Zettels Traumkartei
Heimo Zobernig zeigt im Portikus ausgediente Katalogkästen, die frei sind für die Kunst
Duchamps Urinoir war nicht mehr benutzbar. In einer Galerie aufgestellt, fehlte dem Becken schlicht der Abfluss - es war Kunst geworden. Anders erging es der jüngsten Skulptur des Künstlers Heimo Zobernig. Dieser reist derzeit mit den ausrangierten Katalogkästen der österreichischen Nationalbibliothek durch Galerien und Museen. Als er die Kisten im Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Münster ausstellte, benutzten die studentischen Besucher den Apparat sogleich: Sie bestellten an Hand der Karteikarten Titel, die in Münster nicht zu haben waren, per Fernleihe in Wien - obwohl es sich doch eindeutig um eine Kunstausstellung handelte. So kann's gehn. Der praktische Sinn ist so respektlos wie die Kunst selber.
Der österreichische Künstler Heimo Zobernig, Teilnehmer der documenta 10 und Gastprofessor an der Städelschule, hat die Katalogkästen nun in vier Reihen im Frankfurter "Portikus" aufbauen lassen. Seit der Digitalisierung des Wiener Archivs im Jahr 1998 sind die Karteikarten funktionslos geworden und somit frei für die Kunst. Mit der Ausstellung in Frankfurt ist der Anspruch, dem "genius loci" Tribut zu zollen, geradezu übererfüllt. Zwischen Kunstobjekt und -ort gibt es vielfältige Bezüge: die Reste der Österreichischen Nationalbibliothek werden in dem Rest der Frankfurter Stadtbibliothek, den der Krieg übrig ließ, dargestellt.
Die wuchtigen Karteikästen im Portikus sind der sinnlich handgreifliche Kern einer Skulptur, die umfangreicher ist als das, was man sieht. Sie besteht aus allen Beziehungen, welche die Kartei als umfassendes Ordnungssystem menschlichen Wissens stiftet und erschließt, in gedanklicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht. Eine Skulptur von globalem Umfang.
Angesichts dieser ausgedienten Ordnungsmaschine tritt auch der mit dem technischen Fortschritt verbundene Verlust ins Bewusstsein. Verloren ist die Aura der Bibliotheken, verloren ist die Sinnlichkeit, die mit dem Durchblättern der müffelnden Karteikarten verbunden war. Eine Suche, bei der man unverhofft Trouvaillen machte, wissend, dass Generationen zuvor dieselben Karten gewendet haben. Auch Sigmund Freud? Oder die Denker der "Wiener Schule"? Wer weiß. Der Buchbestand ist nun nur noch per Computer zugänglich, tendenziell vom privaten PC.
Verloren geht mit dem privaten Zugriff die Öffentlichkeit des Suchens, die Gemeinsamkeit an einem bestimmten Ort: der Bibliothek. Klappern, Rascheln, Hüsteln, Schniefen: Menschen. Entsinnlichung, Privatisierung, Ortlosigkeit: Sie stellen einen Trend dar, der auch in anderen Bereichen der Gesellschaft zu bemerken ist. Doch den Verlust zu beklagen wäre hier eher sentimental, ist doch die alte Rationalisierungs-Maschine vom gleichen Geist wie die Digitalisierung. Verlust der Sinnlichkeit: Die Mönche des Mittelalters wären wohl froh gewesen, sich ganz unsinnlich, das heißt: ohne klamme Hände vom Heiligen Geist unmittelbar erleuchten zu lassen.
Zobernigs Installation ist lapidar. In zehn Jahren wird sie ihren heute noch irritierenden Praxisbezug verloren haben. Ein Fossil wird sie sein, das an die vergessenen Anstrengungen erinnert, das über die Welt verstreute Wissen zu sammeln und jedermann verfügbar zu machen.
Bis 7. November 1999, Schöne Aussicht 1, Frankfurt am Main.