Späte Bemerkungen zu einem künstlerischen Konzept

Die vielen großen, internationalen Museumsausstellungen, die 1919 das Werk der deutschen Konzeptkünstlerin Charlotte Posenenske (1930–1985 ) einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen werden, veranlassen mich als ihren Nachlassverwalter einige besonders wichtige Aspekte ihres anspruchsvollen künstlerischen Konzepts näher zu beleuchten, Aspekte, die bisher nicht oder nur ungenügend behandelt worden sind.
Dass die Installationen der Vierkantrohre, die als wichtigste Werkgruppe gelten, fortsetzbar und veränderbar sein sollen, ist immer wieder bemerkt worden. Aber warum? Warum soll ein Gebilde, dass mit dem Anspruch auftritt, Kunst zu sein, nur den Status eines Provisoriums haben dürfen? Besteht nicht der herkömmliche Kunstbegriff gerade darin, dem Kunstwerk Vollkommenheit zuzusprechen, das perfekt und damit ganz wörtlich „fertig“ ist, sodass jede Zutat oder Reduktion, also jede Änderung das Kunstwerk empfindlich stören würde?
Posenenskes Konzept, vorgestellt in ihrem in Art International May 1968 veröffentlichten Text, dem so genannten Manifest, war mit der postulierten Variabilität und Fortsetzbarkeit ihrer Installationen genau gegen diese traditionelle Auffassung des Kunstwerks als einem perfekten Ganzen gerichtet. Aber warum?
Im Jahr 1967, in dem die Serien D und DW (das System der Vierkantrohre aus 6 unterschiedlichen Stahlblechelementen und das System der Vierkantrohre aus 4 Elementen aus Well-pappe) entstanden, war der Schlüsselbegriff der von der Studentenrebellion und der Soziologie angetriebenen Kritik an den verknöcherten Verhältnissen der Gesellschaft das Wort „Veränderung“ – ein Leitbegriff ähnlich dem der „Differenz“ in der Diskussion um die Postmoderne . Alles sollte verändert werden, auch die Menschen. Die Verknöcherung, man kann sie als Handlungsfolgen verstehen, als verfestigtes Produkt aus Millionen ineinander verwobener, auf einander bezogener Einzelhandlungen, die wie eine Mauer jede aktuelle Aktion behindern. Produkte sind das Ende von Handlungen, sie sind fertig.
Fertig wie auch das perfekte Kunstwerk. Von Marx stammt der Satz: „Die Arbeit verschwindet im Produkt.“ Das ist einerseits eine Selbstverständlichkeit, aber andererseits auch ein Problem, da die Arbeit als eine dominante Äußerung unserer kreativen Lebendigkeit, als eine Form unseres Lebens, unsichtbar geworden ist. Wer also Veränderung fordert, setzt gegen das fest Gewordene, gegen das Statische, die Dynamik, die Kraft der sichtbaren Lebendigkeit. Die Veränderung kann sich ziellos, also anarchisch und sogar zerstörerisch vollziehen, oder aber zielgerichtet. Eine solche Veränderung beschreibt der Titel „The same, but different“, den ich drei Ausstellungen in der Galerie Konrad Fischer in Düsseldorf, in der Hanson Gallery in Southampton und in der Galerie Nelson Freeman in Paris vorangestellt habe. Er trifft, wie ich glaube, genau auf die Arbeit von Charlotte Posenenske zu: die 6 bzw. 4 unterschiedlichen Elemente der Vierkantrohre stehen für „the same“, da immer nur diese Teile verwendet werden, die höchst unterschiedlichen Installationen aus diesen Elementen stehen für „different.“
Erst spät habe ich bemerkt, dass die Künstlerin mit dieser Variation der Elemente nicht nur die industrielle Fertigung (alle Autos haben 4 Räder, aber wie verschieden sind sie sonst), sondern auch das Gestaltungsprinzip der Natur nachvollzieht: die Körper aller Menschen haben eine Nase, zwei Augen, zwei Ohren, zwei Arme, zwei Beine und zwei Füße (= the same), aber wie verschieden fallen die Körperteile aus (= different.)
Ich möchte hier nochmals betonen, dass die Fortsetzbarkeit jeder Installation bedeutet, dass sie als ein Fragment zu verstehen ist, das in Raum und Zeit unterschiedlich fortgesetzt werden kann. Die Fortsetzbarkeit ist eine Option, die praktisch – materialiter – nicht realisiert werden muss, aber in der Vorstellung. Das Konzept der Künstlerin steht damit Umberto Ecco nahe, dessen in Italien 1968 erschienenes Buch „Das offene Kunstwerk“ die Rezeptionstheorie begründet. Charlotte las das berühmte Buch erst viele Jahre später, als sie der Kunst längst den Rücken gekehrt hatte und Soziologie studierte. Sie war beeindruckt, dass sie in ihrer Kunst etwas vorweggenommen hatte, das erst später als Theorie formuliert worden ist. Während unseres gemeinsamen Soziologiestudiums lasen wir Wolfgang Isers „Der implizite Leser“ und benutzten in unseren Arbeiten dann den dort entwickelten Begriff der „Leerstelle“, die der Leser beim Lesen durch seine eigenen Vorstellungen ausfüllt. Isers Begriff gehört zur Entwicklung der „Rezeptionstheorie“, die bekanntlich dem Betrachter die Kompetenz zubilligt, einem Kunstwerk die Bedeutung zuzuweisen. Das Kunstwerk ist also in diesem Sinne „offen“ (Ecco). Ich erwähne dies, um meine Behauptung zu bekräftigen, die Installationen der Vierkantrohre seien als Fragmente zu verstehen, die – wie in der Literatur eine Leerstelle – durch Vorstellung zu vervollständigen ist.
Wellpappe hat die Künstlerin für die Serie DW der Vierkantrohre nicht nur verwendet, weil das Material billig zu produzieren und zu transportieren ist, sondern auch, weil es die Möglichkeiten der Performance eröffnet. Denn nur wenige Personen können ganze Installationen herumtragen.
In ihrem Manifest hat die Künstlerin erklärt, dass sie ihre Kompetenz, die Zusammensetzung und Positionierung einer Installation zu bestimmen, anderen überlässt. Damit gibt sie einen großen Teil ihr Autorenschaft an andere ab. Dieses Konzept der Partizipation geht über alle damaligen Beteiligungskonzepte hinaus, insofern sie den Kuratoren, den Sammlern oder dem Publikum gänzlich freie Hand lässt, aber auch die ganze Verantwortung für das Resultat aufbürdet. Wichtig scheint mir hier, dass ein Teil der im Produkt verschwundenen Arbeit in der Performance sichtbar wird. Zwar sieht man nicht die kreative Arbeit der Künstlerin (den Entwurf des Konzepts), zwar sieht man nicht die Fabrikarbeit zur Herstellung der Elemente, aber man sieht die kooperative Arbeit der Leute, die die Installation nach ihrem eigenen Kunstgeschmack zusammenbauen. Versteht man diese Arbeit als eine praktische Interpretation des Konzepts – ähnlich der Arbeit eines Regisseurs-, dann fallen hier Interpretation und Produktion zusammen.
Schließlich möchte ich noch auf die immer wieder geäußerte Ansicht zu sprechen kommen, Posenenskes Kunst sei politische Kunst. Die Künstlerin hatte die Kunst 1968 aufgegeben, weil sie glaubte, Kunst zu machen sei in der auf gesellschaftliche Veränderung gerichteten Bewegung fehl am Platz, weil wirkungslos. Im Unterschied zu anderen Künstlern, die in jener rebellischen Zeit ausdrücklich politische Kunst veranstalteten, lehnte Posenenske diese Instrumentalisierung ihrer Kunst für kunstexterne Ziele ab. Um nicht politische Kunst zu machen, gab sie am Anfang einer vielversprechenden Karriere die Kunst ganz auf und studierte zusammen mit mir Soziologie, um sich das Rüstzeug zu verschaffen, das ihr geeigneter schien, die Veränderung der Gesellschaft wirksam zu unterstützen.
Politisch ist ihre Kunst allerdings in einem breiteren Sinn: Sie demonstrierte Veränderung und lud andere dazu ein, daran selbstbestimmt teilzuhaben. Die Dimension der permanenten Veränderung und die Dimension der Partizipation gehören in Posenenskes Kunstkonzept zusammen.
Als Nachlassverwalter und Lebensgefährte der früh verstorbenen Künstlerin möchte ich nach etwa hundert Ausstellungen, die ich persönlich oder per Installationskonzept kuratiert habe und nach der Veröffentlichung zahlreicher Texte zu ihrer Arbeit den Personen meinen Dank aussprechen, die wesentlich dazu beigetragen haben, dass die Künstlerin nach ihrem Tode eine geradezu atemraubende Karriere machen konnte.
Ihr alter Freund Paul Maenz hat sie 1986 als erster in seiner renommierten Kölner Galerie wieder ausgestellt, sozusagen in der Beletage. Renate Wiehager, Direktorin der berühmten Daimler Collection hat dann die ersten Ankäufe gemacht und die Arbeiten in ihren Ausstellungen von Tokio bis Sao Paulo um die Welt geschickt. Die Kuratorin Ruth Noack, hat Charlottes Werke 2007 in der Documenta 12 gezeigt, wo sie ein highlight bildeten, das in den Medien starke Aufmerksamkeit erregte. Der Durchbruch war derart überzeugend, dass Jessica Morgan, damals noch Chefkuratorin an der Londoner Tate Modern, heute Chefin der DIA Foundation in Beacon, die Charlotte in diesem Jahr eine große Wanderausstellung ausrichtet, die meisten der auf der documenta gezeigten Werke für die Tate ankaufte. Diesen vier ebenso kompetenten wie einflussreichen Menschen bin ich zutiefst dankbar. Ich widme ihnen den vorstehenden Text.