Über Muße, Verschwendung und Ökonomie der Zeit
Zeit als solche, wer will die? Das Bedürfnis nach Zeit erscheint sekundär, verglichen mit anderen sozialen Grundbedürfnissen, etwa dem Bedürfnis nach Bewegungsfreiheit oder nach sozialer Anerkennung. Zeit zu haben, wünscht man, um andere Bedürfnisse befriedigen zu können. Zeit als solche sich zu wünschen, wird erst möglich, wenn sie nicht mehr als bloßes Mittel gilt, als verplanbares Material. Lebenszeit ist begrenzt und darum ein knappes Gut, Arbeitszeit ist Geld. In jedem Fall ist Zeit kostbar. Darum wird sie von statusbewußten Müßiggängern demonstrativ verschwendet. Sie tun mit ihr, was sie wollen, und werfen zum Fenster hinaus, was jeder, der etwas produzieren will, anderen abkaufen muß.
Die jüngste Eröffnung eines großzügigen Wartesaals im Frankfurter Hauptbahnhof ist ein Indiz: Es wird mit Wartezeiten gerechnet. Denn unvorhergesehene Wartezeiten sind der Preis strammer Organisation, da die Anfälligkeit von Systemen mit zunehmender Komplexität wächst. Die Wiedereinrichtung von Wartesälen (DB-Longes) entspricht der Unvermeidbarkeit von Betriebsstörungen, die das ehrgeizige Bemühen der Deutschen Bahn begleiten, durch einen engmaschigen Fahrplan Flugzeug und Auto den Rang abzulaufen. Die Umsteigezeiten sind bekanntlich oft so knapp bemessen, daß die geringste Verspätung den Anschluß gefährdet. Je kleiner die Zeitpuffer, desto größer das Risiko, warten zu müssen.
Das Stück Zeit, das auf diese Weise abfällt, hat den Charakter einer Zwangspause. Oder aber: den Charakter einer unverhofften Freistunde, wie man sie aus der Schule kennt. Die Wartezeit, die durch Zugverspätungen anfällt, unterscheidet sich von den alltäglichen, nicht verwendbaren Zeitresten grundsätzlich durch ihre pure Unausweichlichkeit. Sie ist eindeutig fremdbestimmt. Dem Autofahrer dagegen, der im Stau steckt, wird eine Verspätung letztlich als individuelles Versagen angerechnet. Denn Autofahren lebt von dem Anspruch, eine autonome Unternehmung zu sein, orientiert an Leistung, Geschick und Durchsetzungskraft.
Anders bei der Bahn (und beim Fliegen): Die Verspätung ist für den einzelnen ein unabänderliches Faktum, für das er keine Verantwortung trägt. Und im Unterschied zu sonstigen Wartezeiten kann der Wartende sich entfernen, weil das Eintreffen des erwarteten Ereignisses zeitlich genau vorhersagbar ist. (Früher als angegeben wird der Zug nicht ankommen.) Er muß nicht wie in einer unberechenbar vorrückenden Warteschlange seinen Platz behaupten. (Auch im Stau wird er sein Auto kaum verlassen.) Zudem zeichnen sich Wartezeiten auf dem Bahnhof dadurch aus, daß sie unerwartet auftreten. Dadurch bleiben sie jeder Planung entzogen. Man steht ihnen absichtslos gegenüber. Was fängt man mit solch einem Zeitsplitter an? Denn um Zeitsplitter handelt es sich üblicherweise bei Wartezeiten bis zu einer halben Stunde. Unerwartete und kurze Wartezeiten sind nützlich kaum zu verwenden. Sie lassen sich nicht instrumentalisieren.
Es liegt auf der Hand, daß das Warten durch die Art des Erwarteten strukturiert wird. Das Ergebnis eines Examens wird anders erwartet als ein Rendezvous, als der Arzt oder als der Zug nach Basel. Man wartet auf dem Bahnhof nicht gelähmt, nicht euphorisch, nicht besorgt unter dem Eindruck des Erwarteten. Dazu macht es einen Unterschied, ob ich weiß, daß das Erwartete überhaupt eintrifft, und ob ich weiß, wann. Bekanntlich ist es eines der ältesten Mittel der Machtausübung, Menschen warten und darüber im unklaren zu lassen, wann sie empfangen werden. Wer warten muß, ist abhängig von dem, was kommt. Wartenmüssen ist ein Zeichen von Abhängigkeit und wird als Einschränkung der persönlichen Freiheit stets negativ empfunden. Je anspruchsvoller die Vorstellung von Individualität, desto verhaßter ist erzwungenes Warten.
In einer Arbeitsgesellschaft, in der wir trotz aller Auflösungserscheinungen immer noch leben, gilt Wartezeit selbstverständlich als vergeudete Arbeitszeit, als verlorenes Geld. Da wir nach dem Vorbild kapitalistischer Arbeitsintensivierung gelernt haben, in der "Freizeit" auf eigene Faust aus 8 Stunden 24 Stunden herauszupressen, und den Rest an Lebenszeit mit möglichst vielen Erlebnissen (" events") vollpacken, wollen wir auch in unserer arbeitsfreien Zeit nicht warten. Das Bewußtsein ist zeitökonomisch durchtrainiert. So unangenehm das Warten also ist, weil uns Zeitvergeudung und das Gefühl der Abhängigkeit zuwider sind, so vergleichsweise unproblematisch ist es doch im Falle einer Zugverspätung: Wir tragen keine Verantwortung, ängstigen uns nicht vor Ungewissem und sind nicht an den Ort genagelt. Sofern wir nicht zu jenen gehören, die in einer Unpünktlichkeit den Zerfall jeder Ordnung sehen, und wenn wir uns nicht trotz oder wegen der Unabänderlichkeit blau ärgern, warten wir recht gelassen.
Gelingt es, die erzwungene Wartezeit so unbefangen zu nehmen wie die unverhoffte Freistunde in der Schule, sind die unausweichlichen Pausen eine Gelegenheit zur Muße. Eine verstiegene Behauptung? Ich glaube nicht. Ist denn "aus der Not eine Tugend zu machen" nicht eine Kunst?
In einer 1989 erschienenen Textsammlung über Muße und Müßiggang schreibt der Herausgeber Jospeh Tewes, Muße habe "gleichviel, ob man sie als Tätigkeit oder als Nichtstun versteht, ihren Sinn nur in sich selbst, während arbeitende Tätigkeiten im allgemeinen eines zu erreichenden Zieles wegen, also gerade nicht um ihrer selbst willen, durchgeführt werden … Muße scheint wie jedes sinnliche Erleben an die Bereitschaft gebunden, sich der Situation zu überlassen, ja mehr noch, sich ihr hinzugeben". Muße: Sie ist vielleicht ein vergessenes, ein wegtrainiertes Grundbedürfnis, das wir als Folge der Quantifizierung der Zeit und der widernatürlichen Kontinuisierung der Arbeit verlernt haben.
Fraglos ist Zeitsouveränität das oberste Kriterium der Muße: Es handelt sich um Zeit, mit der ich tun kann, was ich will. Wartezeit dagegen ist beschränkte Zeit. Doch ist es nicht so, daß die besten Hervorbringungen menschlichen Geistes und die stärksten Erlebnisse gerade aus der Beschränkung entstehen, aus der notwendigen Beachtung vorgegebener Bedingungen und Grenzen? Aus der Not eine Tugend zu machen: ist das etwa gar der Normalfall für Kreativität?
Die Wartezeit auf dem Bahnhof ist trotz fremdgesetzter Grenzen durch das weitgehende Fehlen einer oktroyierten Zeitstruktur (das Fehlen störender Erwartungsspannung) in dem Sinne frei, daß sie für alles offen ist. Diese überschüssige Zeit ist, relativ zu dem Zeitkorsett, in dem zu bewegen wir uns angewöhnt haben. Ein echtes Stück Luxus. Zeitabfall läßt sich in Luxus verwandeln, aus instrumenteller Perspektive gesehen: in den Luxus der "Zeitverschwendung".
Es ist hier nicht die Rede von dem durch Arbeitslosigkeit erzwungenen und darum in einer Arbeitsgesellschaft verachteten Müßiggang. Zum Luxus kann Zeitabfall nur in Abhängigkeit von der subjektiven Möglichkeit werden, ihn als solchen zu interpretieren. Es muß eine Vorstellung davon existieren, daß die in den Schoß gefallene Zeit wie ein Geschenk handhabbar ist. Zumal sie ja im Gegenteil auch als Zeit erscheinen kann, die mir gestohlen wird. Es muß ein Bewußtstein davon vorhanden sein, daß die unerwartete, kurze Wartezeit sich von Arbeitszeit und Freizeit qualitativ unterscheidet.
Sich einer "Situation zu überlassen, ja mehr noch: sie hinzugeben", ist eine befremdliche Anforderung an Menschen, die gerade umgekehrt in der Gestaltung von Situationen die Möglichkeit der Selbstbestimmung sehen. Es nimmt nicht wunder, daß in einer Arbeitgesellschaft das Ideal der sogenannten "Selbstverwirklichung" im Machen besteht. Die Folge ist in der Regel ein durch Experten und Animateure programmierter Aktionismus. In einer mit zweifelhaften Produkten vollgestellten Welt gibt es inzwischen Grund, über eine "Kultur des Lassens" nachzudenken. Der junge Goethe machte auf seiner Italienreise die Erfahrung, daß er nur dann fähig war, Neues: Unerhörtes, Nicht-Gesehenes, Unvorstellbares, Nicht-Gedachtes sich zugänglich zu machen, wenn er sich der vorgefaßten Begriffe entledigte. Mutig schüttelte er den Schutzpanzer der Vorbegriffe und Vorurteile ab, welche gewöhnlich die Enge oder Weite des Blickwinkels bestimmen. Er haben sich "ganz hingegeben", schreibt er.
Absichtslosigkeit, Arglosigkeit und Offenheit charakterisieren den, der ein gefundenes Stück Zeit in Muße verwandeln kann. Er ist offen gegenüber der Welt. Muße, dieser ehrwürdige europäische Begriff, ist nicht zu verwechseln mit den meditativen Praktiken weltabgewandter Selbstversenkung. Der Müßige kann das Glück haben, sich des Augenblicks bewußt zu werden. Wer die in Rede stehende Situation nicht dazu nutzt, in die Vergangenheit fortzutauchen, noch dazu, Zukünftiges zu planen, kann die reine Gegenwart erfahren. Dann ist er präsent, dann ist er ganz da. Er fühlt das Hier und Jetzt der Situation, in der er sich befindet. Mit allen Sinnen fühlt er, daß er lebt. (Normalerweise setzen wir lediglich voraus, daß wir leben.)
Der Müßige vergißt sich. "Je mehr ich mich selbst verleugnen muß, desto mehr freut es mich", schrieb Goethe im zitierten Zusammenhang. Der Müßige verschanzt sich nicht in einer wie auch immer verstandenen Identität oder Rolle. Er nimmt wahr, was die anderen tun. Er ist gelassen. Er wartet, was kommt. Es ist die Situation der Einfälle. Sein Kopf ist ein offenes Nest. Vogelgleich fliegen ihn neue Gedanken an. (Gebrütet wird später.) Wenn er sich in Gespräche einläßt, will er nichts. Er hört zu. So hört er und sieht er Dinge, die er sonst nicht erfährt. Muße ist eine Art, in einer durch und durch vermittelten Welt mit den eigenen Augen zu sehen und mit den eigenen Ohren zu hören.
Es handelt sich insofern um den Versuch, sich wenigstens für Augenblicke von dem, was die Medien uns vorgeben, zu lösen. Es handelt sich um den Versuch, Unmittelbarkeit herzustellen, die selbstverständlichen Dinge neu zu sehen. Absichtsvoll ist Neus zu erfahren schwer. Das selbstverständlich Gewordene zu durchbrechen ist die Art, wie Künstler die Welt zu erfahren suchen. Muße ist ähnlich der Klimax in der Liebe ein Stück tief erlebter Zeit, deren Quantum keine Rolle spielt. Es handelt sich um erfüllte, nicht um verdichtete Augenblicke, erlebt ohne Anstrengung. Die Erfahrung einer qualitativ anderen Zeit, die Erfahrung, daß Zeitabfall als Luxus erlebt werden kann, ist möglicherweise subversiv. Denn sie steht in krassem Gegensatz zu der fremdbestimmten Zeitstruktur des gewöhnlichen Arbeitslebens in einer zeitökonomisch durchorganisierten Gesellschaft.
Der Hauptbahnhof einer großen Stadt ist der urbane Ort par excellence. Nirgends sonst treffen so viele unterschiedliche Menschen zusammen. Als urbaner Ort bietet er die Chance vielfältiger, aktueller und eigener Lebenserfahrung, Erfahrung aus erster Hand. Für solch vorsätzliche Menschen, wie wir es sind, ist Muße nicht lange erlebbar. Kurze, unerwartete, sich jeder Instrumentalisierung entziehende Wartezeiten bieten jedoch die Gelegenheit dazu.