Mit Karat
"Opa bringt Gebiss ins Pfandhaus. Für meinen Enkel tu ich alles." Es sind solche Behauptungen des Boulevardjournalismus, welche die Pfandleiher ärgern. Denn sie nehmen keine Gebisse, auch nicht mit Goldzähnen. "Wir sind so etwas wie das letzte Schwanzende der Banken", sagt die junge Frau im Leihhaus. Was sie als Pfand annimmt, das sind Schmuck, Uhren, seltener kostbares Porzellan und silberne Bestecke.
Arme Leute sind es also nicht, die ins Leihhaus gehen, sondern arm gewordene. Goldenes geht nach Gewicht, inklusive "Farbstein" – nur Diamanten werden extra taxiert. Die Anrüchigkeit des Pfandhauses, erklärt der Chef des Unternehmens, rühre daher, dass die Pfandleiher früher mitunter auch Hehler waren. Heute muss man den Personalausweis vorlegen und eine Eigentumsbestätigung unterschreiben.
An der Wand des Wartezimmers, denn manchmal – vor Weihnachten – gibt es Andrang, hängen die "Allgemeinen Geschäftsbedingungen". Da steht etwa: "Soweit der Pfandleiher wegen der Rechte eines Dritten kein Pfandrecht erwirbt, hat der Verpfänder dem Pfandleiher als Schadensersatz das Darlehen, die im Pfandschein vermerkten Zinsen sowie die bis zum Tage der Herausgabe des Pfandes an den berechtigten Dritten bei Gültigkeit des Pfandkreditvertrages zu berechnende Unkostenvergütung zu zahlen." Alles klar?
Wie viele Pfandhäuser gibt es in Little Big City? Es gibt fünf, allerdings nicht zu vergleichen mit den riesigen Institutionen des Dorotheums in Wien und den Sälen des Hôtel Drouot in Paris. Ein Pfandhaus rentiere sich erst in Städten ab 500 000 Einwohnern, sagt der Chef. Das Pfandhaus ist demnach nicht ein metropolentypisches, aber doch ein großstädtisches Phänomen.
Mercier lobte 1781 das erste, im Jahre 1777 eröffnete Pariser Pfandhaus ganz überschwänglich: "Die Verwaltung versetzte durch diese weise und so lange Zeit herbei gesehnte Einrichtung dem barbarischen und gierigen Wüten der alles verschlingenden Wucherer, die immer erpicht darauf waren, den Elenden auch noch die Haut von den Knochen zu ziehen, einen tödlichen Schlag."
Gilt das auch heute noch? Ohne Zweifel. An das Leihhaus wenden sich Menschen, die in Not geraten sind. "Ungefähr einmal wöchentlich haben wir einen Kleinunternehmer, der den Schmuck seiner Frau versetzt, um eine Steuernachzahlung zu leisten", sagt die Pfandleiherin.
Gäbe es das Leihhaus nicht, das feste Gebühren hat, fiele der, welcher keinen Bankkredit mehr bekommt, in die Hände der Wucherer, die es natürlich auch heute überall gibt in der Großstadt. "Aber es kommen auch Leute, die sich mal was leisten wollen und den Kredit dann abstottern." Und es gebe Stammkunden. Das Pfandhaus werde von Leuten, die in Urlaub fahren, auch als Schließfach benutzt. Denn hier gibt es nicht nur eine dicke Stahltür, sondern auch Tresore. Und der Schalter ist aus schusssicherem Glas, weil es ja sein könnte, dass mal einer durchdreht. Denn es ist hier natürlich viel Bargeld im Haus.
Wenn der Pfandschein abgelaufen ist, wird man benachrichtigt, und wenn man seinen Schmuck nicht wieder abholt, wird er zu festen Terminen versteigert – im Saal des Hotel Kolping. Samstag früh, kurz nach acht, wenn in Little Big City nach einer langen Sommernacht noch keiner auf der Straße ist, sind die provisorischen Schmuckvitrinen schon dicht umlagert.
Mit Lupen ausgerüstete Damen beäugen die mit Nummernzettelchen versehenen Exponate und notieren sich Basispreis, Karat und Gewicht auf einem Formular. Man kennt einander, die Atmosphäre ist familiär. Aber es sind nicht nur Händlerinnen da, sondern auch üppig in Gold gefasste Schnappiers.
Profit, sagt der Chef, macht der Pfandleiher bei der Versteigerung nicht, der Übererlös muss ans Sozialamt abgeführt werden. Wer hätte das gedacht! Der öffentlich vereidigte Auktionator – ein selbstständiger Beruf – ist aufs Podium gestiegen und rattert die Daten des jeweiligen Exponats herunter, während die Stücke auf einem Samtbrettchen herumgetragen und ein letztes Mal befingert werden. Die kleinsten Sachen werden in Stufen von einem Euro ausgeboten. Wer den Zuschlag hat, zückt die Börse, zahlt ohne Umstände und steckt das Stück in die Handtasche.
Frankfurter Rundschau v. 27.08.2003, S. 12