Maßkleid für die Spröde
Volterra steht am Scheideweg – Ein Zukunftsentwurf
Die Touring-Reisebusse biegen nach San Gimignano ab. Meist fällt den Touristen sogleich der Vergleich mit Manhattan ein, und die merkwürdigen Türme werden schon vom Bus aus ins Video gezogen. San Gimignano ist die einzige toskanische Stadt, in der die im Mittelalter allgemein verbreiteten Geschlechtertürme noch erhalten sind. Das Städtchen hat es geschafft: Es verkauft sich als Perle der Toskana. Boutiquen, Keramikläden und die mit Hilfe der UNESCO restaurierten Häuser geben der noch in den 70er Jahren hinfällig anmutenden Bergstadt den Charme Schweizer Saturiertheit. Liebhaber malerischer Morbidezza finden es hier zu säuberlich. Aber wer kann etwas dagegen haben, daß es den Einwohnern nun besser geht? Doch sind es noch die alten Bewohner? Wenige. Viele leben am Rande der Stadt und vermieten ihre Wohnungen im Zentrum an Feriengäste. Wo würden sie hier noch bekommen können, was man zum täglichen Leben braucht?
Ein paar Kilometer weiter in die Berge hinauf wird der Ausblick weiter und großartiger. Hinter den gestaffelten Silhouetten karger Hügel glänzt manchmal das Meer. Dort oben liegt Volterra, die mauerumschlossene "Stadt des Windes und des Steins". Der erste Eindruck, von San Gimignano aus, ist die vorspringende und langhingezogene Fortezza, welche die Häuser verdeckt. Die abschreckende Wirkung der gewaltigen Festungsanlage galt nicht nur dem äußeren Feind. Die Medici hatten den riesigen Bau als Zwingburg angelegt, um den aufständischen Volterranern das Kreuz zu brechen. Es ging um Alaun.
Die Niederwerfung ließen sie 1472 durch jenen berühmten Federigo da Montefeltro besorgen, der sich in Urbino einen Musterstaat errichtet hatte, zu dessen Verschönerung er Volterras Kirchen plünderte. (Piero della Francescas Gemälde in den Uffizien zeigt das merkwürdige Profil des kunstliebenden Condottiero, der sich die Nasenwurzel hatte heraus schneiden lassen, um mit dem linken noch verbliebenen Auge auch die Feinde auf der rechten Seite erkennen zu können.) Die Fortezza, in welche die Medici dann ihre politischen Konkurrenten aus der Pazzi-Familie verbannten, gilt auch heute als sicheres Zuchthaus. Hier saßen bis vor kurzem die Terroristen der "Brigate Rosse" neben den Mafiosi ein.
Gefangenenwärter ist ein begehrter Arbeitsplatz, seitdem als Folge eines Reformgesetzes die über 5000 Patienten zählenden Psychiatrischen Anstalten in· den 70er Jahren aufgelöst wurden. Sie waren bis dahin der größte Arbeitgeber der Stadt. Der Alabaster, der wie Carrara- Marmor und Murano-Glas einst zu den edlen Einrichtungsmaterialien kultivierter Bürgerhäuser gehörte, hat noch in jüngster Zeit 1500 Menschen Arbeit gegeben. Heute sind es 200. In den Romanen des 19. Jahrhunderts war das nebelfarbene, geäderte Material eine geläufige Metapher, um die zarten Schultern vornehmer Damen zu beschreiben. Alabaster gilt heute als altmodisch. Die Kleinstadt hat 12 500 Einwohner und viele Arbeitslose. Die Jugend geht fort.
Während sich das benachbarte San Gimignano herausputzte und dem Massentourismus in die Arme warf, geschah in Volterra wenig. Die traditionell von den Kommunisten verwaltete Stadt blieb wie sie war, solange die Leute Arbeit in den beiden Anstalten und den Alabasterwerkstätten hatten. Die Stadt ist im Wortsinne intakt: Vom Eisenwarenladen bis zum Schuster sind noch alle Voraussetzungen des kleinstädtischen Alltags erhalten. Treffpunkt der Bürger ist die Kreuzung der Via Gramsei und der Via Giacomo Matteoti, nicht die Piazza.
Geographisch gesehen liegt Volterra in der Mitte der Toskana, doch ist es über die Bergstraßen umständlich zu erreichen. Die Unberührtheit und Abgelegenheit in einer Landschaft, deren Herbheit sich von der kultivierten Anmut der übrigen Toskana unterscheidet, haben der verschlossenen Stadt feste Freunde geschaffen: Freunde des Spröden, die bekanntlich zu den anspruchsvolleren Liebhabern gehören. Darunter eine nicht geringe Zahl Deutscher, die sich für immer um Volterra niedergelassen haben. Im Juli 1995 hat der neue Bürgermeister die ansässigen Ausländer zum Gespräch eingeladen. Er wollte auch sie in seine Pläne einbinden. Was kann man tun, um der alten Stadt aufzuhelfen, ohne daß sie ihren Charakter verliert? Zunächst muß man verstehen, daß Städte von der Art Volterras wirkliche Individuen sind, einzigartig, unverwechselbar und sehr verletzlich.
Ivo Gabellien von der Partita Democratico della Sinistra (PDS), der reform-kommunistischen Partei mit dem Emblem der grünen Eiche, hat 1995 die Kommunalwahl gegen Grüne und Berlusconis Forza Italia mit 67 Prozent der Stimmen gewonnen. Sein Konzept zur Erhaltung der Identität der Stadt gefiel den Volterranern, die Veränderungen skeptisch gegenüberstehen. "Unser größter Reichtum ist die Geschichte", sagt der Bürgermeister. Er weiß, daß Volterra heute am Scheidewege steht, und er hat das Glück, aus den Fehlern anderer Kommunen lernen zu können. Angesichts der Verheerungen, die der Massentourismus anrichtet, sieht er die Überlebenschance Volterras in einem "turismo di qualita". Anstelle der Eintagstouristen, die nach dem Besuch des berühmten Etruskischen Museums zu den Bussen eilen, wünscht er sich Gäste, die länger bleiben - und wiederkommen. Engagierte Unterstützung erhält der neue Bürgermeister von der "Villa Palagione", einem Kultur- und Bildungszentrum von Deutschen und Italienern, die wenige Kilometer vor Volterra das Centro Interculturale aufgebaut haben. Durch ihre Verbindung zu deutschen Volkshochschulen und mit Unterstützung des eigens gegründeten Vereins Dialoge International ist es den entschlossenen Europäern gelungen, Bildungstouristen nach Volterra zu ziehen und als Stammgäste zu gewinnen. Ein alter Landsitz der Medici, brombeerüberwuchert und bis zum Schafstall heruntergekommen, wurde zu Unterrichts- und Übernachtungsräumen ausgebaut und mitsamt der verspielten Fresken liebevoll restauriert. Die Sprachschüler blicken weit über das karge Hügelland. Ein Autofenster blitzt in der Sonne auf. Im Mittelalter hätte man Alarm gegeben: ein Aufblitzen in der Ferne, das wären die Lanzen und Schilde des anrückenden Feindes gewesen.
"Zweck des Bildungszentrums ist die Förderung und Pflege von internationalen, insbesondere europäischen Begegnungen, der Völkerverständigung, der Jugend- und Erwachsenenbildung im interkulturellen Bereich", heißt es in der Vereinssatzung. "70 Prozent der Teilnehmer an den vom Centro angebotenen Kursen und Exkursionen kehren wieder", sagt Antonella Stillitano, die Sprecherirr des Bildungszentrums. Die resolute Italienerin hat in Frankfurt unterrichtet und spricht das Deutsche so fließend wie ihre Muttersprache.
Seit einiger Zeit schon suchen die Leute von der "Villa Palagione" nach Wegen, um sich an der Gestaltung der Kommune aktiv zu beteiligen. Sie haben langjährige Erfahrung mit dem vom Bürgermeister gewünschten "turismo di qualita" und bieten sich der Kommune als kompetente Partner an. Eines Tages im Herbst 1993 kam man an der kleinen Theke des "Salone", wo die Gäste sich abends einfinden, um ihren Amaro zu nehmen, auf die merkwürdige Piazza Volterras zu sprechen. Warum sie keine typische italienische Piazza ist, auf der man sich trifft, darüber gab es mancherlei Vermutungen. Jemand behauptete, auf dem Platz habe einstmals der Galgen gestanden.
Aus dem Thekengespräch ergab sich eher beiläufig ein Kontakt zum Fachbereich Architektur und Städtebau der Gesamthochschule/Universität Siegen. Die Mitarbeiter der "Villa Palagione" waren auf erfahrene Praktiker gestoßen, die professionelle Analysen und Vorschläge machen könnten. Sie erkannten die Chance einer praktischen Zusammenarbeit und luden Diedrich Praeckel (Partner im Frankfurter Architekturbüro Speer + Partner), dessen Mitarbeiter und zwölf Studenten ein, in ihrem Palazzo an der Flanke des Monte Voltraio über Volterras Probleme ein städtebauliches Seminar abzuhalten, im besonderen über Eigenart und Funktion der Piazza.
Die Studenten kamen im Oktober des folgenden Jahres nicht unvorbereitet. Um Kriterien zur Lösung des Ausgangsproblems zu gewinnen, hatten sie Plätze anderer italienischer Städte studiert und in einheitlicher Darstellung und gleichem Maßstab gezeichnet: Plätze in Florenz, Rom, Siena, Bergamo, Pienza, Verona, San Gimignano dienten zum Vergleich. Um über die problematische "Piazza dei Priori" ein Urteil zu gewinnen, wollte man die Stadtstruktur untersuchen. Alle Plätze Volterras sollten zu verschiedenen Tageszeiten beobachtet werden. Bald sahen die Volterraner überall Studenten mit Zeichenblöcken und Fotoapparaten sitzen. Das Programm dieser behutsamen Annäherung wurde in zehn Tagen intensiver Arbeit in die Tat umgesetzt. Die Kommune hatte für das Seminar die ebenerdige, verglaste Loggia des bischöflichen Palastes zur Verfügung gestellt, der direkt an der "Piazza dei Priori" liegt. Unter den Augen von Einheimischen und Touristen baute die Studiengruppe ihrE Modelle und arbeitet e ihre Veränderungsvorschläge aus, bei denen es sich selbstverständlich nur um sehr vorsichtige Eingriffe handeln konnte.
Leonardo Benevolo sagt, wir verdankten unsere Vorstellung, daß eine Stadt ein individuelles Gebilde mit eigenem Leben sei und ein geographischer und sozialer Ort, an dem sich unsere Erfahrung bildet, der im Mittelalter gewachsenen Urbanität. Diese Feststellung wurde in einem einleitenden Seminarvortrag dahingehend interpretiert, daß Städte wie Volterra ihre Identität als unverwechselbare, einzigartige Orte sozialer Erfahrung wiederzugewinnen und zu verteidigen haben: gegen den Trend nivellierender Standardisierungen und gegen den Einbruch der Geschwindigkeit in die Stadt. Es geht um die Verteidigung des Raums gegen die Zeit. Der Automobilismus hat auch in Volterra das soziale Leben, soweit es sich auf der Piazza noch zeigte, zerstört. Die Piazza war zum Parkplatz verkommen, sichtbarer Ausdruck des Niedergangs der "vita communis".
"Die Piazza dei Piori ist in einer Woche autofrei", wird der Bürgermeister später der Siegener Projektgruppe verkünden. Die Parkplätze würden vor die Stadtmauem gelegt. Gabellieri, der mit der Parole "Der Bürgermeister für die Bürger" gegen die "Forza ltalia" angetreten war, die sich eine Schnellstraße wünscht, um Volterra aus dem Abseits zu holen, möchte für sein Konzept "turismo di qualita" nur das vorhandene Straßennetz ausgebessert haben. Die italienischen Kommunisten waren übrigens überall die ersten, die den Autoverkehr aus dem "centro storico" hinausdrängten. Was ihre Städte anging, waren sie immer konservativ. Ihre Stadtplanung etwa in Bologna oder Siena gilt als vorbildlich.
Die Präsentation der studentischen Bestandsaufnahme wurde zu einem unerwartet großen Erfolg, einem richtigen Fest. Wohl weit über fünfhundert Volterraner begutachteten die ausgestellten Zeichnungen und Modelle mit großem Wohlwollen. Aber auch kritisch: So kommentierte eine alte Volterranerin den harmlosen Vorschlag, die Docciola-Treppe mit Oleanderbüschen zu schmücken, mit den bitteren Worten: "Hier waren nie Blumen, hier sollen auch keine Blumen sein." Man erkennt, daß kleinste Veränderungen für die Einwohner sehr problematisch sein werden. "Es geht darum, daß wir unsere Identität bewahren", sagte der Bürgermeister. Würde es gelingen, den Kontakt zwischen Volterra und Siegen zu verankern? Als sich die Stadtväter von der Ernsthaftigkeit des Engagements und dem großen Interesse der Bevölkerung überzeugt hatten, übernahmen sie über das Seminar die Schirmherrschaft und drückten offiziell den Wunsch aus, mit der Universität Siegen weiter zusammenzuarbeiten.
Man begann vorsichtig, von einer "Sommerakademie" in Volterra zu träumen. Es wurden Pläne geschmiedet: Warum sollte man nicht auch Seminare für Archäologen, Kunsthistoriker, Stadtsoziologen und Studenten des sogenannten 3. Lebensalters veranstalten? Wie könnte der nächste Schritt dazu aussehen? Da luden die Mitarbeiter der "Villa Palagione" den Volterraner Bürgermeister und seinen Stadtplaner kurzerhand nach Deutschland, speziell nach Siegen, zum weiteren Gespräch ein. Als der Kleinbus mit den Volterranern sich durch die engen. Tore des "Oberen Schlosses" zwängt, winken die Siegener Herren schon von weitem freundlich durch den ortsüblichen Regen: der Bürgermeister, der Pro-Rektor, der Chef des Akademischen Auslandsdienstes, die Professoren des Fachbereichs, die Studenten und die Presse. Der kleinen Rede des Bürgermeisters der Stadt Siegen (unter anderem über Bergbau und Kartoffeln) folgt eine kleine Rede des Bürgermeisters von Volterra (unter anderem über Salz und Alabaster). Geschenke werden ausgetauscht: Foto-Bücher über die beiden Städte. Und Signore Gabellien überreicht eine kleine Skulptur: einen Bronzeabguß der etruskischen Figur eines Mannes, "Ombra della sera", Abendschatten genannt, das heimliche Wahrzeichen der Stadt. Schließlich präsentiert Professor Praeckel die von den Studenten erarbeitete Dokumentation ihres Studienaufenthaltes "Progetto 1995 Volterra". Die Volterraner Stadtväter sind beeindruckt. Sie merken, daß es den Siegenern ernst ist. Und die Visionen werden konkret.
Der mit "Euro-Töpfen" erfahrene Chef des universitären Auslandsamtes erklärt, daß das Projekt "Sommerakademie" grundsätzlich Chancen habe, aus drei EUProgrammen Finanzierungshilfen zu bekommen: zum einen aus dem Wirtschaftsförderungsprogramm für benachteiligte Regionen, nach dessen Richtlinien Volterra unter die Kategorie "bedingt förderungswürdig" falle (aus diesem Fonds werden zum Beispiel Stadtkernsanierungen gefördert); zum zweiten aus dem 4. Europäischen Förderungsprogramm für Forschung (in einem der zahlreichen Unterprogramme ist auch die Substanzerhaltung von Baudenkmälern vorgesehen); zum dritten aus dem Studentenaustauschprogramm namens "Sokrates" (nach dessen Zielvorstellungen 10 Prozent der Studenten im europäischen Ausland studieren sollen). Doch größere Mittel zum Beispiel aus dem Wirtschaftsförderungsprogramm gebe es nur dann, wenn zur Begründung des Antrags schon etwas Akutes vorzuweisen sei. Da stellt der Bürgermeister von Volterra zur Überraschung der Siegener für die "Sommerakademie" Räumlichkeiten der ehemaligen Psychiatrie zur Verfügung. Die Siegener Professoren bieten ihrerseits die Bearbeitung der Baupläne an. Mitte Dezember wird man sich zur Ortsbesichtigung in Volterra teffen. Bildungseinrichtungen in die Stadt zu ziehen, aus der jetzt die Jugend fortläuft, liegt dem Bürgermeister sehr am Herzen. Vielleicht ließe sich auch die Bearbeitung des Alabasters, die noch immer in der kommunalen "Academia de l'Arte" gelehrt wird, wieder neu beleben. Mit der Universität Pisa hat er bereits ein Abkommen getroffen, Kurse aus dem Fachbereich Denkmalspflege in die Stadt auf den Hügeln zu holen. Die Siegener Uni bietet an, Studenten hinunterzuschicken, die im Rahmen eines Praktikums beim Umbau der künftigen Akademie helfen könnten. Der Einstieg in die praktische Zusammenarbeit ist mithin geschafft. "Wunderbar", sagt der weißhaarige, hellwache Bürgermeister. Und als die Siegener Professoren berichten, sie hätten außerdem bereits zarte Verbindungen zu der Universität Maastricht aufgenommen, fällt zum ersten Mal das große Wort "Internationale Universität von Volterra".
Diesen Namen trägt nun die Utopie, deren Konkretisierung Volterra mit neuem und interkulturellem Leben erfüllen könnte. Die Selbstdarstellung der ehrwürdigen alten Stadt würde sich nicht aufs historische Gemäuer beschränken, und sie hätte es nicht nötig, mit der Erfindung von Festivals um Touristen zu buhlen. Buona fortuna, Volterra!