Schnecken-Sex

Mach mir die Schnecke
Zeit für neue Vorbilder: Bei der Weinbergschnecke geht es drunter und drüber, drauf – und das mit Muße

Kürzlich brach Medientheoretiker Peter Weibel eine Lanze für den Cybersex. Masturbierende Monaden, das hält er nicht nur für unausweichlich, sondern für wünschenswert. "Pornofilme gucken oder sich vorm Internet einen runterholen", ist für Kultautor Michel Houellebecq der Normalfall des neuen Jahrhunderts. "Wir möchten einander von ferne nahe sein, darin sehen Avantgardisten die Beziehungsform der Zukunft", schreibt Anette Meyhöfer im SpiegeL Lust? Hat man dabei Lust? Meyhöfer spricht von "prothetischem Sex, bei dem sich Erektionen und Orgasmen künstlich herstellen lassen."
Alles cool und clean. Hat das feuchte Modell Casanova also ausgedient? Keineswegs. Es lebt fort und fort und wird uns für bessere Zeiten Vorbild sein. Allerdings: Es ist die Schnecke, welche die Utopie wach hält.
Die Weinbergschnecke (helix pomatia) hatte Tiervater Brehm 1878 noch zu den "niederen Thieren" gerechnet: "Ein Thier, mehr Bauch als Kopf, mühsam auf platter Sohle kriechend." Damit stand sie in der Hierarchie der Lebewesen mit Muschelwächter, Schamkrabbe, Bärenkrebs, Küstenhüpfer, Wunderauge, Walfischlaus, Kiemenfuß, Rüsselrädchen, Spritzwurm, Pfriemenschwanz, Wasserkalb, Doppelloch, Dreimund Grubenkopf und anderen auf einer Stufe.
Heute nun, in der Postpostmoderne, haben wir eine Sprachregelung gefunden, welche die Diskriminierung vermeidet. Wir sagen: Die Weinbergschnecke ist nicht ein "niederes Tier", sondern ein "anderes Wesen". Brehm hatte sich gegenüber der Weinbergschnecke bis zur politischen Diskriminierung verstiegen, wenn er von Schnecken mit linksgewundenem Gehäuse behauptete, dass diese "von Geburt an alle verkehrt gewunden waren, alle links, Revolutionisten vom Eie an". "Ein böses Spiel mit Vorurteilen" nannten die französischen Biologen Claude Nuridsany und Marie Perennou, deren sensationeller Film Mikrokosmos 1996 mit Starrding Ovations gefeiert wurde, solch herablassende, homo-zentrische Eingruppierung. Und dies nicht nur aus prinzipiellen Gründen, denn die Schnecken bewahren uns die Utopie einer sexJ eilen Vereinigung, bei der man so nah beieinander ist wie irgend möglich.