Halali mit Blaufuchspelz

Vom Jagen auf freier Flur

Dr. Breitinger war vor Zeiten in so genannten gutbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen. Doch kein Gemälde, sondern der Kopf einer Wildsau hing über dem Eichentisch, an dem seine Eltern sich in Jägersprache unterhielten, in welcher der Schwanz eines Hirsches "Wedel", der einer Sau "Pürzel", der eines Hasen "Blume" und der eines Fuchses "Lunte" heißt. Sein Vater pflegte den Trophäen persönlich Ort und Datum des Abschusses mit schwarzer Tinte auf den Schädel zu schreiben, denn er was das, was man einen passionierten Jäger nennt.
Wenn er kam oder ging, meist im grünen Lodenmantel, umtobte ihn eine Horde aufgeregt kläffender, streng riechender Dackel. Im Damenzimmer, in welchem nicht geraucht werden durfte, hingen Gehörne, und sogar ein "Zwölfender". Auf Fotos, die Breitinger aufbewahrt, schaut seine Mutter als schöne Dame aus einem Blaufuchspelz, sodass man nichts ahnt. Oder sie lächelt mit Brille und Baskenmütze frech aus dem eigenen Cabriolet. Aber dann gibt es ein Bild, das sie auf einem toten Hirsch thronend zeigt – das Gesicht vom Geweih wie von einer Gloriole eingerahmt, die "Waffe" quer über dem Knie.
Breitinger hat ungefähr am 3. November Geburtstag, dem Geburtstag des Heiligen Hubertus, des Schutzpatrons der Jäger. Daher ist verständlich, dass Dr. Hubertus Breitinger die Jagd aus sehr subjektiver Perspektive betrachtet und seine Urteile hart sind.
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Dem Jäger Hubertus, der von 658–737 lebte, soll in den Wäldern der Ardennen ein kapitaler Hirsch erschienen sein, der im Geweih ein leuchtendes Kruzifix trug – wie auf der bekannten Kräuterschnapsflasche. Der Hirsch sprach: "Hubertus, warum jagst du mich?" Der wilde Jäger beantwortete diese Frage, indem er den höfischen Jagddienst verließ und ins Kloster ging, das, nachdem er heiliggesprochen worden war, zum Wallfahrtsort St. Hubertus wurde, wo die Jäger – und Metzger – den geläuterten Jagdwüstling in Umzügen feiern. Hubertus war zum Ideal des honorigen Jägers geworden – obwohl er doch die Jagd aufgegeben hat.
Der Hubertustag ist für die Jäger der Tag der Besinnung. Überall werden Hubertusreden gehalten, Hubertusmessen gelesen und Hubertusbälle gegeben. Die Hubertuslegende, heißt es etwa in einer Rede (1982), diene den Jägern als Mahnung, "das Wesen der waidgerechten Jagd zu erkennen und durch entsprechendes Handeln den Schöpfer im Geschöpfe zu ehren".
Die Waidgerechtigkeit ist die oberste Norm des waidmännischen Ehrenkodex, nach welcher die Tiere kunstgerecht, d.h. nach Regeln gejagt werden müssen. "Blattschuss" und "Fang", der Schuss bzw. Dolchstich ins Herz, gelten als Bestform des Tötens. Das regellose Jagen charakterisiert dagegen den verachteten Wilderer, der das Wild erlegt, wann, wie, wo und sooft er kann. Als Gottes Geschöpfe sind Mensch und Tier, Jäger und Wild, "Brüder". Doch gibt es eine im 1. Buch Mose begründete Hierarchie, nach welcher der Mensch über alles Getier herrschen soll. In den Hubertusreden fehlt der Bezug auf diese Bibelstelle ebenso wenig wie die Distanzierung von den grausamen und theatralischen Praktiken der feudalen Jagd.
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Wenn auch in Barock und Rokoko nach Regeln gejagt wurde, die wenigstens beim Töten und Zerteilen des erlegten Wildes jeden Handgriff vorschrieben und unvorschriftsmäßiges Töten vor der ganzen Jagdgesellschaft mit Schlägen der flachen Klinge bestraften, so gelten doch die im feudalen Frankreich üblich gewesene Parforcejagd und die so genannte "Eingestellte Jagd", wie sie an deutschen Fürstenhöfen praktiziert wurde, heute als nicht waidgerecht. In beiden Fällen handelte es sich um Veranstaltungen mit dem Charakter eines Gesellschaftsspiels. Es waren Feste.
Die französischen Louis pflegten in hierarchischer Formation und manchmal bei Fackellicht ein einziges ausgesuchtes kapitales Wild kilometerweit über die reifenden Felder ihrer Untertanen zu jagen. Das endlich erschöpfte Tier mit dem Hirschfänger zu töten, war Vorrecht des Königs, nachdem, um den Herrscher nicht zu gefährden, dem Tier die Sprunggelenke durchschnitten worden waren. Das Dahinjagen zu Pferde war die Freude des rittfesten Adels, geschossen wurde dabei nicht. Man spielte Kavallerie. Das kapitale Wild war Stellvertreter des Gegners.
Umgekehrt und eher infanteriemäßig ging es in Deutschland zu: Hier trieb man bis zu tausend Tiere auf einem mit Lappen eingehegten Terrain zusammen, wo die Herrschaften hinter Schutzschirmen stehend schossen, bis die Büchsen glühten. Konnte ein Tier ausbrechen, "ging es durch die Lappen".
Im Rokoko, in allem maßlos und theatralisch, liebte man es auch, das Wild durchs Wasser zu jagen, das seine Fluchten beschaulich verlangsamte. Man jagte auch maskiert, die Damen als Dianen und Nymphen verkleidet, mit Jagdwagen, die von Hirschen gezogen wurden, und von Musik begleitet. Ja, man ging beim so genannten figurierten Jagen so weit, sogar die Hunde zu kostümieren. Bei "Lustkampfjagden", die auf den Schlosshöfen der Residenzstädte veranstaltet wurden, hetzte man ganz wie in den Arenen des kaiserlichen Roms Tiere verschiedenster Art aufeinander, Bären, Stiere, Hunde und Eber, zwischen die man zur Anregung Knallkörper warf.
Während die Bauern verhungerten, verfütterten die Jäger das Korn an das Wild, das sich unmäßig vermehrte und die Felder kahl fraß. Es bildeten sich Banden von Wilddieben, die sich mit den fürstlichen Jagdaufsehern erbitterte Scharmützel lieferten. Die unerträglichen Jagdfronen führten zum Aufruhr und waren in Frankreich mit ein Grund für die Revolution. Denn kaum etwas charakterisierte feudale Willkür und Rechtlosigkeit des Volkes so anschaulich wie die rücksichtslosen Jagden.
Die Jagd war ein Politikum. Die Wildschütze wurden zu Volkshelden. Und die Strafen für Wilddieberei überstiegen jedes Maß. "Man schnitt Wilddieben die Ohren ab, haute ihnen eine Hand ab, stach ihnen die Augen aus, nagelte ihnen ein Hirschgeweih auf den Kopf und hängte sie damit an den Galgen", heißt es in einer Geschichte der Jagd. Die Strafen waren darum so schwer, weil das Jagdprivileg wie der Landbesitz ein Attribut der adligen Herrschaft war. Jagdfrevel galt als Aufruhr.
Bei der Großen Französischen Revolution schenkte das siegreiche Volk in seiner Großmut auch den in der Ménagerie Royale de Versailles gefangenen Tieren die Freiheit. Nur ein Löwe, ein Büffel und ein Nashorn mussten bleiben, weil sie zu gefährlich schienen. Als die Revolutionen von 1848 dem Adel das alleinige Jagdrecht genommen hatten, kauften sich bald die wohlhabenden Bürger in die von den Gemeinden pachtbaren Reviere ein. Das Bürgertum suchte das Jagen als natürliches Recht zu legitimieren, das im Römischen Reich wie in Germanien jeder freie Mann besessen hatte.
Mit der Romantik entwickelte sich, was wir heute "Naturverbundenheit" nennen. Der Natur durfte sich jeder verbunden fühlen. Das Recht zu Jagen stand im Prinzip nun jedermann frei, sofern er in Deutschland den mit einer Prüfung verbundenen Jagdschein erwarb und das Geld besaß, um eine Jagd zu erwerben oder zu pachten, sich einen Abschuss zu kaufen oder doch wenigstens als wichtige Persönlichkeit zur Jagd eingeladen wurde. Die Bürger, die zuvor an Stelle des dem Adel vorbehaltenen Degens nur einen Spazierstock tragen durften, genossen das Waffentragen in Wald und Flur als Erhöhung ihres gesellschaftlichen Status.
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War die Jagd früher unverkennbar im partikularen Interesse gewesen und jede Legitimation mehr oder weniger durchsichtig, so können die Jäger heute, da die Zerstörung der Natur jedermann vor Augen steht, mit einiger Plausibilität behaupten, ihre Tätigkeit diene dem Naturschutz. "Der Feudaljäger einer vergangenen Zeit ist nicht mehr existent. Jagd ist heute angewandter Naturschutz", heißt es in einer Hubertusrede. Gleichwohl sägen militante Naturschützer Hochsitze an und verbreiten im Internet Slogans wie diesen: "Tränkt den Waldboden mit Jägerblut, nicht mit Bambiblut!"
In den meisten Reden wird die Jagd als Hege beschworen. In volkswirtschaftlichem Jargon wird die " Hege" als "Bewirtschaftung des Wildes" bezeichnet, worunter die Bestandserhaltung in der gewünschten Altersstruktur zu verstehen ist. Hegende Maßnahmen sind der Hauptsache nach die Wildfütterung, die Einrichtung von Ruhezonen für das durch Autoverkehr, Landwirtschaft und Freizeitaktivitäten gestresste Wild und schließlich die Jagd selber. Sie wird "Hege mit der Büchse" genannt. Tatsächlich ist es das Verdienst der Jäger und ihrer starken Lobby, dass ganze Landstriche vor dem Zugriff der Landwirtschaft und Industrie bewahrt wurden. Es scheint so, als sei aus dem Herrenvergnügen gemeinnützige Arbeit geworden.
Bemerkenswert ist allerdings, dass sich die Jäger als Naturschützer vornehmlich für das jagdbare Wild interessieren. "Wer ist nicht daran interessiert, ein Hauptschwein zu erlegen. Aber man kann den Lohn der Hege nur ernten, wenn man zielstrebig die Hegeziele verfolgt hat", heißt es im "Hessenjäger", einem Verbandsorgan. In eingezäunten Ruhezonen, einer Art Zoo, füttern die Jäger, wie ihre Kritiker behaupten, das jagdbare Wild durch den Winter und züchten so trophäenstarke Tiere für den Abschuss heran. Das Wild verliert dann gerade die Eigenschaft, welche das "edle Waidwerk" überhaupt begründet: seine Freiheit. Es wird zum Vieh.
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Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset hat zur Zeit Francos und Adenauers "Meditationen über die Jagd" (1953) veröffentlicht, auf welche sich Hubertusredner noch heute gern beziehen. Obwohl die Jagd, anthropologisch gesehen, von Anfang an als Treibjagd eine gemeinschaftliche, d.h., soziale Veranstaltung war, weil die frühen Menschen ohne wirksame Distanzwaffen große Tiere nur gemeinsam erlegen konnten, stilisiert Ortega die Pirsch, die Jagd des einsam dahinschleichenden Jägers, zur typischen Jagd. Diese Argumentation feiert den einsamen Jäger als einen Mann, der noch über die natürlichen Triebe verfüge, welche bei anderen degeneriert seien. "Die Jagd ist die Nachahmung des Tieres. Wer sie als ein menschliches Faktum auffasst und nicht als ein zoologisches Faktum, das der Mensch wieder zum Vorschein bringen will, versteht nicht, was Jagd ist."
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Es gilt als selbstverständlich, dass das Jagen Männersache ist, auch wenn ein paar Frauen dabei mittun. Durch das staatlich verliehene Recht zu töten besitzt die Jagd einen hohen sozialen Status und ist daher bei allen beliebt, die sich zur Oberschicht zählen möchten. Das Recht, zu töten aktualisiert Gefühle einer obsoleten Souveränität, die in einer europäischen Demokratie niemand mehr hat und die stellvertretend am Wild exekutiert wird. Bekanntlich war die Jagd auch ein bevorzugter Sport des realsozialistischen "Arbeiteradels". Das Ethos der Waidgerechtigkeit, Ehrenkodex (bei Verfehlungen gibt es Ehrengerichte), Prüfungen, Fachsprache, Uniformierung in grünem Tuch, schließen die Jäger zunftartig zu einem Männerbund zusammen.
Bemerkenswert sind die vielen Umschreibungen des Tötens: Der Jäger "schöpft den Überschuss ab", "entnimmt die Tiere dem Besatz", "entnimmt ein Stück Wild aus der Wildbahn", greift "in die Altersklasse ein", "macht Strecke". "Warum jagen und töten wir?" fragt ein Hubertusredner. Und: "Darf der Mensch am Töten eines Mitgeschöpfes Freude empfinden?" Zur Antwort zieht er einen kühnen Vergleich. Für die mühevolle Sättigung aller Triebe habe der Schöpfer "die Lust als Prämie" gesetzt. Wohlgemerkt: Nicht das Töten, sondern das Jagen sei eine Lust, dessen notwendiger Bestandteil freilich das Töten ist.
Auf dem Hintergrund der Macht über Leben und Tod verliert der Vergleich der Jagdlust mit der Liebeslust jede Harmlosigkeit. Denn die Schusswaffe wird allgemein als Symbol des männlichen Genitals verstanden. In den Romanen des 18. Jahrhunderts stirbt die Frau im sexuellen Akt den "Liebestod". Dabei erhöht der Widerstand des Wildes die Lust des jagdlüsternen Mannes. Die Schwierigkeit der Jagd macht für den Liebhaber wie den Jäger den "Abschuss" um so kostbarer.
Das Töten wird auch heute noch ästhetisch erlebt: Inhaltlich gesehen, besteht der Genuss nach vielen Zeugnissen darin, das zu töten, was man liebt. Dass die Jäger die Tiere mehr lieben (Naturverbundenheit) als andere, behaupten sie immer wieder. Es wird dann von Tragik gesprochen, geradeso, als handle es sich um die von Gott befohlene Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham. Lustgefühle durch Schmerz zu steigern, ist notorische sexuelle Praktik. Ist das Mitleiden jedoch vorgeblich, handelt es sich um eine sentimental gewürzte Brutalität, die eher dem Machismo entspricht.
Der Form nach ästhetisch gilt der perfekte Schuss nach kunstgerechter Jagd mit hohem Schwierigkeitsgrad. Die Schönheit des künstlichen Todes wird oft der Hässlichkeit des natürlichen Todes gegenübergestellt. "Antipoden der Zivilisation" (aus einer Hubertusrede) zu sein, leugnen die Jäger keineswegs. Im Gegenteil beziehen sie gerade daraus, dass sie Triebe ausleben, die andere Menschen sublimieren – Kultur entwickelt sich Freud zufolge aus der Sublimation der Triebe –, ihr elitäres Bewusstsein einer gesteigerten Vitalität. Doch auch Frauen gefällt es, "Herr zu sein über Leben und Tod", bekennt eine Dame im "Hessenjäger". Und eine andere Jägerin eröffnet, nur als sie schwanger gewesen sei, habe sie nicht schießen mögen.

Dr. Hubertus Breitinger erinnert sich, wie stolz er als Junge gewesen war, als seine Mutter einmal auf dem Rummel in der Schießbude alle Blumen abgeräumt hatte. Noch mit achtzig hat sie den Bürgermeister des Dorfes, in dem sie nun wohnt, im freihändigen Wettschießen besiegt. Als er seine Mutter einmal fragte, was sie denn gefühlt habe, wenn ein Hirsch sich, von ihrer Kugel getroffen, im Todeskampf aufgebäumt und blutend ins Gebüsch geschleppt habe, antwortete sie nach kurzer Überlegung: "Dass es ein Blattschuss war, mein Junge."