Über den TORSO und das Fragment

Bei dem weltberühmten Torso vom Belvedere im Vatikan handelt es sich um den Rumpf eines muskulösen Mannes. Die Skulptur aus der Epoche des späten Hellenismus (etwa 200 a. Chr. n) erregte schon in der Renaissance größte Bewunderung. Als Papst Julius II Michelangelo damit beauftragte, den fehlenden Kopf und die Glied-maßen zu ergänzen, lehnte der Künstler das mit der Begründung ab, der Torso sei vollkommen. Was heißt das? Das heißt der Torso sei ein fertiges, nicht zu verbesserndes Ganzes. Dabei bleibt unentschieden, ob der Torso ein verstümmelter oder ein unfertiger Leib ist. Auguste Rodin, der beanspruchte, der Nachfolger Michelangelos im 19. Jahrhundert zu sein, erklärte den Torso allgemein zu einer eigenen Kunstform. Er schuf mehrere Torsi. Seitdem gilt das Fehlen der Körperglieder nicht als Mangel, sondern als eine eigene Qualität. Ein Bewusstsein für die Qualität des Fragmentarischen gibt es schon seit Winkelmanns bahnbrechenden Forschungen zur Skulptur der Antike. Die Romantik thematisierte im Fragment die Vergänglichkeit. Man interessierte sich z.B. für Ruinen. Es gibt hier eine Verwandtschaft mit den memento mori- Motiven (Hinweise auf die Vergänglichkeit) in der niederländischen Stillebenmalerei: niedergebrannte Kerzen, erloschene Pfeifen, Uhren, angefaultes Obst, Insekten u.ä.

Der Torso ist eine Kunstform, die den Betrachter deutlich dazu auffordert, das Fehlende in der Vorstellung zu ergänzen. Dazu bedarf es profunder Kenntnisse der Anatomie. Die Kenner wurden sich bald einig, dass der Torso vom Belvedere den Rumpf eines sitzenden Mannes darstellt. (Er wurde das Vorbild für Rodins berühmten Denker) Die Vorstellung der fehlenden Gliedmaßen darf in keiner Weise assoziativ sein, sondern muss sich aus dem Studium der Muskulatur ergeben. Die Vorstellung ist also nicht frei, sondern gebunden. Aber natürlich gibt es einen Spielraum: die genaue Haltung etwa des Armes ist zwar aus der Muskulatur des Rumpfs ableitbar, nicht aber auch die Haltung der Hand und der Finger.
Seit Umberto Eco in den 60er Jahren das Buch „das offene Kunst-werk“ veröffentlicht hat, gilt, dass erst der Betrachter, indem er ein Kunstwerk betrachtet, dessen Vollendung bewirkt. Ecos Ansatz wurde zuerst von Literaturwissenschaftlern übernommen, z.B. von Wolfgang Iser, der ein Buch mit dem Titel: „Lector in Fabula“ geschrieben hat, womit gesagt ist, dass der Leser geradezu ein Bestandteil des narrativen Textes ist. Zuvor hatte schon der legendäre Marcel Duchamp festgestellt, dass sich das Kunstwerk im Auge des Betrachters vollendet. Mit den Worten von Gustaf Almenberg in seinem Buch über Partizipative Kunst: „Duchamp demonstrated the fact that spectators do bring something to anything they look at, also to any work of art“ (37) Dass die Betrachtung dem Gegenstand stets etwas zusetzt, hat schon Kant festgestellt. Ihm zufolge können wir das „Ding an sich“ gar nicht erkennen, weil wir den Gegenstand während der Betrachtung immer unter unserer subjektiven Perspektive sehen. Danach bleibt uns die objektive Tatsächlichkeit verschlossen, zugänglich ist uns die Wirklichkeit, also, das, was an dem Gegenstand auf uns wirkt.
Duchamps These hat eine starke Implikation: ohne den Betrachter ist das Kunstwerk kein Kunstwerk, sondern nur ein Objekt. Oder: solange das Kunstwerk nicht betrachtet wird, bleibt es bloß ein Objekt. Mit anderen Worten: die Betrachtung gehört wesentlich zum Kunstwerk dazu. Kunstwerk und Betrachter – Leser und Text - gehören zusammen, bilden sozusagen ein System. Das heißt: Ein mit der Schauseite an der Wand lehnendes Gemälde ist keine Kunst. Ein Manuskript in der Schublade ist keine Literatur. Die Präsentierbarkeit ist eine Dimension des Kunstwerks selber. Daher ist Öffentlichkeit bzw. Veröffentlichung nicht ein zusätzlicher Aspekt der Kunst, sondern gehört ihr an wie der Schatten zu jedem Objekt. Danach sind Galerien nicht nur Verkaufsagenturen, sondern Institutionen, die eine wesentliche Dimension des Kunstwerks verwirklichen. Dasselbe gilt für Museen.
Die auf Ecos Buch gründende so genannte Rezeptionstheorie hat die alten Produktionstheorien abgelöst, bei denen es noch darum ging, die Bedeutung herauszufinden, die der Künstler im Kunstwerk verschlüsselt hat. Man fasste das Kunstwerk als eine verschlüsselte Botschaft auf, die es zu fördern galt – ähnlich einem Stück Erz aus dem Gestein. Die Rezeptionstheorie dagegen sieht das Kunstwerk als ein Objekt, dem der Betrachter die Bedeutung beilegt – was immer die Bedeutung sein mag, die der Künstler selber seinem Kunstwerk gegeben hat. Charlotte Posenenske, von der gleich die Rede sein wird, hat mir einmal erzählt, Willi Baumeister, bei dem sie studiert hat – einer der bedeutendsten Künstler der Nachkriegszeit – habe ihr gesagt, er wisse über die Bedeutung seiner Bilder auch nicht mehr als ein Interpret, der sich Mühe gebe. Bei der Bedeutungszuweisung handelt es sich nicht um bloße Meinungen, sondern um Ansichten,
die am Kunstwerk belegt werden müssen. Wenn sich ein Kunstwerk erst durch die Betrachtung vollendet – die so genannte Werkvollendung – dann hat es prinzipiell den Charakter eines Torsos. Anders gesagt: jedes Kunstwerk ist fragmentarisch. So wie der Betrachter sich die fehlenden Gliedmaßen des Torsos vorzustellen hat, muss er jedes anspruchsvolle Kunstwerk durch seine Schlussfolgerungen aus dem, was er sieht, vollenden. Der Qualitätsunterschied beispielsweise zwischen dem David des Michelangelo in Florenz und Berninis David in Rom, der zu den größten Bildhauern seiner Zeit gehörte, besteht darin, dass Michelangelo seinen David in dem Augenblick zeigt, bevor er den Stein wirft. Den Wurf stellt man sich vor. Bernini dagegen zeigt seinen David mit weit ausgerecktem Arm, d.h. während des Werfens.
Könnte man nicht sagen, dass nach dieser Argumentation nicht nur das Kunstwerk, sondern auch jeder Alltagsgegenstand ein Fragment ist, das durch Interpretation ergänzt werden muss? Nein! Denn ein Alltagsgegenstand wird nicht interpretiert, sondern seine praktische Funktionsweise muss verstanden werden. Seine praktische Bedeutung ist eindeutig. Ein Hammer ist ein Hammer. Ein gutes Kunstwerk ist immer mehrdeutig, d.h. es bietet dem Interpreten einen Spielraum an.
Es sei hier ausdrücklich bemerkt, dass das Betrachten nicht etwa, wie viele glauben, ein passiver Vorgang ist, so als dringe das Bild durch das Loch der Pupille. Nein, jede Betrachtung ist aktiv, ist produktiv.
Wie Sie wissen, kann man auf einem impressionistischen Gemälde, das man aus der üblichen Distanz betrachtet, nur Farbflecken sehen. Diese Farbflecken schließen sich erst im Auge des Betrachters zu einem Bild zusammen, wenn er zurücktritt. Das heißt, der Betrachter muss etwas tun. Er ist aktiv.
Das verbreitete Klischee von der Passivität rührt daher, dass der Sehvorgang ohne die dazugehörige Tätigkeit des Gehirns verstanden wird. Man hat wie in medizinischen Lehrbüchern das Auge vom Hirn quasi chirurgisch abgetrennt und beide Organe zwei verschiedenen medizinischen Bereichen zugeteilt. Jochem Hendricks, ein Frankfurter Konzeptkünstler, verblüffte das Publikum mit Zeichnungen, die er mit den Augen gemalt hat. Er las z.B. die FAZ und digitalisierte seine Augenbewegungen, sodass Tinten-Zeichnungen entstanden, die seine Augenbewegungen abbilden. Es wurde so deutlich, dass der Sehvorgang nicht passiv, sondern aktiv ist. Seine Augen produzierten über die technische Vermittlung Zeichnungen.
Wenn Michelangelo dem Torso vom Belvedere Vollkommenheit attestiert, behauptet er, dass diese Skulptur, obwohl gerade durch das Fehlen von Teilen charakterisiert, dennoch ein Ganzes ist.
Der offenbare Widerspruch löst sich auf, wenn man die anatomische Feststellung, dass etwas fehlt, ästhetisch als das Dasein einer neuen Qualität bewertet. Bei bestimmten niederländischen Stillleben des 17. Jahrhunderts, den so genannte ontbijtjes etwa von Pieter Claesz, findet man umgestürzte Gläser, angebissenes Brot und Speisereste, die die Schlussfolgerung nahelegen, dass hier eine Person anwesend gewesen sein muss. Man kann sagen, dass die Abwesenheit dieser Person ins Auge springt oder paradox formuliert, dass die Absenz dieser Person sehr präsent ist. Analog kann man sagen, die Absenz der Gliedmaßen des Torso seien sehr präsent. D.h. man ist aufgefordert, sich das Fehlende zu vergegenwärtigen.

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Nun gibt es Kunstwerke, die nicht nur durch eine Vorstellung und Schlussfolgerungen vollendet werden, d.h. durch Vorstellungskraft, Denken und Fühlen, sondern auch ganz praktisch, nämlich indem der Betrachter in das Kunstwerk verändernd eingreift. Man spricht dann von Partizipativer Kunst. Im Unterschied zur Bildbetrachtung, bei der das Gemälde objektiv identisch bleibt, wenngleich subjektiv je nach Interpretation auch unterschiedlich, wird das Kunstwerk hier durch die Mitwirkenden praktisch verändert.
Als partizipative Kunst gelten z.B. die so genannten Vierkantrohre der deutschen Konzeptkünstlerin Charlotte Posenenske. Bei den Vierkantrohren der Serie D handelt es sich um einen Baukasten von 6 unterschiedlichen Elementen, großen stereometrischen Hohlkörpern aus dünnem Stahlblech (und im Falle der Serie DW um starke Well-pappe), die zu den verschiedenartigsten Installationen verschraubt werden können. Das Besondere dieses 1967 vorgestellten Konzepts besteht darin, dass die Künstlerin die Werkvollendung – und damit einen entscheidenden Teil ihrer künstlerischen Kompetenz – an andere abgibt. Es sind die Kuratoren der Museen oder Galerien, die Käufer oder sogar das Publikum, die dem Kunstwerk letztlich seine Form geben. Diese Partizipanten übernehmen damit auch die Verantwortung für die Werkvollendung.
Die Partizipanten können zwar die Elemente nach eigenem Ermessen zusammensetzen und - liegend, stehend oder hängend im Innenraum oder im Außenraum - postieren, aber nicht völlig frei, insoweit sie nicht beliebige Teile, sondern vorgegebene Elemente eines Bau-kastens zusammenmontieren, die bestimmte Formationen zulassen und andere ausschließen. Die Partizipanten agieren mithin in einem Spielraum. Charlotte Posenenske überlässt es den Teilnehmern, die Elemente im Rahmen der vorgegebenen Möglichkeiten nach eigenem Gutdünken zusammenzubauen. Insofern kann man ihr Konzept als demokratisch bezeichnen. Dieser demokratische Ansatz wendet sich gegen die traditionelle Auffassung vom Künstler als dem genialen Schöpfer, der in gottähnlicher Autorität einsam große Werke schafft. (Michelangelo etwa erhielt den Beinamen divinus, der Göttliche.)

Frans Ehrhard Walther, der neben Posenenske in Deutschland der erste war, der einen partizipativen Ansatz umsetzte, lässt die Teilnehmer hingegen nach einer Choreographie, d.h. einem festen Plan arbeiten. Die Teilnehmer sind insofern nur Ausführende, die nach präziser Anweisung des Künstlers handeln.
Man kann den Baukasten der Vierkantrohre als Metapher für die Freiheit lesen, die wir in einer Gesellschaft haben. So haben die Teilnehmer in Posenenskes Konzept größere Freiheiten, d.h. mehr Raum für eigne Entscheidungen als bei Walther. Es gibt niemals und nirgendwo eine absolute Freiheit, in der man tun könnte, was immer man wollte, sondern es gibt nur eine relative Freiheit, die von Bedingungen abhängt, die der einzelne nicht beeinflussen kann. (Nur eine Revolution, eine Umwälzung, erfasst auch die Bedingungen.) Diese Bedingungen wären metaphorisch durch die Vierkantrohre repräsentiert. Man kann nicht irgendetwas zusammenbauen, sondern nur die vorgegeben Elemente. Außerordentlich ist das Konzept der Künstlerin nicht nur, insofern sie die traditionelle Position des Künstlers als Schöpfer von Originalen zugunsten einer demokratischen Mitarbeit anderer aufgibt, sondern auch deshalb, weil die Werkvollendung nur kooperativ vorgenommen werden kann. In der Baseler Ausstellung im Museum Tinguily wurden kürzlich unter dem Titel „Spielobjekte – Die Kunst des Möglichen“ viele Kunstwerke vorgestellt, die ein spielerisches Mitmachen einzelner Personen aus dem Publikum vorsehen. Aber nur der Zusammenbau von Charlotte Posenenskes Vierkantrohren erfordert die Zusammenarbeit mehrerer Personen. Durch die Größe der Objekte ist die Kooperation zwingend notwendig. Diese Kooperation ist mithin konzeptuell angelegt. Die Künstlerin wollte ihre Arbeiten nicht nur außerhalb der Galerie an öffentlichen Orten zeigen, sondern dort auch mit vielen Teilnehmern zusammen aufbauen. Sie war davon überzeugt, dass das kreative Potential der Kooperation die Kapazität des einzelnen qualitativ übersteigt.
Ein wichtiger Aspekt bei der Konstitution der Bedeutung eines Kunstwerks ist der Kontext. d.h. die Umgebung, in der das Kunstwerk betrachtet wird. Es macht einen Unterschied, ob ich einen Monet neben einem Manet betrachte, oder einem Sisley oder allein auf der weißen Wand. Es macht einen Unterschied, ob eine Installation von Charlotte Posenenske in der Galerie oder irgendwo draußen in der Stadt zu sehen ist. Die Umgebung des Kunstwerks wirkt auf die Betrachtung ein. Charlotte Posenenske baute ihre Vierkantrohre an Orten auf, die sie „gesellschaftliche Orte“ nannte – etwa im Straßen-verkehr oder auf dem Flugplatz. „Gesellschaftlich“ erschienen ihre diese Orte wohl darum, weil es sich um alltägliche, öffentlich zugängliche Orte handelt, an denen viele Menschen verkehren. Als Soziologe fasse ich derartige Orte als Knotenpunkte in einem gigantischen Netz auf, über das Menschen (Straßenverkehr, Flugplatz), aber auch Güter und Geld verteilt werden. Darum habe ich nach dem Tode der Künstlerin ihre Vierkantrohre in der Frankfurter Großmarkthalle (Güter), dem Frankfurter und Stuttgarter Hauptbahnhof (Menschen, Güter) und in der Deutschen Bank (Geld) postiert und nicht auf der grünen Wiese. Wie Posenenskes komplexer Arbeitsbegriff zeigt, der – wie ich gestern ausgeführt habe – 1) die künstlerische Entwurfsarbeit, 2) die abhängige Lohnarbeit bei der fabrikmäßigen Herstellung der Elemente und 3) den freien kooperativen Auf - und Umbau umfasst, soll ihre Arbeit nicht auf Natur, sondern auf Gesellschaft bezogen sein.
Almenberg, der herausstellt, dass auch die Betrachtung ein kreativer Akt ist, der bisher vernachlässigt wird, sagt über Partizipative Kunst: „The result, however, is definitely socondary to the experience of the process of creating.“ (18) Hier bin ich anderer Ansicht als Almenberg, mit dem ich in freundschaftlichem Briefwechsel stehe.
Im Unterschied zur Partizipativen Kunst von heute, die den performativen (Aufbau-)Prozess und seine kommunikativen Dimensionen betont, habe ich bei den Performances, die ich selber mit den Vier-kantrohren in diversen Galerien und Institutionen gemacht habe, auch das Produkt hervorgehoben, d.h. wenn die Partizipanten eine Figuration als gelungen betrachteten, habe ich den Umbauprozess unterbrechen und erst nach einer kurzen Pause weiterbauen lassen. Die Zwischenresultate galten als vorläufiges Ganzes, das sich im Verlauf des Weiterbauens verändert, vergrößert oder verkleinert. Die Performance bestand also nicht allein im fortlaufenden Arbeitsprozess, sondern auch in der Demonstration der vorläufigen Resultate dieses Arbeitsprozesses. Als Industriesoziologe weiß ich, wie wichtig es für die Arbeitenden ist, das Resultat ihrer Arbeit zu erkennen. „Das haben wir gemacht!“ ist eine Bestätigung von höchster psychologischer Bedeutung. Von Entfremdung spricht man u.a. dann, wenn die Arbeitenden - wie in Großbetrieben - am Band nur repetitive Teilarbeit verrichten und das Endprodukt außerhalb ihres Horizonts liegt. Einem kontinuierlichen Arbeitsprozess haftet immer die Unaufhörlichkeit der Arbeit als Bedrohung an. Daher hat man in der Autoindustrie inzwischen Produktionsinseln eingeführt, wo die Arbeiter das Produkt gemeinsam montieren. Wenngleich es bei dem Auf- und Umbau der Installationen immer wieder Zwischenprodukte gibt, die als vorübergehende Kunstwerke gelten, ist der Arbeitsprozess tendenziell endlos – sowohl zeitlich als räumlich. Denn die Installationen sind fortsetzbar. Sie können zu einem anderen Zeitpunkt weitergebaut werden oder in andere Räume fortwuchern. Man kann so weit gehen, alle bisher realisierten Installationen als einen großen Zusammenhang zu betrachten. Die Werkvollendung ist daher nie endgültig.
Die Betonung des Prozessualen und die Nichtbeachtung des Produkts enthält aus meiner Sicht die Gefahr, dass Kunst instrumentalisiert wird, um eine soziale Kommunikation und Lernprozesse in Gang zu setzen. Charlotte Posenenske hat 1968 die Kunst aufgegeben, weil sie es ablehnte, ihre Kunst in den Dienst der Politik zu stellen, also politische Kunst zu machen – wie es viele Künstlerkollegen damals in der Hoffnung taten, auf die verknöcherten gesellschaftlichen Verhältnisse verändernd einwirken zu können. Sie wurde stattdessen Soziologin. Kunst sollte m.E. versuchen, den hohen Anspruch der Eigenständigkeit zu erfüllen, die ihr unter dem Klischee „Freiheit der Kunst“ gesellschaftlich ja zugestanden wird. Mag die Autonomie der Kunst letztlich auch nicht erreichbar sein, da sie – wie übrigens auch die Wissenschaften – gegen kunstexterne Einflüsse niemals ganz immun ist, so gilt es doch, die Verwendung der Kunst für Interessen, die außerhalb der Kunst liegen, tunlichst zu vermeiden. Das ähnelt der Arbeit des Sysiphos, der den Stein hartnäckig immer wieder nach oben rollt, wohl wissend, dass er wieder herunterstürzen wird. Aus meiner Sicht und der von Charlotte Posenenske, mit der ich 17 Jahre zusammen gelebt und gearbeitet habe, sodass ich ziemlich genau weiß, wie sie dachte, sollte Kunst weder politisch noch didaktisch sein. Bei Kunst geht es um Freiheit. Sie ist nicht die Dienstmagd von Irgendwem und irgendwas. Deshalb rangiert aus meiner Sicht die soziale Kommunikation, die anlässlich eines Kunstwerks geführt wird, nicht über der Kunst. Ein Kunstwerk entsteht nicht als social grease. Das Gespräch über ein Kunstwerk erweitert bloß die Betrachtung, von der ich gesagt habe, dass sie zum Kunstwerk dazugehört. Kunstwerk und Diskurs bilden ein System. Allerdings wäre es falsch, die Kunst nur als einen Anlass für eine auf Gesellschaft zielende Kommunikation zu sehen, d.h. sie in Dienst zu nehmen. Aus meiner Sicht geht es darum, Kunst zunächst als Kunst, d.h. nach ästhetischen Kriterien zu betrachten und zu diskutieren und zu erkennen, worin die Freiheit der großen Kunst besteht. Aus dieser Diskussion kann sich dann eine Diskussion über die soziale Relevanz ergeben. Wenn die Kunst dann hin und wieder als social grease funktioniert, dann ist es gut. Ihre Absicht darf das nach meiner Auffassung aber nicht sein.
Von Goethe stammt der Satz:“ Man merkt die Absicht und ist verstimmt.“ Warum? Weil der Künstler dann als Besserwisser, als Belehrender erscheint, der zu Einsichten auffordert. Damit fühlt sich der Betrachter unterschätzt. Denn der denkende Betrachter zieht es vor, Schlussfolgerungen zu ziehen.
Ich bewundere die bedeutenden Künstler, die unsere Wahrnehmung und damit unser Denken verändert haben: Giotto, der um 1300 den heiligen Goldhimmel aufriss und den Menschen die Welt zeigte (die ersten Schatten, keine Hängefüßchen mehr wie in den Bildlegenden von heiligen Situationen), Masaccio, der um 1400 mit der Entdeckung/Erfindung der Perspektive auf der Fläche Illusionsräume produzierte (die Kassettendecke zusammen mit Bruneleschi und Donatello in Santa Maria Novella, Florenz), Vermeer, der im 17. Jahrhundert die scharfen Konturen als perspektivisch geschichtete Farbe erkannte, Chardin, der im 18. Jahrhundert anstatt der Lokalfarben situationsabhängige Farben setzte, Delacroix, der im 19. Jahrhundert die Konturen in Farbe auflöste, Monet, der nicht mehr malte, was er wusste, sondern malte, was er sah, Cézanne, der begann, die perspektivischen Illusionsräume in die Malfläche einzuebnen, und mit mehreren Perspektiven arbeitete, was eine Bewegung impliziert, Kandinsky und Malewitsch, die im 20. Jahrhundert die sichtbare Welt nicht mehr abbildeten, sondern eigene „autonome“ Welten schaffen wollten (der Anfang der abstrakten Kunst ) , El Lissitzky, der von der Malfläche in die Architektur vorstieß, Moholy Nagy, der die Bewegung - die mit dem Aufkommen von Eisenbahn, Auto, Flugzeug dominante soziale Dimension der Moderne - zum Thema machte, wie auch Duchamp, der mit dem auf einem Hocker befestigten drehbaren Fahrrad das Readymade in die Kunst einführte und als erster die Ansicht vertrat, dass ein Kunstwerk erst im Auge des Betrachters vollendet wird, Manzoni, der mit seinen weißen „achromes“ die Farbigkeit und die autoritäre Komposition ad absurdum führte, Fontana, der die Leinwand zum Raum aufschlitzte, Stella, der den Bildinhalt drei-dimensional aus dem Rahmen wuchern lässt, Charlotte Posenenske, die mittels eines Knicks von der Fläche in den Realraum vorstieß und als erste in Deutschland das Kunstwerk begehbar machte. Für mich sind solche Künstler Protagonisten einer langen Freiheitsbewegung. Sie verletzen stets die Regeln unserer gewöhnlichen Wahrnehmung und damit unseres Denkens, das sie damit verändern. Bei großer Kunst geht es stets um Freiheit, die auf Seiten des Betrachters darin besteht, dass er an der Ergänzung des immer fragmentarischen Kunstwerks sowohl mental als auch praktisch mitarbeitet. Konkret auf Posenenskes Vierkantrohre bezogen: die Teilnehmer können die Elemente nach eigenem Gutdünken zusammenbauen und postieren. Dabei müssen sie Entscheidungen treffen, für die sie die Verantwortung tragen, sie müssen diskutieren und einen Konsens finden. Die Partizipanten sind nicht mehr bloße Betrachter, sondern arbeiten am Kunstwerk praktisch mit. Sie folgen nicht den Anweisungen der Künstlerin als bloß Ausführende, sondern greifen selber in den kreativen Prozess ein, sie besorgen die Werkvollendung, verändern das Kunstwerk, vergrößern es, verkleinern es. Das zu tun, darin besteht hier die Freiheit. Das Fragmentarische des Kunstwerks ist dazu die Voraussetzung, ist Voraussetzung der so genannten Werkvollendung, die bei Posenenske, deren Arbeiten variabel sind, stets nur vorübergehend ist.