Little Big City (8): Frankfurter Luft, Luft, Luft

Paar Nasen voll Alleenring

"Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft..." Die Berliner Luft wird sogar besungen! Manche behaupten, sie sei wie Champagner oder, sagen wir, wie Brandenburger Perlwein. Tatsächlich scheint die Luft in der Hauptstadt infolge der durchlüfteten breiten Straßen besser zu sein als hier.
Aber kann eine Stadt mit guter Luft überhaupt Groß- und Hauptstadt sein? In Tokio trägt man bisweilen einen Mund- und Nasenschutz nicht nur gegen die Bazillen in der U-Bahn, sondern auch gegen die Luft. Es gibt dort Bars, in denen man frische Luft aus Flaschen nasenweise schlürfen kann. In Budapest kann man nur auf dem nächsten Berg durchatmen – und der ist weit.
Und in Mexico City soll man überhaupt nicht mehr atmen können.
Little Big City? Einmal ein paar Nasen voll Alleenring zwischen 8 und 10, das reicht als Beweis dafür, dass Little Big City eine Großstadt ist. Doch vom Taunus oder von irgendwo daneben weht manchmal ein scharfes Windchen an der Alten Oper vorbei den Reuterweg herunter, der eine der so genannten Luftschneisen ist, die nicht verbaut werden dürfen. Westwind kommt über Höchst und bringt hin und wieder einen chemischen Geruch fast bis zur Hauptwache. Dazu der Duft der Autobahn, an Sommerabenden gemischt mit dem gemütlichen Würstchengeruch der Grillpartys in den Schrebergärten. Und von oben das Kerosin.
Die Schulkinder, die auf Grün warten, atmen an den Verkehrsampeln die Autoabgase ein, die Kindernasen eher und konzentrierter erreichen als die Nasen der Erwachsenen. Furchtbar.
Ja, früher – in der guten alten Zeit – ist doch alles besser gewesen. Doch hören wir zum Thema "früher" den hier schon mehrfach zitierten Louis-Sébastian Mercier in seinem Tableau de Paris aus dem Jahr 1781: "Der ewige Rauch, der aus den unzähligen Schornsteinen aufsteigt, entzieht die Spitzen der Kirchtürme den Blicken; man sieht, wie sich über diesen vielen Häusern eine Wolke bildet und die Ausdünstung der Stadt gewissermaßen sichtbar wird." Der Autor spricht von der "Schwere der Luft" und hat ihr ein eigenes Kapitel gewidmet. Hier kritisiert er, dass "enge und schlecht angelegte Straßen die freie Luftzirkulation zum Stocken bringen". Das Umland der Hauptstadt sei auf eine halbe Meile von Fäkalsammelgruben bedeckt, schreibt Mercier. "Die schönen Boulevards riechen danach." Da es damals noch üblich war, die Toten im Kirchgarten zu begraben, roch man den "Leichengeruch in fast allen Kirchen".
Schlimmer war es zuhause: "In den Häusern stinkt es. Jeder hat in seinem Haus einen Abtritt; von der Vielzahl von Fäkalgruben gehen abscheuliche Dünste aus. Die nächtliche Leerung verbreitet den scheußlichen Geruch im ganzen Viertel. Die Kloakenreiniger schütten auch, um sich die Mühe eines Transports vor die Stadt zu sparen, die Fäkalien im Morgengrauen in die Abflussgräben und Rinnsteine. Diese entsetzliche Brühe ergießt sich nun die Straßen entlang auf die Seine zu und verseucht das Ufer, wo die Wasserträger morgens mit ihren Eimern das Wasser schöpfen."
Der Baron Haussmann ließ bekanntlich unter Napoleon III große Teile der Innenstadt von Paris niederreißen. Die neuen Häuser an den Boulevards der Stadt besaßen dann nach Londoner Vorbild Wasserklosetts, und die Luft begann zu zirkulieren.
Übrigens: der berüchtigte Londoner Nebel, so dicht, dass man die Hand nicht vor Augen sah, entstand durch den Rauch aus den Schornsteinen, an dessen Partikeln die Feuchtigkeit haftete. Die Themse, schreibt Friedrich Engels, war schwarz von Kohlenstaub.
Erst wenn man zurückblickt, kann man die Errungenschaften, die wir heute als selbstverständlich betrachten – Kanalisation, Wasserklo, fließendes Wasser, Strom und so weiter – recht wertschätzen. Nichts ist selbstverständlich, alles musste erfunden und durchgesetzt werden.
So hat auch Little Big City seine Bürgerhelden: zum Beispiel den Sanitätsrat Georg Varrentrapp (1809-86), Arzt am Hospital zum Heiligen Geist, der im Jahre 1868 die Abhandlung Entwässerung der Städte. Über Werth oder Unwerth der Wasserklosette verfasst hat.
Dem "Luther der Hygiene" verdanken wir die Kanalisation.

Frankfurter Rundschau v. 18.02.2003, S.12