Die soziale Dimension in der Kunst von Charlotte Posenenske
1) Charlotte Posenenskes (1930–1985) Partizipationskonzept, das vorsieht, andere – den Kurator, den Sammler, das Publikum – an der Produktion des Kunstwerks zu beteiligen, ist der am weitesten gehende Ausdruck des Versuchs, Kunst zugänglich zu machen. (Die Künstlerin überantwortete die sogenannte Werkvollendung – die finale Kombination einer Installation aus den unterschiedlichen Elemente der Vierkantrohre – anderen und gab damit eine wichtige Kompetenz ihrer Kunst-produktion ab.) Aus den ehemaligen Betrachtern werden Mitarbeiter, die nicht nur rezeptiv (kognitiv und psychisch), sondern auch physisch an der Kunstproduktion beteiligt sind.
2) El Lissitzky, ein Hauptvertreter des russischen Konstruktivismus, forderte, die avancierte Kunst vermittels der Geometrie verständlich zu machen. „Eindeutig, d.h. für alle sofort erkennbar, ist die geometrische Form.“ Alle Objekte der Künstlerin sind stereometrisch konstruiert, nachdem sie Ende der 50er Jahre die subjektivistische Malerei des informell aufgegeben hatte. Wie El Lissitzky wollte sie ihre Kunst vermittels Geometrie, Elementarisierung und Standardisierung an die Objektivität von Technik und Architektur anschließbar machen. El Lissitzky postulierte: „Kunst und Technik (werden) eine neue Einheit.“ Die Künstlerin stellte sich damit bewusst in die Tradition des russischen Konstruktivismus der 20er Jahre und der niederländischen de Stijl-Bewegung (Mondrian und van Doesburg), deren Ziel es war, die Kunst in den Alltag zu tragen.
3) Nicht nur Partizipation und Geometrie sind Aspekte der Zugänglichkeit, sondern auch die 32 cm breite Lücke, die Charlotte Posenenske in der Installation der Vierkantrohre ließ, die sie 1967 in der Amsterdamer Avantgarde Galerie art & project ausstellte: man konnte das Kunstwerk durchqueren – damals sehr ungewöhnlich – verglichen mit der traditionellen Art, ein Kunstwerk von außen zu betrachten.
4) Die wenig später konstruierten Drehflügelobjekte sind übermannshohe Würfel oder Prismen, die man betritt, indem man die türgroßen Flügel bewegt. Es handelt sich um Transiträume. Bei der ersten Ausstellung dieser Objekte 1967 in der Frankfurter Galerie Loehr trat die schlanke, in einen weißen Anzug gekleidete Galeristin zur Eröffnung aus dem zuvor geschlossenen Objekt und verlas einen Text. Später küssten sich Liebespaare in dem Kunstobjekt oder die Kinder spielten darin Verstecken.
5) Bei dem letzten, erst posthum in Zürich, Berlin, Otterlo und Barcelona realisierten Objekt handelt es sich um zwei hohe bewegliche Wände, die sich vor einer Raumecke zu einem Kubus schließen lassen. Derart ist das Kunstwerk in die Architektur integriert. In dem quadratischen, kleinen Kabinett kann man an einem Tischchen sitzen, Tee trinken oder ein Buch lesen. Mithin war die Künstlerin – wie einst El Lissitzky – in der Architektur angekommen, in der wir leben und arbeiten. „Architektur – das ist Kunst im höchsten Sinn.“, so das Vorbild der Künstlerin. Der Kunstrezipient steht nicht mehr vor dem Kunstwerk, sondern befindet sich mitten in dem Kunstwerk.
6) Es ist nur konsequent, dass die Künstlerin soweit ging, ihre Kunst benutzbar zu machen, d.h. die traditionelle Grenze zwischen Kunst und Alltag zu überschreiten. Auch hierin folgte sie einem Postulat von El Lissitzky. Eine Folge war, dass das Publikum ihre Vierkantrohre aus Stahlblech mit einer Entlüftungsanlage verwechselte. Den letzten Schritt, die Kunst in Design zu überführen, ging sie allerdings nicht: die Benutzbarkeit des Kunstwerks beschränkt sich darauf, dass man sich darin aufhalten kann. Charlotte Posenenske blieb also im Gegensatz zur Forderung der Konstruktivisten auf dem Boden der Kunst. Die Benutzbarkeit realisierte sie nicht effektiv (Design), sondern beließ es bei der Andeutung. Sie war an der Grenze der Kunst angelangt. Dann gab sie die Kunst zum Befremden der Kunstwelt auf. Sie hatte ihren Gang von der Malerei bis zur Architektur vollendet. Betrachtet man ihr schmales Oeuvre, das in kürzester Zeit entstand, dann war sie nun fertig.
7) Immer wieder ist Charlotte Posenenske als politische Künstlerin missverstanden worden. Die soziale Dimension ihrer Kunst beschränkt sich allein darauf, diese zugänglicher zu machen. Politisch ist ihre Kunst nur insofern, als die Künstlerin sich um eine Demokratisierung ihrer Kunst bemühte, indem sie eine Partizipation anbot und die Verkaufspreise so gering wie möglich hielt. Die geringen Verkaufspreise sind ebenfalls ein Aspekt der Zugänglichkeit.