Schlangen

Schlangen

Zu städtischen Situationen zählt das Schlangestehen. Wenn viele Menschen zur gleichen Zeit das gleiche Ziel am selben Ort verfolgen, bildet sich eine Schlange. Migrationen werden nach aller Voraussicht im nächsten Jahrhundert die Großstädte anwachsen lassen, zugleich werden die städtischen Dienstleistungen wegen Geldmangels zurückgehen. Man wird also mehr Warteschlangen erleben. Sie widersprechen den Prinzipien der geltenden Zeitökonomie, doch handelt es sich oft um Verausgabung privater Zeit. Dem Stand der Organisationsmöglichkeiten sprechen sie Hohn, sowieso.
Ist die Warteschlange objektiv Ausdruck von Zeitvergeudung, so ist sie doch subjektiv ein Indiz sozialer Reife. Denn es ist schon wunderbar, daß Menschen, die sich rücksichtslos durchzusetzen gewohnt sind, freiwillig eine Reihenfolge bilden, in der auch physisch oder sozial Stärkere sich integrieren. Vergleicht man die urbane Warteschlange mit dem anarchischen Gedränge an einer Bushaltestelle in einem der sogenannten unterentwickelten Länder, wird bewußt, worin die soziale Reife besteht: die diskussionslose Anerkennung der Prämisse, daß alle Wartenden hier und jetzt den gleichen sozialen Status haben. Es handelt sich um eine stillschweigende Vereinbarung, welche die Wartenden treffen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Priorität schafft allein der Zeitpunkt der Ankunft. Daher wird das Freihalten eines Warteplatzes für andere nur ungern akzeptiert. Etabliert wird Gerechtigkeit.
Wer aus gutmütiger Willkür einen Außenseiter vorläßt, einen Arbeiter zum Beispiel, der sich nur sein Frühstück besorgt hat und darum beim Bezahlen das Vorrücken der Schlange kaum aufhalten würde, wird von hinten mit dem unabweisbar logischen Argument sanktioniert: "Für mich haben Sie wohl gleich mitentschieden!" Die relative Gleichheit der Ziele erleichtert das Einhalten der Ordnung. Unterschwellig entsteht eine Art Solidarität. Menschen, die tagtäglich um jede Kleinigkeit miteinander konkurrieren, handeln in der Einsicht, daß sie nicht unmittelbar direkt ans Ziel gelangen können, sondern nur mittelbar, eben indem sie eine rationale und gerechte Ordnung bilden und auf deren Einhaltung achten.
Noch deutlicher wird dieser Sachverhalt in einer vergleichbaren Situation: beim Einfädeln in eine Autoschlange vor einem Engpass. Um selber möglichst schnell das Ziel zu erreichen, wird es notwendig, anderen den Vortritt zu lassen. So wird der andere, das eigentliche Hindernis, zum Mittel des eigenen Fortkommens. Mit diesem Widerspruch praktisch umzugehen, wäre deutschen Autofahrern noch in den 60er Jahren schwergefallen.
Die Spannung ist groß in einer Schlange, wenn einer Anstalten trifft, sich vorzudrängen. Der Regelverstoß wird mit Worten geahndet, doch Handgreiflichkeiten sind in einer Menschenschlange wohl auch darum selten, weil der Unzivilisierte die Mehrheit und den gänzlichen Ausschluss aus der Ordnung befürchten muß. Wem Warteschlangen nicht fremd sind, weiß, daß dort der Typus des Ipsissimus selten zu finden ist, zu dessen Selbstverständnis es gehört, sich jederzeit und überall durchzusetzen. Hier kann nicht überholt werden. Durchsetzungsvermögen, Geschicklichkeit und alle nur denkbaren männlichen Tugenden, die dem Vorwärtskommen dienen, gelten nichts. Es gilt Geduld.
Männer mit der Obsession, in jeder Situation dominant auftreten zu müssen, meiden die Schlange nicht nur, weil sie tatsächlich keine Zeit zu verlieren haben, sondern auch weil die Vereinbarung über die Gleichheit und das Warten ihrem Status widerspricht. Denn Warten gilt als Zeichen von Abhängigkeit. Gleichheit und Abhängigkeit zu erdulden, und sei es auch nur vorübergehend in besonderer Situation, ist dem Ipsissimo schwer erträglich. Daher, sollte er wirklich einmal in einer so zivilisierten Warteschlange zu stehen kommen, greift er zum Handy. Was so viel bedeutet wie: ich bin zwar leider körperlich hier, aber sonst gar nicht da. Im Grunde stehe ich in keiner Schlange.

Artikel in der Rubrik der Frankfurter Rundschau "Times mager"