Arbeit The Holocaust des Amerikaners George Segal vor Augen führt, die 1984 im Lincoln Park in San Francisco aufgestellt wurde.
Segal bildet in seiner bekannten Manier tatsächlich einen Leichenhaufen nach und lässt daneben einen Lebenden stehen, der durch den Stacheldrahtzaun nach draussen blickt. Anmassend wie schon ihr grosser Titel ist diese Arbeit nicht nur, weil sie das Unfassliche überhaupt nachzubilden versucht, sondern weil sie darüber hinaus eine vorgefertigte, für ganz andere Situationen entwickelte Formensprache in der Annahme verwendet, sie passe auch für das Ungeheuerliche.
Zudem ist eine beschreibende Darstellung überflüssig, da inzwischen vorausgesetzt werden kann, dass die grauenhaften Vorgänge allgemein bekannt sind.
Direkte Darstellung vertraut auf die Wirkung des Schocks.
Die indirekte Weise, das Publikum zur Vorstellungsarbeit zu bewegen, setzt auf die Reflexion.
Heute genügt Sempruns Satz: "Es gab keine Vögel auf dem Ettersberg", um dem Leser das stillschweigend Vorausgesetzte ins Gedächtnis zu bringen. Im Freiburger "Marienbad", einem zu einem Ausstellungsraum umgebauten ehemaligen Hallenbad, ist die Arbeit eines kanadischen Künstlers zu sehen, dessen Konzept sehr einfach ist und frei von der Naivität der Direktheit: Struthof. 100 vüs de la liberte. Roger Dale malte in 100 Ölbildern Aussichten, die ein Häftling des elsässischen KZ Natzwiller-Struthof auf die Landschaft haben konnte, wenn er am Stacheldraht entlanglief.
Der Künstler besuchte das Lager und arbeitete dort 50 Tage.
Die Arbeiten, jeweils 100 x 80 cm, hängen an drei Wänden des Ausstellungsraums in der Reihenfolge, in welcher er die Aussichten anstelle eines vorgestellten Häftlings sah. Die ersten 9 Bilder zeigen im Vordergrund den Boden des Lagers, dann den Stacheldrahtzaun, dahinter die hügelige Waldlandschaft.
Ab Bild 10 hebt sich der Blick über den Zaun.
Die folgenden Bilder zeigen die Landschaft in gefährlich anmutender Abschüssigkeit und manchmal so, als wische der Blick schnell über Wiesen und Büsche. Abschüssigkeit und Geschwindigkeit deuten auf die bedrohliche Situation dessen hin, der an Flucht denkt.
Die Bilder 22 und 23 ziehen den Blick in das Dunkel der Büsche, wo ein Fliehender in die Landschaft eintauchen würde, um sich zu verstecken.Ab Bild 41 hebt sich der Blick in die Ferne: die blauen Höhenzüge der Vogesen und der Himmel, der sich immer mehr aufhellt.
Schliesslich - diese Bilder hängen an der Stirnseite des Raumes - schweift der Blick weit über die Berge.
Als habe sich die Sehnsucht zu sehr in die Ferne verstiegen, wird der Blick in den Bildern 67 und 68 plötzlich in die Nähe zurückgerissen, gewaltsam offenbar, als habe man dem Betrachter den Kopf von hinten niedergedrückt und als verschleiere sich sein Auge vor Schmerz, so dass er nur mehr einen hellen Vordergrund und einen dunklen Hintergrund zu unterscheiden vermag.
Die letzten Bilder zeigen wieder den Stacheldraht.Durch die Übernahme des Blicks identifiziert sich Dale mit den Opfern, jedoch als Künstler, als Augenmensch.
Die Bilderfolge suggeriert eine körperliche und seelische Bewegung.
Beides kennzeichnet die Sehnsucht nach Freiheit: Diesen Abhang müsste ich hinunterlaufen, schnell, von Todesangst getrieben, die Verfolger hinter mir und das Gebell der Hunde, in dieses Dunkel würde ich mich werfen, um dem Scheinwerferlicht zu entkommen, und nach Tagen würde ich vielleicht den hellen Horizont erreichen.
Zuletzt rückt der Stacheldraht wieder in die Bildmitte und holt auf den Boden des Lagers zurück. Roger Dales Malweise erinnert an gewisse Landschaftsbilder von Edward Hopper, etwa Road and Trees 1962.
Die Bilder sind ohne Prätention gemalt, sind als einzelne schön und doch ganz durch das Konzept begründet, welches die Realität des Lagers als Leerstelle belässt, die der Betrachter mit seinen Vorstellungen füllt.
Gezeigt wird vom Grauen der Lagerwirklichkeit nichts, auch kein beredter Rest; gezeigt wird nur die unschuldige Landschaft, die Freiheit verheisst.Natur als Entgegensetzung zur gesellschaftlichen Realität ist heute, je mehr beide Bereiche auf problematische Weise ineinander verflochten sind, eine blosse Hoffnung.
Dennoch gehört es zu den gewohnten Vorstellungen gerade der Deutschen, sich der Schönheit und Unschuld der (guten) Natur hinzugeben, statt dem Gegenteil des hässlichen und schlechten Menschenwerks.
Auch die Ewigkeit der Natur erscheint tröstlich, „… et pourtant la nature etait si belle …“ - und dennoch war die Natur so schön.
Diese Worte eines Gefangenen stehen im Katalog den Abbildungen als Motto voran. Seine Motivation erklärt der Roger Dale so: „Ich habe diese Bilder gemalt, weil ich die Freiheit dazu hatte. Freiheit ist ein zerbrechliches Ding und leicht zu verlieren. Die Gedanken- und Handlungsfreiheit, die wir heute haben, wurde mit unermesslichen menschlichen Opfern gewonnen. Sie setzen uns für immer in die Schuld jener, die geopfert wurden.“
Die Ausstellung im Freiburger Marienbad, Dreisamstr. 21, geht bis zum 17. September 1995.
Der Katalog, der alle 100 Bilder in Farbe zeigt, kostet 30,- DM.
Die Öffnungszeiten: Di-Fr 9.30-17.00, Sa + So 10.30-17 Uhr.