Mondfamilie. Oder: Begegnung mit einem einbeinigen Stern
Die Besprechung war früher zu Ende. Was macht man am Stuttgarter Hauptbahnhof mit einem Stückchen Zeit? Gegenüber gibt es einen Geschenkartikelladen. Sonne-Mond-und-Sterne stehen im Schaufenster auf einem kleinen grünen Podest. Die Sonne mit dem runden Gesicht einer vergnügten Bauersfrau hat große rote Pampuschen an und tut, als wolle sie sich gleich eines der Sternchen fassen, um es zu Bett zu bringen. Es sind vier Sternchen im Hemd, mit roten Backen und Kußmäulchen. Der Halbmond, in nachtblauem Sternenmantel, stützt sich auf einen Stab, offenbar ist er schon älter. In der Linken hält er merkwürdigerweise einen roten Becher. Vielleicht eine Sammelbüchse? Denn alle sechs sehen auf dem grünen Podest ein wenig wie Schausteller aus, die Sonne, Mond und Sterne bloß spielen.
Es sind Figürchen aus dem Erzgebirge. Sie erinnern mich an die Engelskapelle früher unterm Weihnachtsbaum. Ich würde Sonne-Mond-und-Sterne gern kaufen. Aber das größte der vier Sternchen hat nur ein Bein.
"Der hat nur ein Bein."
"Chefin, der Stern hier hat nur ein Bein."
"Das tut mir leid. Mit einem Bein können wir Ihnen die Gruppe nicht verkaufen, die geht retour. Ein Produktionsfehler. Wir haben noch andere schöne Figurengruppen aus dem Erzgebirge."
Währenddessen schaue ich dem Stern unter den Rock. Kein zweites Bein ist da abgebrochen! Der hat nie mehr als ein einziges Bein gehabt. Ich bekomme den Stern, ich kaufe die Gruppe. Warum nur ein Bein? Wieviele Beine haben Sterne denn eigentlich? Wenn das so ungeklärt ist, kann man nicht ausschließen, daß es auch einbeinige Sterne gibt, oder?
Die Gestirne als Kleinfamilie setzen für die Kinder das unfaßbar Große ins faßbar Kleine um, ganz so, wie es auch die Metapher vom "Himmelszelt" tut. Aber egal wie distanziert wir später den Mond als Hausvater betrachten mögen: Er und "Frau Sonne" gehören nun mal in den kindlichen Horizont, an dessen wohlige Beschränktheit wir uns gern erinnern. Sollten sich Kinder damit zufriedengeben, daß auch Sterne zur vertrauten Familie der Zweibeiner gehören, so wird man doch für die auffallende Einbeinigkeit eine plausible Erklärung finden müssen. Sagt man die nackte Wahrheit, ist die Luft raus aus der gemütlichen Metapher der "Mondfamilie", und man hat die ganze Astronomie am Hals. Mit feinem Witz deutet das einbeinige Sternchen uns das Illusionäre der Kinderwelt an. Die "Mondfamilie" ist nicht naiv, sondern stellt Naivität dar (es sind Schausteller!) und ironisiert sie zugleich. Das ist reflektiert und amüsant. Volkskunst dieser Art mag sonst wohl niedlich oder lustig sein, geistreich ist sie selten.
Die erzgebirgischen Holzfigürchen sind von grundsätzlich anderer Art als etwa die Typen von Disney-World, die mit rollenden Augen und gummiartigen Gliedern stets wie von der Tarantel gestochen in einer Welt herumsausen, wo sogar Toaströster auf zwei Beinen laufen. Dagegen haben die hölzernen Erzgebirgler eine bodenständige Ruhe. Sie vermitteln eine statische Welt, wo alles an seinem Platz bleibt. Die Holzfigürchen gewinnen ihre Würde durch die Symmetrie ihres gedrechselten Körpers. Während zu Anfang unseres Jahrhunderts Kunst und Literatur die Geschwindigkeit zum Thema machten, die seit der Erfindung der Eisenbahn, des Autos, des Flugzeugs, des Telegraphen und des Films zu einer dominierenden Dimension des modernen Lebens geworden ist (eine Dimension der Gewalt, wie der französische Philosoph Paul Virilio ausgeführt hat), bleibt die erzgebirgische Volkskunst fest in den Fugen.
Die Würde der Englein und der Sternchen liegt weniger in ihrem Status als in der konservativen Unangepasstheit an das Tempo der zeitökonomisch trainierten Moderne. Während die Comic-Figuren, gestikulierend und Grimassen schneidend, neben dem technischen Fortschritt einherhecheln, der alles um- und umwälzt, scheint die kindliche Welt der Holzfigürchen Bestand zu haben. Diese rührende Beharrlichkeit suggeriert uns tröstlichen Stillstand und eine Überschaubarkeit, die wir in der Realität niemals haben. Alwin Seifert, einst Direktor der "Spielwarenschule Grünhainichen", war sich des Sachverhalts wohl bewußt, als er 1922 die Spielzeugmode der "Brettertiere" kritisierte, "wo beinahe kein Teil des Tieres in Ruhestellung bleibt. Es zappeln beim Pferde die Beine, der Kopf, der Schwanz und beim Reiter gar noch der Zylinderhut. Alles zappelt und bewegt sich". Und wird dadurch lächerlich.
Einen Betrieb, der die Beschaulichkeit seiner Produkte mit subversivem Witz garniert, wollte ich gern kennenlernen. Auf der Frankfurter Messe hat keiner im Hauptquartier der ostdeutschen Geschäftsleute Sonne-Mond-und-Sterne im Sortiment, aber einer verrät mir den Namen des Herstellers. Ich beschließe, ins Erzgebirge zu fahren. Dort, im sogenannten Weihnachtsland, stelle ich mir vor, sitzen die braven Dreher und Schnitzer in ihren niedrigen Hütten und halten die Zeit auf.