Charlotte

Markus Pilgram: Charlotte Posenenske hatte bei Willi Baumeister studiert und war kurzzeitig als Bühnenbildnerin am damaligen Landestheater in Darmstadt beschäftigt. Nach ihrer Heirat mit dem Architekten Paul Posenenske widmete sie sich der Kunst und fand schnell einen Weg in eine geometrisierende Malerei. Aus dieser entwickelte sie über die sog. Spachtelbilder (1956-65) ein Interesse für die Räumlichkeit ihrer Arbeiten, die sie dann in den folgenden Jahren aus dem Bild über das Relief bis hin zur Skulptur entwickeln sollte. Ihre wichtigsten Arbeiten entstanden 1967/68, im letzten Jahr ihrer künstlerischen Tätigkeit mit den Serien, vor allem den Serien D und DW (Vierkantrohre Serie D und Vierkantrohre Serie DW, 1967) die in ihrer Radikalität den Arbeiten der heute so bekannten Künstler der 60er Jahre in Nichts nachstanden. Als Charlotte dann beschloss, die Kunst auf- zugeben, geriet ihre Kunst lange Zeit in Vergessenheit. Wie würden Sie die Aktualität von Charlotte Posenenskes Kunst heute beurteilen?

Burkhard Brunn: Aktuell ist Charlotte Posenenskes Kunst aus drei Gründen – ich erlaube mir, sie Charlotte zu nennen, da wir verheiratet waren:

a) Es geht in ihrer Kunst um Freiheit. Wir leben heute im Jahre 2020 in einer Ausnahmesituation: Zur Bekämpfung des Coronavirus werden Grundrechte unserer Demokratie suspendiert. Freizügigkeit und Versammlungsfreiheit sind bereits ausgehebelt. Wir befinden uns auf dem Wege zu einer Technokratie, deren Anweisungen als „alternativlos“ dargestellt werden.

b) In den letzten Jahren hat sich die Kunst stark politisiert. Auf den Biennalen in Venedig und der documenta dominierte die politische Kunst. Charlottes Kunst wird immer wieder als politisch verstanden – ein Missverständnis.

c) Charlottes Kunst, habe ich gelesen, habe auf jüngere Künstler großen Einfluss. Da heute in der Kunst alles möglich ist, gibt die Klarheit ihres Konzepts jungen Künstlern möglicherweise eine Orientierungshilfe.

Zu a)
 Charlottes künstlerische Karriere vollzog sich in zwei Phasen: Von 1956- 1965 arbeitete sie als Malerin. Ihre Arbeiten sind an die in den 50er Jahren vorherrschende Richtung des „informell“ angelehnt*, eine gestische Malerei mit dem Anspruch auf Autonomie: Auf der Leinwand schuf der Künstler nach Maßgabe seiner psychischen/emotionalen Befindlichkeit ungegenständliche Gegenwelten. Nach der Unterdrückung der Kunst im Faschismus arbeitete der Künstler in der Nachkriegszeit als einzigartiges, schöpferisches Subjekt in scheinbar grenzenloser, d.h. absoluter Freiheit.
Der französische Tachist Georges Mathieu ironisierte schließlich diese subjektivistische Malerei, indem er wie Don Quichotte zu Pferde auf eine Riesenleinwand zuritt und sie mit der eingelegten Lanze (einem Riesenpinsel) in großer Geschwindigkeit bemalte.

* angelehnt: die schnellen, gestischen Spachtelzüge muten oft kristallin an, d.h. prägeometrisch.

1965 gab Charlotte die Malerei auf. Sie hatte Zweifel an der Originalität der Subjektivität und glaubte sich eher durch gesellschaftliche Einflüsse geprägt. Diese Schaffenskrise empfand sie als Bruch. Von der Malerei gelangte sie über das Relief zur Konstruktion von stereometrischen Objekten. Enttäuscht von der nach ihrer Ansicht überbewerteten Subjektivität arbeitete sie sich auf die andere Seite, die Seite der Objektivität. Die zweite Phase beginnt 1966 und endet schon 1968. Vorbild war ihr der russische Konstruktivist El Lissitzky. Dieser hoffte, über die Geometrie die Kunst an Technik und Architektur anzuschließen. Am bekanntesten wurden Charlottes sogenannte Vierkantrohre, deren Installationen posthum in Galerien, Museen und öffentlichen Orten drinnen und draußen hundertfach ausgestellt worden sind. Es handelt sich um ein System von 6 bzw. 4 verschiedenen stereometrischen Elementen, die zu den unterschiedlichsten Figurationen kombiniert werden können. Das Konzept lässt sich auf den Begriff bringen: dasselbe anders. Hier ist die Freiheit nicht mehr absolut, also scheinbar grenzenlos, sondern an die Vorgabe der Elemente gebunden: sie und nur sie (=dasselbe) können zu den nach Anzahl, Ausdehnung und Form sehr unterschiedlichen Installationen (=anders) zusammengeschraubt werden. Charlotte hatte erkannt, dass Freiheit immer nur zu bestimmten Vorbedingungen möglich ist. (Die Vorbedingungen sind bei dieser Werkgruppe die Elemente) – im Unterschied zum naiven Freiheitsverständnis der so genannten Aussteiger, die glaubten, dem verhassten kapitalistischen Unterdrückungssystem entkommen zu können, indem sie in Indien lebten. Freiheit ist also relativ.

Zu b) 
Ich habe immer wieder Ausstellungsanfragen ablehnen müssen, die Charlottes Kunst als politisch vereinnahmen wollten. Charlotte war aufgrund ihrer Biografie als Verfolgte des Naziregimes lange vor der Studentenrebellion der 60er Jahre politisiert. Sie war allerdings der Auffassung, dass Kunst niemals in den Dienst genommen werden dürfe von irgendetwas außerhalb der Kunst. Kunst hat nach ihrer und auch meiner Auffassung keine gesellschaftliche Aufgabe: wohin eine in Dienst genommene Kunst führt, kann man an der Nazikunst und der Kunst der DDR sehen. Kunst ist frei. Sie zeigt, wenn sie avanciert ist, d.h. nicht- dekorativ, den Menschen das Andere, das, was diese selbst sich nicht vorstellen können. Charlotte hat 1968 die Kunst aufgegeben, weil sie in den rebellischen 60er Jahren, als wir schon einmal gegen die staatliche Bedrohung der Demokratie demonstriert haben, politisch arbeiten wollte. Die Kunst hielt sie für nicht geeignet, um politisch zu wirken, und sie studierte darum mit mir zusammen Soziologie, um sich zur Analyse und Veränderung gesellschaftlicher Zusammenhänge das notwendige Rüstzeug zu beschaffen.

Ich habe vor kurzem in meiner Homepage dargelegt, dass es sich bei der angeblich politischen Dimension ihrer Kunst nur um deren Zugänglichkeit handelt, die man als eine Demokratisierung bezeichnen kann. Zugänglichkeit suchte Charlotte herzustellen durch die geometrischen Formen, durch die Einbeziehung anderer plus Rückzug des Autors (das Konzept der Partizipation war 1967 ganz neu) und den Transitcharakter ihrer Objekte: Man kann ihre Objekte betreten, durch-schreiten und sich in ihnen aufhalten. Das war 1967 ebenfalls neu. Zugänglich ist ihre Kunst schließlich auch durch den programmatisch niedrig gehaltenen Verkaufspreis. Im Gegensatz zu der Auffassung vieler, die damals alles für politisch hielten, sogar den Sex, verstanden wir unter „politisch“ eine Strategie, die mit Argumenten auf andere so einwirken kann, dass sie vernünftig handeln, eine rational begründete Handlungsanweisung also. Da aber gute Kunst stets mehrdeutig ist, kann sie nicht argumentieren. Eine visuelle Überwältigung lehnte Charlotte ab.

Zu c)
 Trotz der Sprödigkeit hat Charlottes Kunst einen Umfang an Dimensionen, der von der Reduktion bis zum Trompe-l’œil reicht. Das mag daher rühren, dass um das Jahr 1967, als sie die meisten ihrer Objekte schuf, die Postmoderne gegen die Moderne antrat. Ende der 60er Jahre befanden wir uns auf der Grenze zwischen zwei kulturellen Epochen. Wichtige Merkmale der Moderne in Industrie und Kunst sind Serialität und Standardisierung, das Hauptmerkmal der Postmoderne ist Vielfalt alias Differenz. Diese Aspekte der beiden Epochen vereinigt Charlotte in ihrem Kunstkonzept. Angesichts der ungeheuren Vielfalt an Möglichkeiten entwickelte sich in der postmodernen Kunst die viel kritisierte Beliebigkeit, die in krassem Gegensatz zur modernen Kunst steht, die als starr und ideologielastig empfunden wurde. Die Attraktion von Charlottes Kunst mag darin liegen, dass es ihr gelang, die widersprüchlichen Strömungen glücklich zu vereinigen (etwa indem sie Geometrie und Performance, Standardisierung und Veränderbarkeit zusammenbrachte).

M.P.: Inwiefern ist es geboten, Charlotte Posenenskes Kunst auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biografie zu sehen? Inwiefern spielt die spezielle Situation in Frankfurt eine Rolle, mit einerseits der Frankfurter Schule und den kulturkritischen Ansätzen der Sozialphilosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, und andererseits der Auseinandersetzung mit den Verbrechen in der Nazizeit, d.h. mit den Auschwitz-Prozessen, die sie ja vielleicht auch persönlich interessierten?

B.B.: Charlotte wurde als sogenannter Mischling von der Schule verwiesen und musste sich, um nicht deportiert zu werden, in einem Keller verstecken. Nach der biologistischen Auffassung der Nazis galt sie als Halbjüdin. Charlotte verachtete diese Auffassung, nach der die Zugehörigkeit zum Judentum blutmäßig in Voll-, Halb-, Viertel-, Achteljuden quantifiziert wurde. In ihrer Familie wurden keine jüdischen Bräuche praktiziert. Charlotte war evangelisch getauft. In ihrer Kunst gibt es nichts, was man als „jüdisches Motiv“ verstehen könnte. Ich habe darum später das Angebot eines renommierten Museums, sie als jüdische Künstlerin auszustellen, abgelehnt. Ein biografisches Motiv für ihre Kunst ist sicherlich die Unterdrückung ihrer Freiheit gewesen. Der Schulverweis war für sie traumatisch. Sie musste erfahren, dass sie nicht mehr dazugehören durfte.
Charlotte hat Adorno persönlich kennengelernt, allerdings nicht als Studentin. Sie chauffierte den Philosophen und seinen Freund, den Frankfurter Architekten Ferdinand Kramer, der mit ihrem damaligen Ehemann, dem Architekten Paul Posenenske befreundet war, im Frühling in die Umgebung von Frankfurt, wo die Herren die Primeurs kosteten: die ersten Spargel und die ersten Erdbeeren. Charlotte erzählte mir, sie habe hauptsächlich respektvoll zugehört. Sie kannte Adornos Schriften und schätzte besonders dessen Ansicht, dass Kunst den Menschen das Andere zeige. Die Schriften der Frankfurter Schule haben Charlotte in ihrer kommerzkritischen Haltung bestärkt.

M.P.: Charlotte Posenenskes künstlerisches Schaffen dauerte, vom Beginn ihrer Studien 1951 bis 1968 etwa siebzehn Jahre. Richtig Fahrt nahm ihr künstlerisches Schaffen und auch ihre „Karriere“ jedoch erst während der letzten zwei Jahre auf, von Mitte 1966 mit ihrer ersten Einzelausstellung in der Galerie von Dorothea Loehr und zahlreichen darauf folgenden weiteren Ausstellungsbeteiligungen bis etwa Mitte 1968 mit der Veröffentlichung ihres bereits im Februar 1968 formulierten Manifests und dem darauf folgenden Entschluss, die Kunst zugunsten eines Soziologiestudiums aufzugeben. Der letzte Satz in ihrem Manifest lautet: „Es ist schmerzhaft für mich, die Tatsache anzuerkennen, dass die Kunst nichts zur Lösung drängender sozialer Probleme beizutragen hat.“ Könnte man sagen, sie sei an einem persönlichen künstlerischen Erfolg nur wenig interessiert gewesen?
Was genau führte letztendlich zu dieser Enttäuschung?

B.B.: Charlotte hatte ihr künstlerisches Konzept in dem sogenannten Manifest kurz und bündig formuliert. Besonders der letzte Satz, dass nämlich „Kunst nichts zur Lösung drängender sozialer Probleme beizutragen hat,“ wird oft zitiert. Dass Kunst auf den Alltag einwirken kann, hat sie natürlich nie in Abrede gestellt. Solche Wirkungen sind jedoch langfristig. „Drängende“, also aktuelle Probleme kann Kunst allerdings nicht lösen. Darum glaubte sie, in der damaligen politischen Situation andere Mittel benutzen zu müssen, Strategien nämlich, die sich aus den Erkenntnissen der Soziologie herleiten lassen. Wir studierten – als einzige Soziologen in Frankfurt – Arbeitswissenschaften, die sich u.a. mit der post-tayloristischen Messung der Arbeitsintensität und der Arbeitsbewertung befassen. Charlottes Partizipationskonzept entspricht mehr oder weniger dem gewerkschaftlichen Konzept der betrieblichen Mitbestimmung, für das sie sich später als Soziologin interessierte.

Am Anfang einer steilen Karriere aufzugeben – Charlotte hatte sogleich in den wichtigen Avantgarde-Galerien art & project in Amsterdam, Konrad Fischer in Düsseldorf (zusammen mit Hanne Darboven), und René Block in Berlin ausgestellt, das war eine schwere Entscheidung und blieb eine offene Wunde. Wir haben seit 1968 die Kunst der Gegenwart völlig ignoriert und über Gegenwartskunst nur selten gesprochen. Allerdings haben wir alle wichtigen Museen Europas besucht, um dort die klassische und die moderne Kunst anzusehen.
Charlotte hat nie an ihrer künstlerischen Qualifikation gezweifelt. Niemals aber hat sie daran gedacht, dass ihre Objekte dereinst in vielen internationalen Museen stehen würden. Denn sie war der Auffassung, dass Kunst eine Ware wie jede andere sei, die nicht für die Ewigkeit produziert werden sollte. Sie wählte daher programmatisch povere Materialien, Blech und Wellpappe, die sonst als Verpackungsmaterial dient und nach einer gewissen Zeit verrottet. Sie wollte, dass ihre Kunst irgendwann verschwindet. Auch verkaufte sie ihre Arbeiten möglichst billig und signierte sie nicht. Die Käufer bezeichnete sie als „Konsumenten“. Sie glaubte, dass der Künstler ein aussterbender Beruf sei. Ihre Kunst sollte, wenn überhaupt, massenhaft und preiswert fabrikmäßig hergestellt werden. Alle sollten sie erwerben können. Darum gibt es keine Unikate, keine Originale, nur Reproduktionen. Ihre Arbeiten werden in Serien auch noch nach ihrem Tode produziert.

M.P.: Die 1960er Jahre waren eine Zeit, in der sich die Paradigmen der Kunst radikal veränderten und erweiterten. Kunst und Leben schienen sich vielerorts deutlicher zu berühren als zuvor. Individualismen verschwanden zugunsten gesellschaftlicher Fragestellungen. Der Betrachter wurde zum aktiven Teilnehmer, zunächst nur durch seinen Blick, schon bald aber auch durch aktive Partizipation. Joseph Beuys deklarierte jeden sozialen Formprozess zur Kunst, Franz Erhard Walther schuf Objekte, die erst in ihrer performativen Aktivierung „Kunst“ hervorriefen, und auch Charlotte Posenenske schuf z.B. mit ihren Drehflügeln Werke (Drehflügel Serie E, 1967), die vom Betrachter, den sie auch den „Konsumenten“ nannte, aktiviert werden konnten. Andere Künstler loteten mit ihren Grenzen das Ende der Kunst aus, manche gaben sie gar ganz auf, als radikalste Konsequenz ihrer Schlussfolgerungen, wie z.B. Michel Parmentier in Frankreich oder eben auch Charlotte Posenenske in Deutschland.

Wie sehen Sie Charlotte Posenenskes Kunst in diesem Kontext? Wie hat sie selbst sie gesehen?

B.B.: Charlottes Kunst ist gegen die Kommerzialisierung gerichtet. Riesengalerien, Messen und Kunstmärkte entstanden Ende der 60er und in den 70er Jahre. Mächtige Galerien drückten ihre Künstler in die documenta. Dagegen wandten sich junge Künstler und Studenten in wütenden Flugblättern, die auch Charlotte auf der documenta verteilte. Geschrieben hat sie sie nicht. Joseph Beuys respektierte Charlotte als einen großen Künstler, allerdings fand sie dessen Konzept, Kunst und Politik zu verschmelzen, wirklichkeitsfremd. Die radikalste Strategie gegen die zunehmende Kommerzialisierung der Kunst ist sicherlich, die Kunst ganz aufzugeben (Über Verweigerung wurde damals breit diskutiert.) Charlotte wählte diese Strategie nicht allein. Auch ihr Galerist Konrad Fischer hatte seine Karriere als Künstler Konrad Lueg aufgegeben. Das MUMOK in Wien hat den „Aussteigern“ 2004 eine eigene Ausstellung „Kurze Karrieren“ gewidmet. Witzig fand Charlotte Immendorfs Bild „Hört auf zu malen.“

M.P.: Charlotte stand in vieler Hinsicht an der Schnittstelle der Antagonisten des Kalten Krieges, also der USA und des Sozialismus. Nicht nur hatte sie auf die Fassade des kurzlebigen Ladens von Paul Maenz und Peter Roehr, den sie Pudding Explosion genannt hatten, ein Porträt von Karl Marx mit einer Flasche Coca-Cola gemalt, ihrer Verehrung und Dankbarkeit der Vereinigten Staaten als „Befreier“ während des Krieges standen ihre sozialistisch geprägten politischen Ansichten gegenüber. So kann man in ihren späten Werken deutliche Unterschiede sehen zum amerikanischen Minimalismus eines Donald Judd, bzw. eines Sol LeWitt, eher kann man sie in eine europäische Traditionslinie von De Stijl, Bauhaus und russischen Konstruktivisten stellen.

Wie sah Charlotte ihre Kunst und ihre Werke innerhalb dieser historischen Gemengelage des Kalten Krieges?

B.B.: Charlotte verband einerseits mit den USA die Vorstellung von Freiheit, die ja auch in ihrer Kunst eine große Rolle spielt, mit der UdSSR andererseits die Vorstellung von Gleichheit und Kooperation. Ihr Großvater, der im 19.Jh. das Segeltuch für die Planwagen der Siedler nach Amerika geliefert hatte, war amerikanischer Staatsbürger geworden. Die meisten Verwandten waren rechtzeitig vor der Machtergreifung der Nazis nach den USA emigriert. Charlotte erlebte die amerikanischen Soldaten als Befreier. Sie sprach immer von „Befreiung“ und verachtete den Ausdruck „Zusammenbruch.“ Der Geliebte ihrer Mutter, ein Anarchist, war als fahrender Handwerker bis nach Russland gekommen und erzählte Charlotte von der neuen Zukunft dort. Von dieser Seite stammt wohl ihre Vorliebe für die Kooperation, die für ihr Leben und ihre Kunst sehr wichtig war. Die Elemente ihrer Vierkantrohe sind auch darum so groß, damit sie kooperativ zusammengebaut werden müssen. Gleichheit besteht bei dieser Arbeit insofern, als Charlotte – im Unterschied etwa zu Franz Ehrhard Walther – ihre künstlerische Kompetenz bei dieser Kooperation abgegeben hat. Die Partizipanten bauen die Teile nach ihren eigenen Vorstellungen zusammen und sind für die sogenannte Werkvollendung selbst verantwortlich. Es besteht keine Hierarchie mehr.
Unser Leben haben Charlotte und ich so organisiert, dass wir alle Texte gemeinsam geschrieben haben, jeden Satz. Und auch den Haushalt, den Einkauf usw. besorgten wir gemeinsam.
Charlotte hatte Carl Andre und Sol LeWitt über die Galerie Konrad Fischer persönlich kennen gelernt. Obwohl sie deren Arbeiten 1966 auf einer Amerikareise schätzen gelernt hatte, stützt sich ihr konzeptueller Minimalismus auf die europäische Tradition des Konstruktivismus, des de Stijl und des Bauhauses. Besonders unterscheidet ihr Minimalismus sich von der amerikanischen Version durch den Bezug zur Bewegung. Diese spielt als Veränderung, Fortsetzung, Reduktion, Sequenz, Serialität eine Hauptrolle in ihrer Kunst. Auch die Integration der Partizipation und der Performance in ihr Konzept impliziert Bewegung. Demgegenüber ist der amerikanische Minimalismus (Judd, Sol LeWitt) eher statisch.

M.P.: Macht es Sinn, für eine Ausstellung der Kunst Charlotte Posenenskes Fragen nach ihrer Persönlichkeit zu stellen? Dienen Informationen über ihre Art und Weise, die Dinge zu sehen, dem Verständnis ihrer Kunst?
Oder wäre dies reine anekdotische Illustration? Welche Rolle spielte die Tatsache, dass sie als Frau in dieser so männlich dominierten Szene auftrat? Hat sie sich dazu jemals geäußert?

B.B.: Die Persönlichkeit eines Künstlers spielt zur Erklärung des Werks besonders beim Feuilleton eine Rolle, wo die Autoren meist den alten Produktionstheorien anhängen, nach denen die Bedeutung eines Kunstwerks unter Zuhilfenahme biografischer Umstände wie ein Stück Erz aus der Tiefe des Werks gefördert wird. Ihr Lehrer Baumeister habe, erzählte mir Charlotte, einmal zu ihr gesagt, er könne über die Bedeutung seines eigenen Bildes auch nicht mehr sagen als ein Interpret, der sich Mühe gibt. Damit hat Baumeister die semiotische Rezeptionstheorie avant la lettre formuliert. Nach der Rezeptionstheorie (Umberto Eco, Wolfgang Iser) ist es der Betrachter oder Leser, der in der semiotischen Dreiheit „Produzent – Produkt – Rezipient“ dem Produkt seine Bedeutung zuweist, wobei es sich natürlich nicht um eine willkürliche Meinung, sondern eine am Werk belegbare Ansicht handeln muss. Die Konsequenz dieser Aufwertung des Interpreten ist: ein Bild, das mit der Frontseite zur Wand steht, ist kein Kunstwerk, sondern ein Objekt, ein Manuskript in der Schublade bloß Papier.
Vom Künstler auf das Kunstwerk zu schließen, oder umgekehrt vom Kunstwerk auf den Künstler, ist immer problematisch. Manche denken, nur ein Künstler, der ein verantwortbares Leben führe, könne eine Kunst produzieren, die für die Gesellschaft einen Wert habe. Dann könnte man allerdings die Werke von Caravaggio, der dauernd in Händel verwickelt war, von Immendorf oder Kippenberger vergessen. Umgekehrt funktioniert die Zensur: Schimpft Polynesia, der uralte Papagei, der auf vielen Piratenschiffen gesegelt ist, in Hugh Loftings weltberühmten Kinderbuch Dr. Dolittle, über die Schwarzen als „Nigger“, wird auch der Autor als Rassist betrachtet. Das Argument: Auch der Autor muss, was seine Figuren sagen, gedacht haben. Tatsache ist, dass das Werk stets eine Objektivierung, eine Verselbständigung darstellt, was bedeutet, dass zwischen Autor und Werk eine Distanz besteht.
Soviel ist sicher: Freiheit spielte in der Biografie von Charlotte eine große Rolle und es ist gewiss kein Zufall, dass Freiheit auch eine dominante Dimension in ihrem Werk ist.
In Westdeutschland kam der Feminismus in der Zeit, als wir studiert haben, auf. Charlotte wurde von Studentinnen gefragt, ob sie sich nicht engagieren wollte. Sie antworte in der lapidaren Art, in der sie sich auszudrücken pflegte: „Ich bin ein Mensch.“ Sie fand es angesichts der sozialen Verhältnisse, die sich zur Technokratie entwickelten (Notstandsgesetze), weniger wichtig, ihre Rolle als Frau zu reflektieren. Allerdings registrierte sie die Sprüche der Männer genau. Doch wurde sie von den Männern
stets respektiert: Sie erwies sich meist als intelligenter, klüger und auf eine altmodische Weise damenhaft distanziert (sie konnte Unverschämte mit einem Blick auf den Mond schicken). Ihre posthume Karriere verdankt sie besonders dem Engagement von Frauen aus dem Kunstbetrieb, die mich, als Charlottes Nachlassverwalter sehr großherzig unterstützen.

M.P.: Wie hätte sie selbst wohl ihre eigene Arbeit retrospektiv gesehen? Hat sie es? Aus der Perspektive der Soziologin?

B.B.: Charlotte teilte ihr Leben in Projekte ein: Das Projekt „Theater“, das Projekt „Kunst“, das Projekt „Soziologiestudium“, das Projekt „Ehe mit B.B.“, und das nicht mehr realisierte Projekt „Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften.“ Wenn Sie als Soziologin über ihre Zeit als Künstlerin nachdachte, dann, da bin ich sicher, konnte sie einen Zusammenhang sehen, obwohl sie von einem Bruch sprach: Sie verfolgte dieselbe Idee der „Arbeit in Freiheit“ sowohl in ihrem Partizipationskonzept wie auch bei ihren Studien zur Mitbestimmung. In beiden Projekten war Arbeit ein zentraler Begriff. Sie hatte, überspitzt formuliert, beim Übergang von der Kunst zur Soziologie nur die Mittel gewechselt.