Boten
Die Männer mit den schönsten Beinen sind die Fahrradkuriere. An ihren epilierten, braunen, eingeölten Waden bleibt so mancher Blick hängen. Die über den Lenker geduckten Jungens fahren schnell, gewandt und – mit Ausnahmen – gegen alle Verkehrsregeln. Sie erspähen jede Lücke und flitzen durch. Sie haben ein extradickes Händy umgeschnallt, aus dem die neuen Aufträge quäken, und auf dem Rücken den flachen Dokumentensack. Keiner kommt in der Stadt schneller vorwärts als ein Fahrradbote. In der Stadt? In der Großstadt! Denn nur dort gibt es das Phänomen rasender Radler in hautengen Renntrikots, die sich zum Verschnaufen hin und wieder auf dem Goetheplatz am Pomodoro-Brunnen treffen.
Wir befinden uns in Little Big City, der schnellsten Großstadt der Republik. Zwar sind alle Notare, Bänker, Broker, Immobilienhändler miteinander elektronisch vernetzt, aber zur schnellen Unterschrift eines Vertrags braucht es ein schnelles Vehikel. Oder auch zur schnellen Besorgung eines Blumenstraußes für den gerade noch rechtzeitig erinnerten Geburtstag einer VIP. Botenschnelldienste entstehen nicht nur dort, wo "time is money" die oberste Maxime der ökonomischen Leitkultur ist, sondern auch wegen der notwendigen Transportzuverlässigkeit.
Postboten kommen und gehen, die Fluktuation ist groß. Hat man nicht von überforderten Postboten gelesen, die ihre Briefe in den Müll geworfen haben? Und dass Briefe innerhalb der Stadt auch mal eine Woche brauchen, hat jeder schon erfahren. Beschwerde? Deren Bearbeitung dauert noch länger. Das alles aber kann nicht passieren, wenn man weiß, dass die Unterlagen am 10.6. um zehnuhrdreißig vom schnellen Rudi transportiert worden sind.
Der schnelle Rudi hat Vorläufer. Bei Mercier (1781) liest man über die "kleine Post", einen Botendienst innerhalb von Paris, den ein gewisser Chamousset 1760 eingerichtet hat: "Man schreibt nur in Geschäftsangelegenheiten oder für die Zerstreuungen, es wäre nämlich höchst unbedacht, über anderes zu schreiben, denn das Ganze liegt in der Hand der Polizei." Es war die Zeit der französischen Aufklärung. Neue und umstürzlerische Gedanken lagen in der Luft.
Im Kirchenstaat ging das anders: "In Italien beförderten früher die Geflügelhändler Liebesbriefe zu den Frauen; sie schoben den Brief dem fettesten Huhn unter den Flügel, und die zuvor in Kenntnis gesetzte Dame säumte nicht, es zu kaufen." Daher heißen die Liebesbriefe "Hühnchen". "Die Pariser Straßenboten holen und bringen sie ohne Unterlass."
Hühnchen werden in Little Big City von den Fahrradkurieren vermutlich nicht befördert, dazu hat man das Händy. Von Stadtboten handeln auch die Tagebucheintragungen des größten Sohnes unserer Stadt aus dem Jahre 1787: Als er sich während seiner Italienischen Reise in Messina aufhielt, machte er klugerweise auch dem Gouverneur seine Aufwartung, versäumte es aber, dessen Einladung zum Essen zu folgen. Der gekränkte Despot ließ den Fremden in ganz Messina durch einen "Laufer" suchen. So hießen die schnellen Boten, die allerdings Bedienstete hochgestellter Persönlichkeiten waren. "Ich ward vom Laufer in einen großen Speisesaal geführt, wo etwa vierzig Personen, ohne dass man einen Laut vernommen hätte, an einer länglichrunden Tafel saßen. Der Platz zur Rechten des Gouverneurs war offen, wohin mich der Laufer geleitete", schrieb Goethe. Er zog sich aus der Klemme, indem er dem Gouverneur "mit der Wahrheit schmeichelte". Denn Goethe hatte bei seinem aufmerksamen Stadtrundgang doch etwas Lobenswertes entdeckt, das den Gouverneur erfreuen konnte.
Die Voraussetzung für die Notwendigkeit von Laufern war im Feudalismus nicht die Knappheit der Zeit, sondern die Etikette der Vornehmheit: Sie verbot, sich umstandslos höchst selbst auf die Beine zu machen. Und die Damen hatten zu Hause am Stickrahmen zu sitzen.
Wer wem wann die Ehre eines Besuchs erwies, war weniger eine praktische als eine Rangfrage. So schrieb man sich und schickte Botschaften hin und her, darunter viele Hühnchen.
Frankfurter Rundschau v. 12.06.2003, S. 14