Die beflügelte Jungfrau
Eine Ausstellung in Den Haag zeigt alte indianische Kunst aus Ecuador
Es mutet ein wenig skurril an, wenn Indios Barockskulpturen schnitzen. Spanische Mönche hatten die Eingeborenen des heutigen Ecuador im 17. und 18. Jahrhundert gelehrt, nach Stichen und Kopien der großen Meister der sevillanischen Schule (Juan de Mesa 1583–1627, Alonso Cano 1601–1667) Heiligenfiguren zu verfertigen. Die Ausstellung Passie en devotie (Passion und Unterwerfung) zeigt im Museum Het Palais, Den Haag, zum erstenmal in Europa Werke der Schule von Quito, aus der Hauptstadt Ecuadors. Die vielfarbigen Skulpturen aus einheimischem Zedernholz wurden im späten 18. Jahrhundet zu einem Exportartikel. Doch haben sich die indianischen Künstler im oktroyierten Formenkanon der Europäer etwas an indianische Eigenart bewahren können?
Die Kunst des Barock entfaltete ihre messianische Inbrunst im Dienste der Gegenreformation auch in den Kolonien. Die Franziskaner, Domenikaner und Jesuiten, die nach Pizarros blutigen Eroberungszügen ihre Klöster in den Trümmern der Inka-Stadt errichteten, ließen die neuen Ordenskirchen mit einer unvorstellbaren Pracht ausschmücken, um die Unterworfenen von der Macht des katholischen Glaubens zu überzeugen.
Neben den anonymen indianischen Bildhauern, die zur Verbreitung des Glaubens die europäische Skulpturentypen tausendfach kopierten, haben sich Bernardo Lagarda und Manuel Chili, genannt Caspicara, einen Namen gemacht. Dem ersteren wird die ausgestellte Virgo immaculata zugeschrieben, die einen Drachen zertritt. Abweichend von der üblichen Ikonografie ist die Figur geflügelt: ein Zugeständnis an den Indianerglauben, der geflügelte Totemtiere kannte?
Von Caspicara ist die berühmte Mater dolorosa, das zarte Gesicht in verhaltener Trauer. Sie gehört zu dem Typus von Figuren, die bewegliche Arme haben und zu den großen Prozessionen wie Puppen mit kostbaren Gewändern und Geschmeide bekleidet werden. Wirkliche Tuche, Glasaugen, Kristalltränen und echte Wimpern hatte zur Steigerung seines expressiven Realismus schon Juan de Mesa verwandt. Die Bekleidung führte dazu, dass die Künstler oft nur noch Köpfe schnitzten, von denen einige ausgestellt sind. Viele dieser äde-vestir-Figuren wurden in Teilen verschickt und am Ort zusammengesetzt. Nach dem Vorbild von Alonso Cano, der in Spanien die Vielfarbigkeit in die Holzbildhauerei eingeführt hatte, haben alle Figuren aus Quito eine starke, doch keineswegs naiv-bunte Farbigkeit. Die Gesichtsfarbe ist lebhaft, die gläsernen Augen sind blau.
Mit Wunden übersät, geschunden und blutüberströmt sind die Christusgestalten. Den Leidens- und Todeskult des spanischen Barock haben die indianischen Künstler in der Darstellung des Gekreuzigten nachvollzogen, obwohl die präkolumbianische Kunst um Quito (z. B. die Kulturen von Manabi, Esmeralda und Carchi) solche Qualen nicht kennt. Den Kruzifixen ist darum die schöne, weiße, nackte Gestalt des Auferstandenen gegenübergestellt: das Leben wenn auch nach dem Tode. Bei einigen der liegenden Jesuskinder spielt die Hautfarbe ins Bräunliche. Wenigstens bei einem der drei graziösen Engel, die ganz Rokoko nur mit einem wehenden goldenen Röckchen und strumpfartigen Stiefeln bekleidet dahertänzeln, ist die Augenform uneuropäisch.
Offenkundiger ist das Indianische in dem vollen Gesicht und der gedrungenen Gestalt einer Heiligen Clara. Während man auf Bildern hier und da Landschaft und Vegetation der Anden erkennt, ist an den Skulpturen indianische Eigenart schwer auszumachen. Die barocke Körperhaltung mancher Figuren und das hingebungsvolle Leiden sind spanischer Art und den Indios fremd gewesen. Abweichungen in Gesicht und Körperproportionen vom europäischen Standard sind selten, doch manchmal werden die ikonografischen Vorgaben abgeändert. Die Jungfrau hat Flügel, und der Erzengel trägt Krone und Szepter. Eigentümlich die dekorative Überfülle floraler Motive.
Von überzeugender Eigenständigkeit aber ist eine kraftvolle Figur von Johannes dem Täufer mit einem dicken Schäfchen. Der anonyme Künstler hat sich von den Normen des Rokoko befreit: eine Arbeit vom herben Charme unserer rheinischen Madonnen. Mit dem Freihandelsgesetz (1778) hatte sich die Kunst vom Patronat und den Vorgaben der Kirche lösen können.
Museum Het Paleis, Lange Voorhout 74, bis 11. Juni 2000