„Im Falle von Goethe haben wir es noch nicht weit gebracht.“
Der Dichterfürst, wörtlich genommen: Joseph Kosuths Ausstellung „Gäste und Fremde“ in der Kunsthalle Schirn
„Keine Bilder!“ Enttäuscht kehren die drei jungen Leute wieder um. Nein, keine Bilder, keine Farben. Sogar die signalroten Hinweise auf den Feuerlöschern ließ Joseph Kosuth verschwinden. In dem grau gestrichenen, manieristisch langen Saal der Schirn gibt es nur Texte, die sich als weißer Fries um die Wand ziehen oder auf schwarzen, unregelmäßig über die Wand verteilten Feldern zu lesen sind.
Der amerikanische Konzeptkünstler hat Texte ausgewählt und zusammengestellt, die die Leser / Betrachter nun aufeinander beziehen sollen. Durch die perspektivische Verjüngung wird man in den „Textraum“ (so Kosuth im Katalog) hineingesogen. Die „Architektur ist der Meta-Text des Werks“, sie „liefert die Grenzen des ,Spiels'“ (Kosuth). Man liest die Texte wie gewohnt zunächst horizontal, indem man die Wände abschreitet.
Joseph Kosuth, im Jahre 1945 geboren, gehört zu den Pionieren der Concept-Art, die sich Ende der sechziger Jahre gegen die Produktion von Bildern wandte. Aus vielerlei Gründen gab es in der Kunst einen Trend zur Entmaterialisierung. Es sollte genügen, wenn sich die Werke in der Vorstellung bildeten.
Kosuth arbeitete von Anfang an mit Sprache. Zu einer Inkunabel der Concept-Art gehört sein Stuhl („One and Three Chairs“, 1965), der auf drei Wirklichkeits-Ebenen dargestellt wird: handfest körperlich, als Abbild und als Lexikon-Definition.
In der Schirn-Ausstellung „Gäste und Fremde: Goethes Italienische Reise“ stellt Kosuth zum Problem der Fremdheit Texte von acht Autoren zueinander. Der oberste weiße Textfries (Nicolas Boyle) ist eine historische Skizze der Goethe-Zeit: „Die Post von London nach Edinburgh brauchte über eine Woche. Moet & Chandon nahmen den Export des jüngst erfundenen Champagners auf … Eine Ananas kostete ebenso viel wie ein Reitpferd.“ Darunter auf schwarzen Feldern Ausschnitte aus Goethes Italienischer Reise, auch deshalb berühmt, weil der Dichter in einer Lebens- und Schaffenskrise erst durch die Auseinandersetzung mit dem Fremden zu sich selber gefunden hatte. Er kam so verändert nach Weimar zurück, dass man ihn nicht wieder erkennen mochte. Schiller meinte: „Er betastet mir zuviel.“ Die bezaubernd sinnlichen Goethe-Texte sind von einer Rede Sigmund Freuds über die Anwendung der Psychoanalyse auf große Männer durchschossen: „Aber ich gestehe, im Falle von Goethe haben wir es noch nicht weit gebracht.“
Darunter, die Wand in eine obere und untere Hälfte teilend, in größter Schrift Goethe. Der Fries beginnt: „Die Gewalt der Sprache ist nicht daß sie das Fremde abweist, sondern daß sie es verschlingt … Der Deutsche muß alle Sprachen lernen, damit ihm zu Haus kein Fremder imponire und daß er draußen überall zuhause sey.“ In gleichwertiger Schriftgröße folgt unter einem Trennstrich ein Text von Walter Benjamin: „Der Allegoriker greift bald da bald dort aus dem wüsten Fundus, den sein Wissen ihm zur Verfügung stellt, ein Stück heraus, hält es neben ein anderes und versucht, ob sie zueinander passen.“ Das mag recht gut auch für Kosuth wie für den Besucher gelten.
Die beiden Friese, welche die Wand teilen, nennt Kosuth einen „Horizont, von dem aus die anderen Texte ins Spiel kommen“. Darunter auf schwarzen Feldern - wie oben Goethe - Texte von Wittgenstein. „Wenn Weiß zu Schwarz wird, sagen manche Menschen ,Es ist im Wesentlichen noch immer dasselbe'. Und andere, wenn die Farbe um einen Grad dunkler wird, sagen ,Es hat sich ganz verändert'.“ Dazwischen in zurücktretender Schrift Texte des Begründers der phänomenologischen Soziologie, Alfred Schütz, der sich (wie auch Goethe in der Italienischen Reise) mit der Konstitution von Wirklichkeit befasst: „Jede Welt besitzt, während man ihr zugewandt ist, eine eigene Art von Wirklichkeit; nur verringert sich ihr Wirklichkeitsgehalt mit dem Nachlassen der Aufmerksamkeit.“
In silbriger, changierender Schrift die Anthropologin Mary Douglas: „Wenn es denn Lösungen zu einem schwerwiegenden Problem gibt, kommen sie eher vom Rande der professionellen Welt, ja sogar von Amateuren …“ Das ist tröstlich. Viele Überlegungen Goethes galten den Fachwissenschaftlern, die sich ja damit befassen, Fremdes methodisch in Bekanntes zu verwandeln, als dilettantisch.
Alle Texte fungieren als Einbettung der Italienischen Reise. Einige Autoren lebten in der Fremde als Gäste, Exilanten oder Flüchtlinge. Bald wird man die Texte auch vertikal / diagonal aufeinander beziehen oder von Wand zu Wand. Derart ist die Installation variabel zu lesen. Der Leser / Betrachter hat in der Textkombination große Spielräume.
Allen, die in Kosuth einen Fels im Meer der Bilder kennen lernen wollen, ist die Ausstellung unbedingt zu empfehlen. Dass der weltberühmte Künstler (fünfmal auf der documenta, viermal auf der Biennale von Venedig) höchste Ansprüche - auch an den Zeitaufwand der Besucher - stellt, wird man ihm nicht vorwerfen wollen.
Bis 12. September, Schirn Kunsthalle am Römerberg. Der geschmäcklerisch aufgemachte Katalog mit schlechten Fotos früherer Ausstellungen hat immerhin einen lesenswerten Text von Hans Dieter Bahr: „Der Gast.“