Ein Snob, wer in New York keine Hopper-Ausstellung sieht. Zumal das Whitney Museum gleich 60 Ölbilder hängen hat. Darunter auch das letzte, das Edward Hopper gemalt hat: „Sonne in einem leeren Zimmer“
Viele von Hoppers Werken sind so allgemein bekannt, daß sie wie „The Nighthawks“ zu einem Klischee geworden sind und als feste Bestandteile des Bewußtseins zur Verfügung stehen. Humphrey Bogart mit hochgeschlagenem Mantelkragen von links ins Bild treten zu lassen, na und?
Auf einem Poster ist die müde Blondine durch die lachende M.M. ersetzt und der Barkeeper durch Elvis Presley. Ein Snob, wer nicht trotzdem, wenn er in New York ist, die große (über 60 Ölbilder) und großzügig gehängte Hopper-Ausstellung im Whitney Museum besucht. (Man kann im Museum auch eine Hopper-Mütze kaufen.)
Die 57th Street, etwas unterhalb und parallel zur Südseite des Central Park, an dessen langer nordöstlicher Seite das Metropolitan Museum liegt und nicht weit davon das Whitney, ist lichtdurchflutet an diesem Septembermorgen. Schön liegt das Sonnenlicht auf den Menschenmassen, die – anders zwar als die meist statischen Figuren auf Hoppers Bildern, aber letztlich ebenso vereinzelt wie diese – nur so durcheinanderschießen.
Unter den merkwürdigeren Arten, sich in New York fortzubewegen: in doppelt langen, flachgestreckten, schwarzen oder weißen Lincoln-Limousinen, die wegen ihres extremen Radstandes das Aussehen von Riesendackeln haben, lassen sich hinter verdunkelten Fenstern VIPs vom Hotel in die City chauffieren, allemal überholt von In-line-Scatern, die sich auch mit Skistöcken elegant zwischen den Cabs bewegen. Junge Schwarze, martialisch mit schweren Eisenketten und Schlössern behängt, zischen auf Rennrädern durch die Verkehrsritzen. Ein Mädchen läßt sich hoch zu Brett von einem bewegungstollen Dalmatiner ziehen, dann einer, der einen Kinderroller mit einem boxhandschuhgroßen Hilfsmotor antreibt.
An den Ecken fleischige Cops, umgürtet mit schwarzem Schuß-, Schlag- und Schnappwerkzeug. Und in der Nähe des Central Parks: Sehnige Blondinen, die – Hanteln in der Faust, Knopf im Ohr – auf Männerbeinen zwischen den Büroangestellten hindurchjoggen, vorbei an schwarzen Obdachlosen, die auf Müllsäcken schlafen. Aufgewacht, sammeln sie Büchsen und schieben große, volle Säcke auf Einkaufswagen zur Abnahmestelle (fünf Cents pro Stück). Das alles im hellen Sonnenlicht.
Die Objektivität des Lichts, das – gerecht wie der Tod – allen Menschen und Sachen ihre schöne Körperlichkeit und Farbe verleiht, bildet mit der Isoliertheit der Individuen jenen Kontrast, auf dem wohl die magische Wirkung von Hoppers Bildern beruht. Man empfindet bei ihrem Anblick ein „gemischtes Gefühl“, sozial und ästhetisch zugleich. Auf manchen Gemälden nehmen die Einsamen das Sonnenlicht entgegen wie eine Offenbarung: Das Licht ist als natürliche Bedingung aller Lebendigkeit und Naturschönheit und als Bedingung der Möglichkeit von Malerei der Inbegriff des Guten, soziale Isoliertheit dagegen die schlechte Wirkung einer verkehrten Gesellschaft.
Keines von Hoppers Bildern ist derart reduziert wie „Sonne in einem leeren Zimmer“. Es ist das letzte Werk des Malers (1963), und es erscheint wie ein Kondensat anderer Arbeiten, die im Whitney zu sehen sind. Der isolierte Mensch, in dem die hauptsächlich älteren Besucherinnen sich wiederzuerkennen scheinen, die ein handy- ähnliches Kunstvermittlungsinstrument ans Ohr drücken, ist verschwunden. In der letzten Konsequenz aller Einsamkeit ist nur das Licht geblieben. Von rechts scheint es durch das geöffnete Fenster, das einen Ausschnitt grüner Baumkronen erkennen läßt.
In Hoppers Werk spielt der Gegensatz von drinnen und draußen in verschiedener Weise eine große Rolle. Ein Mann blickt aus einem Fenster, oder eine Frau tritt aus der Tür ins Freie, oder der Bildbetrachter blickt durch ein Fenster in ein Zimmer, in dem eine Frau hantiert. Oft blicken Hoppers Menschen erwartungsvoll ins Licht, so, als fühlten sie sich zugleich hier und woanders, eine romantische Sehnsucht und ein trauriges Unvermögen.
Sehr beunruhigend ist an Hoppers letztem Bild, daß das Sonnenlicht in seiner göttlichen Gleichgültigkeit außer den Wänden nichts erwärmt. „Ich glaube, das Menschliche ist mir fremd. Ich wollte nicht einfach Leute in ihren Grimassen und Gesten malen; was ich wirklich malen wollte, war das Licht“, zitiert James Mellow den Maler in seinem Hopper-Buch „Painter of the City“. Vermutlich weil auf dem Gemälde kein Mensch zu sehen ist, findet es beim New Yorker Publikum an diesem Donnerstag das allergeringste Interesse.
„Edward Hopper and the American Imagination“. Whitney Museum, New York, 945 Madison Avenue, bis zum 15. Oktober 1995