Doktor Breitinger oder: Wie man lernt, einen Engel zu lieben
Zu den etwas speziellen Neigungen des Dr. Breitinger gehört, daß er im Urlaub Friedhöfe besucht. Kaum hat er seinen Koffer ins Hotel gebracht, eilt er durch die Hauptstraße der ihm noch unbekannten Stadt, kauft sich einen Stadtplan und sucht den Friedhof. Auf dem Friedhof sei, sagt er, Stille nicht eine zufällige Pause inmitten des allgemeinen Lärms, sondern eine öffentliche Einrichtung. Nur dort fühle er eine Lebenssicherheit und könne sogar Mitleid empfinden -dieses luxuriöse Gefühl-, wenn ihm ein Grabstein mitteile, ein gewisser Fausto (ein Name, der ja Glück bedeute) sei mit zwei Jahren gestorben. Ungerecht findet er hingegen, wenn einer es auf 93 Jahre gebracht hat.
Er hatte sich auf den Genueser Cimitero Staglieno gefreut. Denn nirgendwo, hatte er gelesen, gab es naturalistischere Grabskulpturen. Pietätvollere Besucher, als der Doktor einer ist, erwarten wahrscheinlich, den Tod in klassizistischer Abgehobenheit behandelt zu sehen, und sind schockiert beim Anblick der hochtheatralischen Trauerszenen, die da mit fotografischer Präzision in Stein gehauen sind. Bedarf der Tod in seiner Ungeheuerlichkeit nicht der schonenden Vermittlung durch festgelegte Symbole, der vorsichtig vorbereitenden Andeutung und der respektvollen Distanz? Breitinger hatte laut lachen müssen, weil: Es war wie im Kabinett der Madame Tussaud.
Die Skulpturen der trauernden Familien waren von natürlicher Größe und in höchster handwerklicher Perfektion derart lebensecht gestaltet, daß Breitinger diesem und jenem gern tröstend die Hand auf die Schulter gelegt hätte. Er schien aufgefordert, sich der Trauergruppe anzuschließen. Die verblüffende Wirkung war fast derjenigen vergleichbar, die er erlebte, als er einmal einer der illusionistischen Figuren des amerikanischen Künstlers Duane Hanson begegnet war, im Museum von Kansas City: Er hatte den Museumswärter angesprochen, aber der antwortete auch beim dritten Mal nicht. Er war Kunst.
Aus heutiger Sicht, fand er, muteten die Grabskulpturen auf dem "Staglieno" sentimental und komisch an - etwa, wenn Vater und Sohn einander weinend in den Armen lagen, die Melone in der Hand und die Augen a la Guido Reni gen Himmel gedreht, wo sie den allerhöchsten Vorgesetzten vermuteten. Nur vor ihm setzte ja der . bürgerliche Patriarch auch innerlich den Hut ab. Dann war da eine lebensgroße, über die Stufen hingegossene Witwe in feingemeißeltem Spitzenumhang, am Auge eine kirschkerngroße Marmorträne, oder (noch 1953!) ein Knabe im Kittel, die Schulmappe unterm Arm, der lächelnd dem Verkehrsunfall entgegenging, der ihn (laut Grabinschrift) getötet hatte.
Viele Genueser Grabskulpturen entstanden zur Zeit des Versismo, der italienischen Parallele zum französischen Realismus, dessen Protagonisten Courbet und Zola gewesen waren. Die Skulpteure, die sich gewiß nicht einbildeten, mit Michelangelo oder Canova zu wetteifern, konnten die Kunstströmung dazu nutzen, ihre Auftraggeber in haargenauen Abbildern zu versteinern, um sie in all ihrer bürgerlichen Wichtigkeit unsterblich zu machen.
Es wunderte Breitinger nicht, daß selbstbewußte Bürger für alle Ewigkeit identifizierbar sein wollten wie Feldherren und Päpste, da sie sich nun als Motor der neuen, der kapitalistischen Gesellschaft betrachten durften. Der Padrone stand da ganz wie im Kontor. Das dabei verwendete Pathosrepertoire erinnerte den Doktor an die Darbietungen heutiger Volksbühnen. "Distanzlose Verdoppelung des Bestehenden in der Absicht zu rühren ist ein Hauptmerkmal des Kitsches", notierte Breitinger in sein Notizbuch. Darum gab die Kunstgeschichte über Friedhofsplastik auch kaum eine Auskunft.
Doch unter den Statuen auf dem "Staglieno" fand er eine, die eine derartige Beurteilung nicht ohne weiteres zuließ. Es war ein menschengroßer Todesengel, dessen Anblick den Doktor sehr belebte. Er fühlte sich merkwürdig angerührt und fühlbar erregt. Der Engel stand lässig, die langen Beine gekreuzt, die vollen, nackten Arme vor der Brust anmutig verschränkt, gesenkten Kopfes, das Gesicht todernst. Der Bildhauer (Monteverdi) hatte es verstanden, die marmornen Augen, die aussahen, als blickten sie nach innen, den Anschein eines Tränenschleiers zu geben. Die Locken wurden durch ein dünnes, mit kleinen Sternen geschmücktes Band gehalten. Die riesigen Flügel rahmten den Körper bis über das Knie. In der linken Hand hielt der Engel eine lange, nach unten gerichtete Posaune, den Zeigefinger leicht über das Mundstück gelegt.
Der dicke Staub auf den Schultern und dem dünnen Gewand schien die Skulptur zu schattieren und hob den Körper um so stärker hervor: aber was für einen Körper! Unterhalb der Taille wölbte sich dem verwirrten Doktor ein üppiger Leib entgegen. Die Hüften waren nach dem Geschmack des 19. Jahrhunderts lang und ausladend, der Po des Engels von unverhohlener Fleischlichkeit. Auf dem vorgestreckten Bauch erkannte Breitinger die Mulde des Nabels. Das Gesicht war das eines voll erblühten jungen Mädchens, einer sogenannten Jungfrau. "Das Lebensendflügelwesen ist weiblich!" bemerkte der Doktor erstaunt.
Giotto hatte Engel noch ohne Unterleib gemalt, und die späteren Meister verstanden es, den Engeln eine überirdische Schönheit zu verleihen, die weder weiblich noch männlich ist. Lessing hat bei einem noch kaum entwickelten Stand der Archäologie das Bild vom Tod als schönem Jüngling in die Welt gesetzt, der eine Fackel löscht: Auf einem antiken Grabrelief hatte er einen geflügelten Putto, der seine Fackel auf einen Liegenden stützt, nicht als Amorette, sondern als Todesgenius interpretiert und in dem dicken Kindchen einen Jüngling gesehen.
Diese trostreiche, von seiner Zeit enthusiastisch aufgenommene Gestalt des Todes ging als feste Allegorie in Literatur und Kunst ein. Jedenfalls waren alle Todesdarstellungen oder todbedeutenden Allegorien bisher männlich gewesen. Die weiblichen Flügelwesen, die Breitinger auf barocken Gemälden gesichtet hatte, waren Darstellungen antiker Göttinnen, Fama oder Isis. Aber dieser hier war mit einer erotischen, nein, sexuellen Weiblichkeit ausgestattet, angesichts derer Dr. Breitinger nach wievielen Jahren wieder fühlte, daß er ein Mann war.
Nun hatte er auf vielen Friedhöfen Italiens kaum verhüllte oder nackte Frauengestalten gesehen, die sich in wollüstig anmutenden Stellungen über das Grab breiteten. Aber ein erotischer Engel? Der Doktor verstand die Notwendigkeit, daß die jenseitigen Wesen, d1e sich im Diesseits verkörpern, schön und liebesstrahlend sein müssen als Abgesandte des Himmels. Die todessüchtigen Romantiker mochten den (männlichen) Todesengel sogar auf den Mund küssen: Sein Mund schwillt zum Küssen so lieblich und bleich!" hieß es bei Eichendorff. Der Tod ist süß: Diese Botschaft berührte Breitinger aber durchaus nicht, da er sich nie den eigenen, sondern immer nur den Tod der anderen vorstellte.
Ob dieser erotische, so überaus weibliche Todesengel auf dem "Staglieno" eine Nachfahrin jener Schmetterlinge und Flügelnymphen war, die auf antiken Grabreliefs als Psyche herumflattern: die Seele des Verstorbenen, welche den Körper des Toten als "anima", als letzter Hauch, verläßt? Wer weiß. Während Breitinger den schönen Engel von allen Seiten fotografierte, damit er auch zu Hause etwas von ihm hätte, näherte sich ein Mann, einer von der gedrungenen, festen Genueser Art, dessen Vorfahren gewiß tüchtige Seeleute gewesen waren und die Venezianer auf dem Mittelmeer das Fürchten gelehrt hatten. "Ein schöner Engel", sagt er, "una bellezza!" "In der Tat", erwiderte Breitinger. "Aber ein Engel mit solch einem Körper?!" Der Genuese lächelte ein einfaches Lächeln. "Gott", sagte er, "kennt seine Kinder und schickt ihnen in seiner Großmut einen so irdisch schönen Engel, um ihnen einen Vorgeschmack vom Paradies zu geben. Vielleicht werden wir dort nicht nur Milch und Nektar schlürfen müssen." Dann ging er mit einem freundlichen Gruß.
Solche Hoffnung fand der Doktor natürlich naiv wenn auch sehr reizvoll. Breitinger war Studienrat, mochte aber die lauten Kinder nicht, so härte er auf, als er endlich den lange systematisch angepeilten Lottogewinn errungen hatte. Aber wenn auch der Doktor die Kinder nicht liebte so hatte er doch immer ein Herz für die Frauen, das er selbstredend keiner von ihnen je entdeckte. Darum fragte er sich jetzt amüsiert, ob denn die Frauen nichts Derartiges hätten im Jenseits, auf das sie sich freuen könnten.
Als hätte der Genuese seine Gedanken geahnt, hielt er ein, wandte den Kopf und wies mit großer Geste geradeaus. Breitmger folgte der angegebenen Richtung, hundert Schritte vielleicht. Da! Oh himmlische Gerechtigkeit: Ein gelockter, feingliedriger Knabe, die Hand anmutig in die Hüfte gestützt, halb Verocchios, halb Donatellos berühmter David im Florentiner Bargello, auch er ein schöner Engel, mit großen, großen Schwingen, ein männlicher Todesengel comme il faut. Gott sei Dank, es war für alle gesorgt!