CHARLOTTE POSENENSKE
1930–1985
Vorwort
Nachdem ihr erster Ehemann, unter dessen Namen Charlotte als Künstlerin bekannt geworden ist, 2004 gestorben ist, gibt es niemanden mehr, der etwas Genaues über ihr Leben sagen könnte. Ihre jüdischen Verwandten waren schon vor der Nazizeit in die USA, nach England und nach Brasilien emigriert. Die, welche Charlotte persönlich gekannt hatten, sind längst tot. Ein lockerer Kontakt besteht nur noch zu einem inzwischen über 90-jährigen Cousin, der uns auf seinen Geschäftsreisen in die ehemalige Tschechoslowakei hin und wieder besucht hat. Es gibt noch einige Bekannte aus der Frankfurter Kunstszene der späten 1960er-Jahre, die sich an Charlotte erinnern werden, aber genauere Informationen, die über Eindrücke und Atmosphärisches hinausgehen, waren für eine Recherche nicht zu erwarten. Denn als Charlotte 1968 mit der Kunst brach, zog sie sich auch von der Kunstszene zurück. Sie löste alle Kontakte. Auf Anfragen antwortete sie nicht mehr. Sie verschwand in ein anderes Leben. Es blieb, nachdem Peter Roehr, ihr enger Künstlerfreund, im Jahre 1968 mit kaum 24 Jahren gestorben war, nur noch ein Freund aus alten Tagen: Paul Maenz, der uns mit den Bulletins seiner Ausstellungen versorgte, die Charlotte aufmerksam las. Es waren für sie die einzigen aktuellen Informationen aus der Welt der Kunst.
Über ihre Kindheit, Jugend und Familie sowie über die Zeit nach ihrem Bruch mit der Kunst kann nur ich berichten, der ich das Glück hatte, von 1968 bis zu ihrem frühen Tod mit ihr zusammenzuleben. Kurz bevor sie starb, haben wir geheiratet.
Ich möchte rechtzeitig weitergeben, was sie mir über sich erzählt hat – so gut ich es behalten habe. Bis auf wenige Ausnahmen – einiges habe ich selbst erlebt, einiges von Paul Maenz erfahren – ist Charlotte meine einzige Quelle. So wird mein Bericht in vieler Hinsicht lückenhaft und subjektiv sein. Ich erzähle spontan, so wie ich mich erinnere. Das bringt es mit sich, dass ich zwischen den Zeiten springe und nur im Groben chronologisch vorgehe. Alles, was ich zu sagen habe, suche ich auf Charlottes Arbeit zu beziehen. Ich schreibe weder eine Biografie noch erhebe ich Anspruch auf literarische Kunstfertigkeit. Ich teile nur das mit, was mir geeignet erscheint, um Charlotte als Künstlerin besser zu verstehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist unser gemeinsames Leben nach ihrem Bruch mit der Kunst nur insofern interessant, als sich Rückschlüsse auf ihre Arbeit ergeben. Charlottes Arbeiten sind inzwischen in einigen namhaften Museen und Sammlungen vertreten, [1] und im Jahre 2005 zu ihrem 20. Todestag ist in der Galerie des Innsbrucker Taxispalais – und anschließend im Museum für Gegenwartskunst in Siegen – eine breite Retrospektive gezeigt worden. Es existiert, wie ich weiß, unter den Jüngeren, die ihre Arbeit schätzen, das Bedürfnis, etwas mehr über das Leben der bedeutenden minimalistischen Konzept-Künstlerin zu erfahren, als das, was ich seinerzeit im Katalog des Museums für Moderne Kunst Frankfurt am Main über sie geschrieben habe. [2]
1 Wie ich Charlotte kennengelernt habe
Lottie Mayer war mir vom Hörensagen bekannt, bevor ich sie zum ersten Mal sah. Lottie war Schulsprecherin des Wiesbadener Lyzeums am Boseplatz gewesen, Lottie hatte zusammen mit ihrem Sozialkundelehrer Carter Kniffler eine Theatergruppe gegründet, Lottie hatte schon mit 14 Jahren am Theater Kulissen gemalt, Lottie hatte mit Mary Kitaj (verwandt mit dem gleichnamigen Künstler), einer amerikanischen Polit-Sergeantin, und Kniffler an Programmen zur politischen Erziehung und an der Verfassung der Schülerselbstverwaltung mitgearbeitet, Lotti hatte Reden gehalten, Lottie hier, Lottie da – und Lottie war schön. Sie hatte dichtes schwarzes Haar, einen vollen Mund und blitzende Augen. Und sie war groß. Auf Klassenfotos überragte sie alle anderen Mädchen. In Wiesbaden hieß sie, weil sie auf Versammlungen der Anarchisten ging, »die rote Lottie«. Meine Frau Grid und ihre Freundin Alice, die ein paar Klassen tiefer auf dieselbe Schule gingen, waren nicht die einzigen Mädchen, die sie anschwärmten.
Später, im Jahre 1966: »Da ist ja die Lottie!«, rief Grid und deutete auf die stattliche, kraushaarige Frau, die auf einer Ausstellung der Marielies Hess-Stiftung im Saal des Hessischen Rundfunks aufmerksam dem Kommentar eines Besuchers zuhörte – den Kopf ein wenig schräg haltend und ein wenig vornüber gebeugt und den Brillenbügel zwischen den Lippen. Es könnte Adam Seide gewesen sein, der eine originelle Zeitschrift namens »Egoist« herausgab, in der 1968 Charlottes Drehflügel-Objekt vorgestellt und 1970 ihre Ablehnung einer Ausstellungsbeteiligung abgedruckt werden sollte. Er hat für sie mehrere kauzige Einführungen gehalten. Im Funkhaus stellte sie 1966 ein Objekt aus, das aus vier rechteckigen, versetzt angeordneten Keksdosen bestand. Das gestufte Wandobjekt war rot, grün, blau und gelb gespritzt, und zwar so, dass die Farbe jeder Keksdose ein Stück weit auf die jeweils benachbarte übergriff. Die Farben konterkarierten die Plastizität des Objekts,3 ein Thema, das sich durch Charlottes gesamte Arbeit zieht. Grid stellte mich Charlotte vor. Charlotte, die meine Frau nicht kannte, war höflich und reserviert. Sie wirkte im Gegensatz zu Grid, die ihr eifrig erklärte, dass auch sie Künstlerin sei, wenig spontan und machte auf uns einen sehr distanzierten Eindruck, was in jener offenen Zeit altmodisch wirkte. Grid – selbst eine auffallende junge Frau – war glücklich, mir das Idol ihrer Mädchenjahre in persona vor Augen geführt zu haben, und ahnte nicht, dass ich sie wegen Charlotte bald verlassen würde. Es war die Zeit der wilden Partys. Wohlhabende Freiberufler, die auf der Höhe der Zeit waren, öffneten ihre Villen und ihre riesigen Altbauwohnungen allen möglichen Leuten. Die Haustüren standen einfach offen. Künstler, Philosophiestudenten, angehende Bombenbauer, Werbeleute, Rechtsanwälte und Kleinkriminelle saßen zusammen, schwadronierten über die Revolution und kifften. Es war schick, alles, was zuvor als privat oder intim gegolten hatte, öffentlich zu tun, und so ging man, ohne den Hausherrn überhaupt zu kennen, sogar in die Schlafzimmer, wo man Pärchen überraschte, die sich nicht genierten, das zu Ende zu bringen, was sie einmal angefangen hatten – während Andy Warhols Heliumkissen durch den Raum schwebten und Bekiffte auf durchsichtigen Plastiksesseln schliefen. Das war neu. Französische Käsesorten, deren Namen man nicht aussprechen konnte, italienische Schinken, Oliven, Wurst und riesige Weißbrote lagen auf einem Büffet zuhauf, große Töpfe alternativer Suppen und Wein in Strömen. Manche kamen bloß hereingeschneit, um mit einem großen Stück Käse und einer Flasche Rotwein sogleich wieder zu verschwinden. Unzugängliche Milieus öffneten sich, Exklusivität war verpönt und »elitär« ein Schimpfwort.
Als ich Charlotte zum zweiten Mal traf, war das im Hause eines bekannten Architekten. Es war schon früh morgens. Grid und die anderen wollten in die Sauna – damals noch eine ungewöhnliche Einrichtung in Deutschland. Doch Charlotte ging nicht mit anderen Leuten in die Sauna. Und ich auch nicht. In den 17 Jahren unseres Zusammenlebens haben wir das, was wir für privat oder für intim hielten, und das, was wir andere wissen lassen wollten, ganz bürgerlich auseinandergehalten. Für uns hatte der physische und psychische Exhibitionismus, der als zerstörerische Veröffentlichung der Privatsphäre in jenen Jahren grassierte, etwas Erzwungenes und Gewaltsames. Die pseudoindividualistische Wichtigtuerei fanden wir peinlich. Charlotte wenigstens hatte beschlossen, sich nicht mehr so wichtig zu nehmen. Die neue Solidarität war zunächst ein ungewohntes Miteinander, wo jeder jeden sofort duzte und damit eine Gleichheit unterstellte, die (noch) nicht bestand. Charlotte erzählte ungern von sich selbst, und sie siezte beharrlich alle, die darauf bestanden, mit ihr auf Du und Du zu stehen. Sie wirkte auf andere Menschen spröde. Während also die anderen in der Sauna waren, saßen wir in der Küche vor dem Eisschrank und aßen von dem Käse, der noch übrig war.
Paul Posenenske, ihr Ehemann, erschien auf solchen Partys nicht, weil er an der Kasseler Hochschule eine Professur innehatte und nur an den Wochenenden nach Hause kam. Er war Architekt und Stadtplaner und als Lehrer recht einflussreich, wie ich jüngst von einer Architektin erfuhr. Charlotte war stolz, dass ihr Mann diese Hochschule erbaut hatte, die auch ich keine Mühe hatte, schön zu finden. Eines Tages luden sie Grid und mich zu sich ein. Da Posenenske Stadtbaurat in Offenbach war, wohnten sie im Isenburger Schloss am Main, in welchem damals das Stadtbauamt untergebracht war. Die sehr karg und modern, ich glaube auch mit durchsichtigen Plastiksesseln eingerichtete Wohnung in dem Renaissanceschloss, die man durch einen Turm über eine steinerne Wendeltreppe erreichte, hatte schmale Fenster und dicke Wände, die weiß getüncht waren. Kein Bild. Kein sonstiges Kunstobjekt. Charlottes Atelier lag darüber im Dachgeschoss, aber sie zeigte es uns nicht. Grid war eine bis zur Unverschämtheit witzsprühende Frau, mutwillig, laut und sexy. Die Posenenskes fanden uns offenbar unterhaltsam und interessant. Vielleicht wirkten wir auf die Älteren authentisch und so, wie es damals zeitgemäß war. Da wir zu viel getrunken hatten, um nach Wiesbaden zurückzufahren, luden sie uns ein, bei ihnen zu übernachten. Ein paar Monate später veranstaltete Grid eine Party in unserer Wiesbadener Mansardenwohnung, zu der es in einem großen Wäschetopf Miesmuscheln in Weißwein gab. Auch Charlotte kam. Dort war es, wo sie mit ihrer hellen, klaren Stimme und im Beisein von anderen etwas recht Verwegenes zu mir sagte, das mich bei einer Frau, die es ablehnte, mit anderen in die Sauna zu gehen, sehr verblüffte. Tatsächlich gehörte der bewusst inszenierte Tabubruch wohl zum Programm ihrer persönlichen Revolution, die sie mutig betrieb. Und dann luden Posenenskes uns ein, mit ihnen ein paar Tage nach Holland zu fahren. Wir waren alle sehr vergnügt, sogar der eher bedächtige Professor. In einem chinesischen Restaurant fiel mir auf, wie konzentriert Charlotte aß. Sie kostete jeden Bissen mit niedergeschlagenen Augen und sprach beim Essen kaum. Die Intensität, mit der sie lebte – sei es bei der Arbeit oder beim Vergnügen –, habe ich immer sehr bewundert. Erst nach ihrem frühen Tod fiel mir das Bild von der Kerze ein, die an beiden Enden brennt. Wenig später besuchte ich Charlotte in Offenbach – allein. Daraufhin lud sie mich kurz entschlossen ein, mit ihr zusammen für eine Woche nach Berlin zu fahren. René Block, der gerade ein paar Arbeiten von ihr ausstellte, hatte sie eingeladen. Ich arbeitete damals an einer Privatschule als Lateinlehrer und meldete mich krank. Charlotte fuhr gern und gut Auto – besonders gern übrigens Lastwagen, mit denen sie ihre großen Objekte transportierte. (Einmal, erinnere ich mich, versperrte im Frankfurter Westend ein Taxi die Straße. Kein Fahrer weit und breit, der Wagen mit laufendem Motor. Charlotte stieg aus ihrer Citroen- Flunder – Posenenskes besaßen einen DS, damals das avantgardistischste Auto überhaupt –, setzte sich in das Taxi und fuhr es um die Ecke. So etwas imponierte mir damals sehr.) In Berlin blieben wir die ganze Woche im Hotel. Als wir zurückfuhren, standen wir vor der Frage, wie es nun weitergehen sollte. Wir wollten uns nicht trennen, hatten aber bisher beide in scheinbar glücklichen Ehen gelebt. Charlotte hatte als vorbildliche Ehefrau im Schloss sogar große Gesellschaften gegeben, zu denen auch Kommunalpolitiker aus der SPD kamen – Posenenskes Vater war der Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Hessen. Beide Ehen sind mit einem Schlag kaputtgegangen.
Charlotte besaß ein kleines Haus in Wiesbaden – ihr Elternhaus. Wir richteten uns notdürftig in den Mansarden ein. Wir trafen uns vor der Haustür, und jeder hatte nicht viel mehr als die Zahnbürste dabei. Die Schaumgummimatratzen, die wir uns besorgt hatten, legten wir nach damaliger Sitte direkt auf den Boden. Das sah nach Improvisation aus. Charlotte mochte sogenannte Regisseurstühle, die man rasch zusammenfalten und forträumen kann. Sie betonte gern das Vorläufige einer Situation, auch dann, wenn sie voraussichtlich dauerhaft war.
Mochte das auch mit ihren Theatererfahrungen zu tun haben: Jederzeit umräumen oder aufbrechen zu können, bedeutete ein Stück Unabhängigkeit – und besonders darum ging es in jener Zeit. Es musste dort oben allerlei Handwerkliches getan werden. Ich dachte, dass ich das machen sollte – als Mann. Nachdem ich ein paar Löcher gebohrt hatte, um eine Trennwand vor der Dusche zu installieren, bat mich Charlotte, ihr die Bohrmaschine zu reichen. Und sie setzte ein Loch so präzis neben das andere, als sei das ihr Beruf. Das war der Anfang eines Zusammenlebens, das mich intern von der traditionellen Geschlechterrolle erlöste. Sie war eine vorzügliche Handwerkerin. Vieles hatte sie bei ihrer Arbeit im Malersaal des Theaters gelernt, vieles aber auch bei Frank, dem späteren Geliebten ihrer Mutter, der Tischler war. Soweit.
Soweit und in dieser Weise bin ich bereit, über mein Leben mit Charlotte zu berichten. Nun werde ich – bis auf wenige Ausnahmen – hauptsächlich das mitteilen, was sie mir selbst erzählt hat. Vielleicht noch dies: Wenn ich mittags von der Schule nach Hause zu Grid, meiner Frau, gekommen war, war ich gewohnt gewesen, ein Essen vorzufinden. Ich kam nun also – ganz wie früher – und setzte mich in der Mansarde, in der sich die Kochplatte und auch Charlottes kleiner Kinderschrank befanden, an den Tisch und wartete. Charlotte begann mit mir über irgendetwas zu diskutieren, bis ich fragte, ob es nicht etwas zu essen gäbe. Sie hatte nichts da. So gingen wir bei Kaisers Kaffeegeschäft um die Ecke eine Gurke, Tomaten, Paprika usw. kaufen. Wir legten das Gemüse oben auf den Küchentisch und begannen wieder zu reden. Da ich aber inzwischen großen Hunger hatte, fing ich selbst damit an, nebenbei das Gemüse für einen Salat klein zu schneiden. Und Charlotte half mir dabei. So machten wir gemeinsam unser erstes einfaches Essen. Charlottes Utopie, die sie auch im privaten Bereich zu verwirklichen suchte, war die Kooperation, und zwar eine Kooperation, die nicht auf fester Arbeitsteilung beruhte, aus der sich bekanntlich stets Herrschaftsansprüche entwickeln. Das wollte sie von Anfang an vermeiden. Seit diesem Salat machten wir immer alles zusammen – vom Essen bis zu den Sätzen unserer gemeinsamen Texte. Das war allerdings ein sehr anstrengendes Programm, denn jeder glaubte zu wissen, wie es richtig war. Wir argumentierten und argumentierten – und taten es gern. Wir genossen die zunehmende Fähigkeit, das auszudrücken, was wir dachten und wollten – das war schon ein Stück der Freiheit, nach der wir uns sehnten. Wenn ich heute an diese für viele so wichtige Zeit des Aufbruchs zurückdenke, fallen mir aus meinem Zusammenleben mit Charlotte zwei Begriffe ein, die unser Handeln anleiteten, ohne das wir das genau formuliert hätten: Freiheit und Solidarität. Das war nicht nur die Befreiung aus den Beschränkungen gesellschaftlicher Konventionen, also »Freiheit von etwas«, sondern auch eine »Freiheit zu etwas«, nämlich die Möglichkeit, Beziehungen einzugehen, die im eigenen Milieu versperrt waren und so zu leben, wie wir wollten. Für Charlotte bedeutete das die Freiheit, solidarisch zu sein, paradox gesagt, die Freiheit, sich aus eigenem Entschluss Bindungen zu schaffen. Solidarität bedeutete für Charlotte Kooperation. Auch bei den Diskussionen ging es ihr weniger um die Kommunikation als um die Lösung des diskutierten Problems. Die Gespräche sah sie als gemeinsame Produktion an, von der sie Resultate erwartete. Sie wollte mit anderen zusammen arbeiten, weil es wohl die Arbeit war, in der sie das genaueste Bewusstsein ihrer selbst hatte.
2 Über Herkunft und Familie
In einer der Mansarden hing ein ovales Ölbild von Charlottes bärtigem Großvater, der Jude war. Henry Mayer aus Herbolzheim in der Pfalz war ein sehr reicher Mann gewesen. Seine Frau Charlotte, nach der die Künstlerin sich nach eigener Entscheidung nannte, obwohl sie eigentlich auf den Namen Liselotte Henriette getauft war, kam aus einer Familie von Bad Dürkheimer Weingutsbesitzern. Großvater Mayer, der 1848 nach Amerika ausgewandert war und die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, machte ein Vermögen als Fabrikant von Segeltuch, das er selbst per Schiff über den Ozean in die USA transportierte. Es waren diese Schiffe, die schon einen Dampfkessel und einen Schornstein, aber auch noch Segel hatten. Was Henry Mayer exportierte, war das Segeltuch für die Planwagen der Siedler. Immer wenn ich einen Western sehe, muss ich an Charlottes Großvater denken, der jedem seiner sieben Kinder eine Million Goldmark vererbte und ihnen aus Dankbarkeit gegenüber dem Land, wo er sein Glück gemacht hatte, amerikanische Vornamen gab.
Dr. Joseph Dawson Mayer, genannt Jo, Charlottes Vater, geboren 1870, hatte in Zürich, Biel, Davos und Basel als Apothekengehilfe gelernt, bevor er in Heidelberg Pharmazie studierte. Er gab sein Geld mit vollen Händen aus. Schon als Student hielt er sich eine Köchin, die er dann mit nach Wiesbaden brachte. Für 500.000 Goldmark kaufte er sich die Lizenz, eine Apotheke zu führen, und übernahm 1898 die Taunus-Apotheke, welche – wenn ich nicht irre – die drittoder viertälteste Apotheke Wiesbadens ist. Sie existiert noch heute samt Einrichtung im Stil des 19. Jahrhunderts. Dr. Mayer sprach fließend englisch und französisch und auch ein wenig russisch. Wiesbaden war vor dem Ersten Weltkrieg eine internationale Kurstadt gewesen, wo auch der Kaiser das berühmte heiße Kochbrunnenwasser trank und wo Dostojewski im Kasino des Kurhauses Studien zu seinem Der Spieler gemacht haben soll. Man flanierte auf der »Rue«, der Wilhelmstraße, oder im Kurpark und besuchte die neubarocke Oper, in der es noch heute eine Kaiserloge gibt. Die schwarzen Kochbrunnenkäfer, eine Art Kakerlaken, die das Feuchte lieben, liefen in der Taunusstraße im Keller herum und sogar im vornehmen Hotel Rose, das heute zur Staatskanzlei hergerichtet wird, manchmal über den Tisch. Dr. Mayer war ein sehr wohlerzogener, freundlicher und gütiger Mann, dessen Steckenpferd eine pharmaziehistorische Sammlung war, die das ganze zweite Stockwerk seines Hauses einnahm, das um einen quadratischen Innenhof gebaut ist. Im hinteren Teil lagerten Kräuter, deren Duft – wie mir Charlotte erzählte – in ihren Kindertagen durch das ganze Haus zog. Es duftete dort immer wie auf einer großen Wiese, sagte sie. Dr. Mayer verkaufte diese »zu ihrer Zeit bedeutendste pharmaziehistorische Sammlung in Deutschland«,4 die eine vollständige Apothekeneinrichtung umfasste, in den frühen 1930er-Jahren an die amerikanische Firma E. R. Squibb & Sons, welche die Sammlung unter dem Namen »The Squibb Ancient Pharmacy« in ihrem New Yorker Geschäftshaus ausstellte und sie später der Smithsonian Institution, dem amerikanischen Nationalmuseum in Washington, zum Geschenk machte. Vermutlich wollte Dr. Mayer mit dem Erlös die Auswanderung vorbereiten. Charlottes Vater trug für die Kinder immer Bonbons in der Tasche, und er liebte es, mit den schönen Damen zu parlieren. Er hatte – wie das üblich war – eine jüdische Frau geheiratet, Hedwig (Hedy) Simon, die Tochter eines Münchener Bankiers. Doch da trat Ellen Dörner in sein Leben.
Ellen, Charlottes Mutter, geboren 1893, gestorben 1961, arbeitete damals als Sprechstundenhilfe bei Dr. Géronne, der Dr. Mayer wegen eines Huftritts behandelte. Ausgebildet an einer kaufmännischen Handelsschule, war sie zuvor als Chemielaborantin bei der Metallbank in Frankfurt tätig gewesen, die später zur Degussa gehörte. Dr. Mayer hielt sich ein Pferd im nahen Tattersal und pflegte an seiner Apotheke vorbei die Taunusstraße entlang ins Nerotal bis zum »Rabengrund« zu reiten, einem mit alten Bäumen bestandenen, weitläufigen Wiesengelände, wo die Wiesbadener gern spazieren gehen. (Auf der Taunusstraße gab es damals einen Reitweg.) Wenn man sich vorstellt, wie der wohlhabende Apotheker, der Maßanzüge und Maßschuhe trug, den Friseur ins Haus kommen ließ und in schwülen Sommern in das Hotel auf dem luftigen Neroberg zog, die Bekannten vom Pferd herab freundlich grüßte, so hat man eine Szene aus der Belle Epoque vor Augen. Er verliebte sich in Ellen Dörner so sehr, dass er sich von seiner jüdischen Frau scheiden ließ und die 23 Jahre Jüngere heiratete. Das trug ihm die nachhaltige Missbilligung seiner jüdischen Familie ein, welche diese Ehe in keiner Weise standesgemäß fand. Jüdische Ehepaare lassen sich nicht scheiden. Vermutlich spielte es auch eine Rolle, dass er eine Nichtjüdin geheiratet hatte. Da Großvater Mayer häufig in Amerika gewesen war und dort viele Kontakte hatte, waren die meisten von Dr. Mayers sechs Geschwistern schon in die USA emigriert, bevor die Nazis ans Ruder kamen. Der eine Bruder, Dr. Willy Mayer, der früher in Mannheim eine eigene Kinderklinik hatte, wurde Professor an der renommierten Johns Hopkins University in Baltimore, ein weiterer Bruder, Alfred Mayer, betrieb drüben eine Fabrik für Kinderkleidung. So kam es, dass Charlotte als Kind hin und wieder amerikanische Kleidchen trug und vielleicht ja auch Jeans, die man in Deutschland damals noch nicht kannte. Onkel Arthur Mayer war nach England emigriert. Dr. Jo Mayer hatte außerdem drei Schwestern: die früh verstorbene Jenny, dann Anna, die – nach Brasilien ausgewandert – sich und ihren Mann, den Karlsruher Rechtsanwalt Dr. Emil Homburger, durch Verfertigung von Strickarbeiten über Wasser hielt, und Charlottes Großtante Cel (Celine). Charlotte erzählte mir einmal, dass sie sich gern daran erinnere, wie sich alle ihre »lieben langnasigen Tanten« wie gute Feen über ihr Kinderbett gebeugt hätten. Aber das war wohl eher ein schöner Traum, die Vorstellung von einer großen schützenden Familie, denn es kommen nur zwei Tanten infrage, und ob die etwa noch 1933 nach Deutschland kamen, erscheint mir unsicher. Als Charlotte am 28. Oktober 1930 geboren wurde, waren die Mutter 37 und der Vater schon 60 Jahre alt. Er war sehr stolz auf seine kleine Tochter und natürlich auch stolz, in diesem Alter noch ein Kind gezeugt zu haben, denn mit 60 Jahren war man damals in jeder Hinsicht schon eher ein Großvater. Charlotte blieb das einzige Kind. Ellen Dörner entstammte einer proletarischen Familie. Der Name Dörner ist in Biebrich, einer südlichen, am Rhein gelegenen Vorstadt von Wiesbaden, wo es einige Industrie gab, recht verbreitet. Auch Charlottes Mutter Ellen hatte viele Geschwister: zuerst August Dörner, der in Essen ein Zigarrengeschäft betrieb und dann als Pächter der Essener »Gruga«-Messe einigen Unternehmungsgeist zeigte. Er sei sehr energisch, witzig und lebenslustig gewesen, erzählte mir Charlotte, und ähnelte darin ihrer Mutter. (Der Onkel hat sie kurz nach dem Krieg eingeladen, nach Essen zu kommen. Charlotte beschrieb mir, wie sie im heißen Sommer mit einem Rucksack durch die lichtdurchfluteten Trümmer der völlig zerstörten, leer wirkenden Stadt gestolpert war.) Dann Willi Dörner, der in Wiesbaden Friseur war und die zu einer Geschäftsgründung notwendige Meisterprüfung nicht schaffte, obwohl Charlottes Eltern ihn unterstützten. Er war, sagte Charlotte, ein sogenannter schöner Mann und ein bisschen dumm. Dann gab es noch Tante Edith, die ausgerechnet mit einem SS-Mann verheiratet war.
Einerseits entstammte Charlotte also einer wohlhabenden, gutbürgerlichen Familie, andererseits aber einer Arbeiterfamilie, denn ihr Biebricher Großvater war Heizer auf einer Lokomotive der Reichsbahn. Heizer, das bedeutete, Tag für Tag Kohlen zu schaufeln – eine schmutzige Arbeit. Der Großvater trank, und Charlotte kannte ihn nur vom Hörensagen. Von ihrer Großmutter mütterlicherseits weiß ich nichts.
Ich glaube, dass ihre zur Hälfte bürgerliche, zur Hälfte proletarische Herkunft Charlotte sehr geprägt hat, insofern sie sich weder dem Bürgertum noch den Arbeitern zugehörig fühlen konnte. Soziologisch gesprochen war ihr Leben mit einer Statusinkonsistenz behaftet. Zum Kleinbürgertum, das der Bourgeoisie nacheifert und stets befürchtet, ins Proletariat abzugleiten, konnte sie sich auch nicht recht zählen. Oder doch? Bekanntlich gibt es in der systematischen Darstellung unserer Gesellschaft bei Karl Marx nur zwei Klassen – den Adel und das Kleinbürgertum vernachlässigt er aus methodischen Gründen, denn als Grundstruktur betrachtete er das Kapitalverhältnis. Doch erwähnt er den grundbesitzenden Adel hier und dort und behandelt das Kleinbürgertum – ähnlich wie die großen französischen Romanciers – eher spöttisch. Zu Anfang unseres gemeinsamen Lebens führte ich Charlotte in einige Frankfurter Apfelweinwirtschaften oder auch in die Straußenwirtschaften im Rheingau, die ich von früher her kannte. Sie werden bis heute besonders von sogenannten kleinen Leuten, den einheimischen Handwerkern, Häuschen- und Ladenbesitzern und Angestellten der Ingelheimer Chemiefirma Boehringer besucht. Charlotte betrachtete neugierig das ihr völlig fremde Milieu unter dem Gesichtspunkt, ob sie – systematisch betrachtet – wohl dazugehörte. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang, dass wir einmal in der Kiedricher Winzerhalle an einen Tisch zu sitzen kamen, an dem ein lodengrün gekleidetes Ehepaar seinen Wein trank. Wir waren überzeugt, mit verbohrten Rechten zusammensitzen zu müssen. Nachdem schließlich doch ein Gespräch über dies und das zustande gekommen war, erzählte uns der Mann, dass Kiedrich hier »Neindorf« genannt wurde, weil es sich in der Nazizeit als einziger Ort in dem sonst bis heute stockkonservativen Rheingau einer Maßnahme der Nazis widersetzt hatte. Es stellte sich heraus, dass der Mann bei den Wiesbadener Stadtwerken angestellt und ein linker Sozialdemokrat war. Das Zusammentreffen gab Charlotte zu denken. Sie freute sich, wenn sie unangenehme Vorurteile revidieren konnte, und befreundete sich ein wenig mehr mit der Annahme, eine Kleinbürgerin zu sein.
Ellen Mayer war eine ehrgeizige Frau. Nachdem Dr. Mayer ihr Privatunterricht in Englisch, Französisch und Musik hatte geben lassen – es war damals durchaus üblich, den jungen, nicht bürgerlichen Ehefrauen all das beibringen zu lassen, dessen es bedurfte, um mit Gästen Konversation zu treiben, ohne den Hausherrn zu blamieren –, führte Frau Mayer ihren Haushalt mit Köchin und Hausmädchen so gut, dass ihr Gatte sich eines gastlichen Hauses erfreuen konnte. Es wurde Rheingauer Riesling getrunken, man genoss die »Primeurs« – die Küche war badisch, denn Anna, die Köchin, kam dorther, wo die deutsche Küche am besten ist, wie Kenner sagen. Ich habe Anna zusammen mit Charlotte später in einem Altersheim besucht. Sie hatte sich eine gute Flasche Bordeaux gewünscht. Der berühmteste Gast im Hause Mayer war der russische Maler Alexej von Jawlensky, der damals in Wiesbaden wohnte, wo jetzt eine kleine, von der Taunusstraße abzweigende Straße nach ihm benannt ist. Auf dem Speicher fanden wir später ein verstaubtes, leicht beschädigtes Gemälde von ihm, das Ellen Mayer dort aufbewahrt hatte. Gast war auch ein gewisser Dr. Behrens, ein schneidiger junger Rechtsanwalt und Frauenheld, den Ellen Mayer auf dem Tennisplatz kennengelernt hatte. Charlotte nahm an, dass er ein Geliebter ihrer Mutter gewesen war, die in Wiesbaden als schöne und lebenslustige Frau galt. Ich habe diesen Mann als über 90-Jährigen kennengelernt. Sein greisenhafter Ehrgeiz war es, als Letzter seiner Abitursklasse zu sterben. Er behauptete, Charlottes leiblicher Vater zu sein und suchte seinen Ruf als Verführer dadurch zu beweisen, dass er seine angebliche Tochter im Fond der Citroen-Flunder belästigte, wie ich im Rückspiegel bemerkte. Ohne dass sie die Behauptung der biologischen Vaterschaft weiter interessierte, war Charlotte doch sehr gekränkt, dass jemand es wagte, ihren Vater verdrängen zu wollen, den sie so sehr geliebt hatte. So sehr, dass sie später nur ältere Männer zu Freunden hatte – außer mir. Wir sahen Ali – so ließ der Mann sich von Freunden nennen – nie wieder. Als er irgendwo bei Koblenz im Sterben lag und über seine Haushälterin nach seiner angeblichen Tochter telefonierte, verleugnete sie ihn, denn weder war sie mit ihm verwandt noch mochte sie ihn. Sie konnte dem eitlen, alten Mann seinen unverschämten Übergriff nicht verzeihen. Ihre Weigerung, den Sterbenden zu besuchen, hat ihr sein Sohn – früher in Wiesbaden ein Tunichtgut und nun ein sehr hoher Manager der amerikanischen Firma Colgate in den USA – nicht verziehen. Wir haben ihn – vor dem Tod seines Vaters – einmal im Frankfurter Hof besucht. Er sah aus wie ein Killer aus einem Film noir und machte, während er seine Anzüge in den Schrank hängte, derart zynische Bemerkungen, dass wir froh waren, ihn nie wieder sehen zu müssen.
3 Aus Kindheit und Jugend
Vater Mayer tat für seine kleine Tochter alles. Besonders liebte er es, mit ihr spazieren zu gehen und sie allen Leuten vorzustellen. »Das ist meine kleine Lottie!«, sagte er stolz. Charlotte hatten einen Kinderteller, den man vorwärmen konnte, indem man heißes Wasser in eine Kammer im Fuß des Tellers füllte. Sie aß gern Buchstabensuppe und legte sich auf dem Tellerrand einfache Wörter zurecht. Wenn Vater Mayer Zeitung las, saß Charlotte unter dem Schreibtisch zwischen seinen Füßen und fragte ihn nach allem und jedem aus. Charlotte konnte mit kaum vier Jahren lesen. Und als wir später zusammen studierten, las sie alles doppelt so schnell wie ich, der ich nicht gerade langsam lese. Auf dem Boden des Tellers stand in altmodischer Schrift: »Erst mach dein Sach’, dann spiel und lach!« Das entsprach der modernen Trennung von Arbeit und Leben, die Charlotte auch später einhielt, obwohl sie sich bei der Art ihrer Arbeit hätte jede Unterbrechung leisten können. Doch es gehörte zu ihrem Arbeitsstil, sich hintereinander intensiv ein und derselben Sache zu widmen. Sie arbeitete, als sei sie Angestellte in einem Betrieb.
In dieser Zeit verfasste Charlotte ihre Picapora-Zeitung, deren Reste ich heute noch besitze. Die Zeitung wurde von sogenannten »Ringstängen« verfasst und handelt von den Erlebnissen der »Mimäue «. Die »Ringstänge« haben spitze Kussschnäuzchen, laufen auf allen Vieren wie kleine Kinder und strecken den Po in die Luft. Sie sind nackt, haben aber keine Schwänze. Sie machen sich über die »Mimäue« lustig, die wie Kissen oder Wolken aussehen und keine Beine haben. Die »Mimäue« sind träge und ein bisschen dumm. Sie haben Augen klein wie Punkte und manchmal nicht einmal das. Später nannten wir alle Kissen »Mimäue«. Auch bestimmte Wolken. Und gewisse Gegenstände und Speisen waren »mimauig«. Charlotte hob keine Dinge auf, die für sie unwichtig waren. Sie neigte eher dazu, Dinge fortzuwerfen, wenn sie keinen Grund fand, sie aufzuheben. Die Picapora-Zeitung war als ein recht komplexes Zeugnis ihrer Kindheit für sie offenbar wichtig. Ich glaube, dass es sich bei den Mimäuen und Ringstängen um zwei Stadien ihrer Kindheit, vielleicht aber auch um zwei Seiten ihres Charakters handelt, die trägen, sinnlichen Mimäue einerseits und die intelligenten, hurtigen Ringstänge andererseits, die, indem sie darüber in einer Zeitung schreiben, die Mimau- Zustände reflektieren. Die Picapora-Zeitung, die sie mit etwa fünf Jahren verfasste, ist in ihrer Struktur ein Beispiel für Charlottes früh ausgeprägtes Bedürfnis, analytisch zu differenzieren und reflektiert zu denken. Sie hatte eine große Begabung, Systeme zu verstehen und selbst zu entwerfen. Sie dachte trennscharf, das heißt, sie besaß die Fähigkeit, Phänomene dieser oder jener Kategorie zuzuordnen, ohne den Überblick über Zusammenhänge zu verlieren. Zur soziologischen Arbeit gehört es, Fragebögen zu konstruieren. Die Fragen absolut trennscharf zu formulieren, ist nicht einfach und verlangt einige sprachliche Kompetenz. Charlotte fiel das ganz leicht.
Das Tagesgeschäft überließ Dr. Mayer, der auch eine kleine Fabrikation für Cremes und Lotionen unterhielt und wohl auch einige Patente besaß, seinen Angestellten, um die meiste Zeit mit seiner kleinen Tochter verbringen zu können. Es gab noch einen anderen Grund, warum er so viel Zeit erübrigen konnte. Davon später. Als die beiden einmal zur Melibokus-Eiche spazieren gingen – eine dicke, alte Eiche, von der man damals bei klarem Wetter bis zum Melibokus, dem höchsten Berg des Odenwaldes, blicken konnte –, kamen sie an einem Bauwagen vorbei. Lottie, die wissen wollte, was da drinnen war, bettelte so lange, bis ihr Vater das Schloss aufbrach – er wurde dabei gesehen und erhielt eine Strafe wegen versuchten Einbruchs. Charlotte erzählte mir die Geschichte wiederholt, offenbar weil sie zeigt, dass ihr Vater ihr zuliebe wirklich alles tat, sogar Verbotenes – und das als Jude.
Charlottes Mutter war eine leidenschaftliche Frau, und sie war jähzornig. Als sie einmal Charlotte eine Ohrfeige gab, stand der Vater in der Tür. Die Szene muss schlimm gewesen sein, denn der Vater hatte ihr streng verboten, seine Tochter zu schlagen. Er sagte »meine « Tochter. Die Mutter hat sich dann nie mehr in dieser Weise gehen lassen – solange Charlottes Vater lebte. Später war sie oft so wütend, dass sie ihre Tochter mit dem Brotmesser um den Tisch jagte. Ihre Herkunft aus einfachsten Verhältnissen machte sich geltend. Sie verstand sich schlecht mit ihrer Tochter, doch nicht so, dass sie es etwa ablehnte, ihr Akt zu sitzen. Das Naturell der beiden Frauen war grundverschieden. Ellen Mayer, praktisch und lebensfroh, dachte in Kategorien der Selbsterhaltung, des sozialen Status und des Vergnügens, was ja angesichts der Überlebensschwierigkeiten während der Kriegs- und Nachkriegszeit nur verständlich ist. Aber sie leistete sich Irrationalitäten und Unbegründbarkeiten, wann es ihr passte, dabei war sie aber ein zupackender, entschlossener Mensch. Charlotte dagegen begann früh zu grübeln, auch darum, weil sie allein war und so viel las. Ein Grund der mitunter furchtbaren Angriffe der Mutter mochte sein, dass sie ahnte, dass ihr Geliebter, der Tischler Frank, auch etwas mit ihrer 15-jährigen Tochter hatte. Tatsächlich hatte Frank sie verführt oder Schlimmeres, wie Charlotte mir andeutete.
Wie viele Juden mochte Dr. Mayer nicht glauben, dass die Nazis so weit gehen würden. Doch als die meisten seiner jüdischen Bekannten emigrierten, überlegte auch er, ob er gehen sollte. Er bereitete die Flucht vor und schickte einen großen Geldbetrag, vermutlich den Erlös aus der Apothekensammlung, nach Amsterdam. Dies machte ihn bei der Bank verdächtig. Charlotte schreibt in einer in Zusammenhang mit ihrem Testament verfassten Kurzbiografie: »Bereits vor dem Tod meines Vaters flüchteten einige Verwandte und Freunde ins Ausland, mehrere jüdische Freunde brachten sich um. Darüber wurde zu Hause viel gesprochen. Auch mein Vater versuchte, für unsere Flucht Geld auf einer Amsterdamer Bank bereitzustellen, aber es wurde wegen Verstoß gegen das Reichdevisengesetz beschlagnahmt. « Von den Nazis merkte man in der trägen Kurstadt sonst noch nicht viel. Alles war friedlicher als in den Großstädten. Auch nach dem Zwangsverkauf seiner Apotheke im Laufe der sogenannten Arisierung im Jahre 1935 lebte Dr. Mayer alles in allem noch in vergleichsweise erträglichen Verhältnissen. Doch seit 1938 sammelte er alle Zeitungsausschnitte, welche die Juden betreffenden Gesetze und Maßnahmen enthielten, in einem Kuvert mit der Aufschrift: »betrifft Verordnungen für Juden«. Auch er, vom Naturell her ein eher optimistischer Bonvivant, war inzwischen aufs Äußerste beunruhigt. Auf seinen langen Spaziergängen – die Apotheke wurde jetzt von einem Nazi geführt – ging er einmal auch nach Wiesbaden-Sonnenberg hinauf bis zu einem Mann, der Hühner hielt. Es gelang ihm, dort ein paar Eier für einen befreundeten jüdischen Anwalt zu erstehen, der gerade von den Nazis zusammengeschlagen worden war und zu Bett lag. Sogenannte »bewirtschaftete« Güter zu erwerben, war aber streng verboten. Auf dem Rückweg hielt ihn ein Mann an, der sich als Gestapo-Beamter auswies. Er teilte Dr. Mayer mit, dass er mit einer umgehenden Anzeige zu rechnen habe. Am 4. April 1940 machte Charlottes Vater sein Testament. Am 8. April nahm er Gift, denn er war sicher, dass man ihn ins KZ schaffen würde. Charlotte sah ihren Vater tot auf einem Sessel liegen – und war fassungslos. Sie erlitt einen schweren Schock und zog sich aus dem Leben völlig zurück. Sie begann wie eine Rasende zu lesen, sie floh aus dieser Welt. Sie las alle Leihbibliotheken Wiesbadens aus. Noch später – als wir schon zusammenlebten – musste sie alles lesen, was Buchstaben hatte, sogar Buchstaben auf dem Kopf, sogar auf Einwickelpapier. Wenn wir uns in einer Stadt verfahren hatten, fanden wir uns bald wieder zurecht, weil sie beim Fahren durch bloßes Hinschauen alle Straßennamen auswendig gelernt hatte. Die Juden wussten von den Konzentrationslagern und ahnten, was dort geschah. Immer wieder wurde erzählt, dass in einem jüdischen Haus die Urne mit der Asche eines Verwandten eingegangen war. Sie sagten: »Es ist wieder eine Urne angekommen. « In dieser ersten Zeit machten sich die Nazis noch diese Mühe. Immer war auch ein verlogenes Schreiben dabei. Charlotte schreibt: »Ich war dabei, wie das mit uns befreundete Ehepaar Jakobsohn abtransportiert wurde, schon nach ein paar Wochen wurden ihre Urnen zurückgeschickt.« Den zweiten Schock, der ihr Leben vielleicht fast ebenso nachhaltig beeinflusst hat wie der Tod ihres Vaters, erlitt Charlotte am 25. August 1942. Ihre Mutter hatte von der Schule das folgende Schreiben erhalten, das Charlotte aufbewahrt hat:
»Frau Ellen Mayer, Wiesbaden, Taunusstr. 37
Nach den neuen ministeriellen Bestimmungen haben jüdische Mischlinge ersten Grades, die sich in den Klassen 1–4 einer höheren Schule befinden, die Schule mit dem Zeitpunkt der Beendigung ihrer Volksschulpflicht zu verlassen. Ich mache Sie schon jetzt auf diese Bestimmung aufmerksam. Ihre Tochter Lottie muss also Ostern 1945 unsere Schule verlassen. Heil Hitler! Dr. Koch (Oberstudienrat)«
Charlotte war damals zwölf Jahre alt. Sie war also in der Quinta, das heißt in der zweiten Klasse des Lyzeums. Zwar wäre sie diesem Schreiben zufolge erst zum Ende des Krieges der Schule verwiesen worden, aber schon die Androhung verfehlte nicht ihre Wirkung. Charlotte, die ungeheuer wissbegierig und stets eine sehr gute Schülerin gewesen war, sollte den Ort verlassen, an dem sie sich ganz zu Hause gefühlt hatte. Es wurde ihr klar, dass sie ab jetzt nicht mehr dazugehörte, dass sie »anders« war. Ohne mit Charlotte je darüber gesprochen zu haben, erkläre ich mir aus dieser Erfahrung der Nichtzugehörigkeit eine grundsätzliche Lebenshaltung und viele ihrer späteren Entscheidungen. Wenn sie 1968 mit der Kunst aufhörte, gab es dafür mehrere Gründe, die ich nach und nach darzustellen versuche. Ein Grund war jedenfalls der, dass ihr der Individualismus des Künstlers als eine törichte Illusion erschien, die ideologisch überspielte, dass jeder Mensch viel mehr durch die gesellschaftlichen Verhältnisse geprägt ist, als er weiß und wahrhaben könnte, wenn er es wüsste. Und wenn sie daraufhin Soziologie mit dem Ziel studierte, in den Gewerkschaften zu arbeiten, hat das, wie ich fest überzeugt bin, darin seinen tiefsten Grund, dass sie endgültig dazugehören wollte. Sie wollte nicht mehr »anders« sein. Sie wollte sein wie alle, das heißt nie mehr ausgestoßen. Charlotte ist dann bald tatsächlich der Schule verwiesen worden. Doch sie vergaß nie, dass – ich zitiere – »die Lehrerin Lange mich in Schutz nahm und der Klasse nachdrücklich erklärte, dass Juden Menschen seien wie alle anderen auch«. Immer wieder zeigt sich Charlotte davon beeindruckt, dass es durchaus möglich war, sich zu widersetzen. Die Nazis begannen in ihrem Rassenwahn auch nach den »jüdischen Mischlingen « zu fahnden, und zwar viel früher als angekündigt. Charlotte wusste von drei »Mischlingen« in der Stadt, die sie namentlich kannte. Es hat ihr nichts genutzt, dass ihre Mutter sie als 6-Jährige am 28. Oktober 1936 vorsorglich von Pfarrer v. Bernus hatte taufen lassen, denn die Nazis betrachteten die Juden bekanntlich nicht als eine Kulturgemeinschaft, sondern erklärten sie zu einer Rasse. Der Pfarrer, welcher der »Bekennenden Kirche« angehörte – wie im Übrigen auch Dr. Hans Buttersack, Charlottes Pate, der so mutig war, mit seinem jüdischen Freund Mayer weiter zu verkehren –, bestätigte Frau Mayer in einem Schreiben vom 4. April 1940, dass sie ihre Tochter »seit ihrer Geburt im evangelischen Glauben erzogen hat«. Dieses Zeugnis trägt dasselbe Datum wie Dr. Mayers Testament. Es war also bewusst zu Charlottes Schutz verfasst worden. Was ihr aber wirklich das Leben gerettet hat, war die mutige Tat des Polizeibeamten Kabis von der ehemaligen, nahe gelegenen Polizeiwache in der Stiftstraße. Er tat Dienst in der Reiterstaffel, die ihre Pferde im Tattersal untergestellt hatte, einer in der nahen Coulinstraße befindlichen Reitschule. Vater Mayer hatte ihm sein Töchterchen manchmal zum Ausreiten anvertraut, und der brave Mann, der kaisertreu war und den »Führer« als einen Emporkömmling verachtete, ließ, als ein Transport der »Mischlinge ersten Grades« zusammengestellt werden sollte, Charlottes Akte im Keller der Polizeiwache hinter einem Schrank verschwinden. Das hat Charlotte später von ihrer Mutter erfahren, die als »arische« Ehefrau eines Juden »Rassenschande« begangen hatte und von der Gestapo mehrmals im Beisein ihrer Tochter mit den widerwärtigsten Schimpfworten gedemütigt wurde.
Die Führung der »arisierten« Taunus-Apotheke hatte nun ein gewisser Dr. Best, der Apotheker der Kochbrunnen-Apotheke auf der anderen Straßenseite, übernommen. Es gelang dem Nazi nicht nur, sich die Apotheke anzueignen, sondern auch, Charlotte und ihre Mutter aus ihrer Wohnung zu drängen, die er als Dienstwohnung zu benötigen vorgab. Die Enteignung der Juden war auch hier ein kaum verbrämter Raubzug ihrer »arischen« Konkurrenten. Ellen Mayer fand eine Bleibe in der Taunusstraße 37 und versteckte ihre Tochter dort bis zur Befreiung in einer unbenutzten Waschküche. Charlotte erzählte mir nicht ohne Genugtuung, wie ihre Mutter und sie die Waschküche mit antiken Möbeln und Silberleuchtern in ein schönes Zimmer verwandelt hatten, wenn es auch feucht und lichtlos blieb. Sie teilten den Raum ab, indem sie Teppiche über straff gespannte Wäscheleinen hängten. Sogar Bilder hängten sie an die Wände. Es war hier offenbar die Kultur, die den beiden Frauen während der Barbarei Kraft zum Durchhalten gab. Andererseits kamen der Mutter in dieser Zeit die Tugenden ihrer proletarischen Herkunft zugute. Anstatt zu klagen, packte sie an, um das Lebensnotwendige zu organisieren. Sie war nicht mehr die Dame, die dann und wann ein französisches Wort einfließen ließ, sondern fiel wieder in ihren hessischen Dialekt. Sie pflegte sich im Hinterhof auf einem kleinen Balkon voller Wäsche kaum bekleidet zu sonnen und dabei mit den anderen Frauen zu schwatzen. Lottie las Tag und Nacht.
Nach dem Tode des Vaters lernte Ellen Mayer den Tischler Heinrich Frank aus Georgenborn kennen, der ein bemerkenswerter Mann gewesen sein muss. Er hatte seine Werkstatt in der Nerostraße und verstand sich auf die Ausbesserung von Antiquitäten, deren es im Hause des Sammlers Dr. Jo Mayer viele gab. Spätabends schlüpfte Charlotte aus ihrem Keller in die nahe Werkstatt, wo um diese Zeit oft einige Männer saßen und über Politik sprachen. Frank, der in seiner Gesellenzeit bis nach Russland auf der Walz5 gewesen war, bezeichnete sich als Kommunisten, obwohl er nach Charlottes Einschätzung eher anarchistisch eingestellt war. Er schwärmte von der Sowjetunion, wo er alles wunderbar gefunden hatte. Frank war ein feuriger Erzähler und ein sehniger, gut aussehender Mann. Er war praktisch und wusste für alles eine Lösung. In der Kriegs- und Nachkriegszeit war er für Ellen Mayer und ihre Tochter eine wichtige Stütze. Die Männer, die sie bei Frank hin und wieder sah, gehörten zum Wiesbadener Widerstand. So wirr ihre politischen Vorstellungen gewesen sein mögen, so brachten sie es doch fertig, französische Kriegsgefangene in den von den Biebricher Chemiebetrieben abgehenden Waggons nach Frankreich zu schaffen. Weil zu befürchten war, dass Charlotte in ihrer Waschküche doch noch entdeckt würde, denn es gab unter den Hausbewohnern auch einige, denen Frau Mayer eine Denunziation zutraute, nahmen die Genossen die Tochter im Sommer – auf einem Handkarren unter einer Decke versteckt – mit aufs Land. Dort lebte sie einige Zeit unbesorgt zwischen Hühnern und Ziegen. Charlotte schreibt über Frank: »Er half uns mit Lebensmitteln, versteckte mich zeitweilig in Georgenborn und erzählte uns seine Erlebnisse in der Arbeiterbewegung, als deren Mitglied er schon 1933 die Nazis bekämpft hatte.« Die amerikanischen Flugzeuge hatten über Wiesbaden Zettel abgeworfen, in denen sie die Deutschen aufforderten, sich zu ergeben. Auf die Kurstadt fielen nur wenige späte Bomben, weil die Amerikaner beabsichtigten, dort ihr Hauptquartier aufzuschlagen. Das wurde wenigstens behauptet. Doch die Bomben, die herunterkamen, waren etwa in der Webergasse in direkter Nähe zum Kochbrunnen gefallen, das heißt nicht weit von der Taunusstraße. Charlotte fand es merkwürdig, dass ihre Mutter sie durch die brennenden Straßen zog, anstatt im Luftschutzkeller Schutz zu suchen: Sie wollte nachsehen, ob die Bank noch stand, in der sie ihre Wertsachen aufbewahrt hatte. Dafür riskierte sie ihr Leben.
Die Befreiung – Charlotte hatte für den verschleiernden Ausdruck »Zusammenbruch« nur Verachtung übrig – begann in Wiesbaden wie meist überall mit einer großen Stille. Dann kam ein einzelner Jeep, auf dem amerikanische Soldaten mit ihren MGs saßen, darunter die ersten Schwarzen (wir kannten bisher nur den Sarotti-Mohr). Die Menschen krochen aus den Luftschutzbunkern. Der »Obernazi Stadtrat Altstadt, der im Vorderhaus wohnte«, schreibt Charlotte, war ein ungeheuer fetter kranker Mann, der ganz mit Verbänden umwickelt war. Er irrte durch die Straßen und schleppte die sich auflösenden Verbände hinter sich her. Charlotte war eine der Ersten, die den Befreiern entgegenlief. Es war ein sonniger Tag. Sie war sehr glücklich. Sie war auch dabei, erzählte sie mir, wie ein ausgemergelter alter jüdischer Mann aus einem Verschlag in einem Eisenwarenladen hervorkam, dessen Eigentümer er war. Die Leute, die seinen »arisierten « Laden in der Nazizeit führten, hatten ihn dort versteckt und ernährt. Charlotte zeigte mir den Laden. Das Erlebnis hatte sie tief beeindruckt, weil es belegte, dass es einfache Menschen gab, die so tapfer gewesen waren, einen Juden jahrelang zu schützen, während doch immer davon geredet wurde, dass man nicht einmal wagen durfte, einen Juden zu grüßen. In Charlottes Worten: »Ich erlebte auch, wie der jüdische Eisenwarenhändler Krotoschin 1945 aus dem Versteck hervorkam, in dem ihn eine Familie in der Hermannstraße, Kommunisten, verborgen gehalten hatte, und war von der Tapferkeit dieser Familie tief beeindruckt.«
4 Nach dem Krieg
In der Nachkriegszeit waren in Wiesbaden die Witwen der hohen Militärs und die Frauen untergetauchter Nazis gezwungen, ihren Schmuck und ihre Möbel zu verkaufen. Ellen Mayer machte zusammen mit Heinrich Frank einen Antiquitätenladen auf. Es waren nur die Amerikaner, die in jener Zeit Antiquitäten kauften. So schoben Frau Mayer und Charlotte einen großen, zweirädrigen Handkarren in die Viertel um die Sonnenbergerstraße und das Nerotal, wo die herrschaftlichen Villen aus der Gründerzeit stehen, und luden antike Truhen, Schränke und Sessel auf, sogar Kristallleuchter, deren Einzelteile Charlotte putzte und wieder zusammensetzte. Die Amerikaner zahlten in Zigaretten – der Währung der ersten Nachkriegsjahre. Charlotte lernte in jener Zeit in Franks Werkstatt nicht nur, wie man Möbel restauriert, sondern auch, wie man Bilder fälscht. In der Umgebung von Wiesbaden gab es ein Lager mit sogenannten »displaced persons«: Das waren die von den Nazis verschleppten Ausländer, die auf die Erlaubnis zur Heimreise warteten. Darunter waren viele Polen, die auf dem Rücken ihrer Jacken die Großbuchstaben D und P trugen. Die »Diepies«, wie man sagte, trieben Handel mit den Amerikanern und besaßen Zigaretten. Sie erschienen in Frau Mayers Antiquitätenladen und wünschten sich gemalte Madonnen, die denen bei ihnen zu Hause glichen. So begann Charlotte nach alten Kunstdrucken Madonnen von Raffael zu malen und versah sie ganz stilwidrig mit einem goldenen Hintergrund, aus echtem Gold wohlgemerkt, das Frank sie in hauchfeinen Plättchen aufzutragen gelehrt hatte. Bekanntlich gehören Goldhintergründe als Symbol des göttlichen Lichts zum sienesischen und byzantinischen Stil, in dem auch die polnischen Madonnen gemalt sind, nicht aber zur Florentiner Renaissance, welche mit der Entdeckung der Perspektive dem Auge den Raum geöffnet hat. Die Polen wünschten sich echte Madonnenbilder. So lehrte Frank Charlotte auch Hölzer auf alt zu machen und Wurmlöcher zu fabrizieren. Sie wurde eine gute Fälscherin, und wenn sie auch ein schlechtes Gewissen hatte, so gefiel ihr doch die handwerklich anspruchsvolle Arbeit. Außerdem arbeitete sie im Malersaal des Theaters.
Als sie wieder in ihre Schule aufgenommen worden war – und wieder dazugehörte –, entfaltete sie eine ungeheure Aktivität. Carter Kniffler, ihr Sozialkundelehrer, organisierte zusammen mit Mary, der bereits erwähnten jungen Amerikanerin, die in die Army eingetreten war, um den Deutschen lieber die Demokratie zu bringen als zu Hause arbeitslos zu sein, eine Theatergruppe, die Stücke von Tennessee Williams und anderen modernen amerikanischen Autoren einübte, sowie Kurse, in welchen den Schülerinnen die Grundbegriffe der Demokratie beigebracht wurden – denn eine demokratische Verfassung gab es noch nicht. Der über zwei Meter große Kniffler, dessen Kinder ebenso riesengroß waren wie er, hatte die merkwürdige Eigenschaft, sich nach allen Leuten umzudrehen, die er interessant fand – er blieb einfach stehen, und man musste um ihn herum gehen. Er war unübersehbar und in Wiesbaden stadtbekannt. (Das schreibe ich aus eigener Anschauung, denn ich habe einen Teil meiner Jugend in Wiesbaden verbracht. Ich wohnte in der Freseniusstraße 35, und wir konnten von dort hören, wie die Kniffler-Familie in der Kapellenstraße gegenüber an Sommerabenden amerikanische Folksongs sang.)
Kniffler vertrat mit Mary, der späteren Geliebten von Jean Améry, die sich enthusiastisch für alles Jüdische interessierte und uns in Frankfurt öfters besucht hat, die amerikanischen Werte; Frank stand für die Tugenden der Sowjetunion. Er besuchte mit Charlotte kommunistische Versammlungen. Für die anarchistische Partei hat Charlotte 1946 zu den Kreistagswahlen ein drastisches Flugblatt gezeichnet. Ein Kandidat verspricht den Bürgern auf einer Wahlversammlung: »Ich hole euch den Mond! Wählt mich und ihr sollt ihn haben.« Und nachdem sie ihn gewählt haben, rufen die Bürger: »Den Mond! Wir wollen den Mond!« Da sagt der Abgeordnete: »Den Mond? Da habt ihr ihn!«, und zeigt den Bürgern den blanken Hintern, der einem grinsenden Mond ähnlich sieht. Anarchisten halten ja – wie der Name sagt – nicht viel von den komplizierten Regeln der Demokratie, während Charlotte nicht nur das stark sozialdemokratisch geprägte Grundgesetz des Landes Hessen, sondern auch später das Grundgesetz der Bundesrepublik immer griffbereit im Regal liegen hatte. Sie zitierte daraus, wenn sie empört war, dass es jemand infrage zu stellen oder zu übertreten wagte. Artikel 1 des Grundgesetzes, »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, war für sie das Versprechen, dass es in Deutschland nie wieder einen Faschismus geben würde.
Charlotte war manchmal über Sachverhalte aufgebracht, die ich selbst für schlimm zu halten erst lernen musste. Da sind zum Beispiel Wörter wie »Halbjude«, die zu verwenden auch nach der Nazi- Zeit noch üblich war. Sinn macht dieser Ausdruck ja nur dann, wenn man der unheilvollen Vorstellung vom jüdischen Blut anhängt, das man – wie jede Flüssigkeit – in Quanten einteilen kann, das heißt, wenn man die Juden – wie die Nazis es taten – für eine Rasse hält. Dass auch Mary und sogar ihr jüdischer Cousin Heinz aus Brasilien von »Halbjuden« sprachen, empörte Charlotte sehr. Die Zeitung las sie immer sehr genau und war über jede leichtfertige Ausdrucksweise aufgebracht. Denn sie vertraute auf die Kraft und Wirkung des Wortes – auch des falschen Wortes. Auf der einen Seite also der amerikabegeisterte Kniffler und Mary, auf der anderen Seite der sowjetophile Frank. Doch der Ost-West-Gegensatz, der sich dann zum Kalten Krieg verhärten sollte, beunruhigte das junge Mädchen vorerst nicht: Die Amerikaner bedeuteten für sie Freiheit. Charlotte hat niemals vergessen, auch nicht, als sie später in Berlin und Frankfurt gegen den Vietnamkrieg demonstrieren ging, dass sie den Amerikanern ihre Befreiung verdankte. Die Russen bzw. die Kommunisten standen für Solidarität.
Charlotte aber wollte beides. Sie war davon überzeugt, dass der Nährboden für Rassismus und Antisemitismus schon in der Schule gelegt worden war. Das war ein Grund für sie, an der Verfassung der Schülerselbstverwaltung ihrer Schule mitzuarbeiten. Charlotte wurde zur Vorsitzenden des Schülerrats gewählt und war nun Schulsprecherin. Als argumentative Diskutantin, die sie war, leitete sie viele Arbeitsgemeinschaften. Die große Aktivität in der Schule, welche die 18-Jährige neben ihrer Arbeit im Malersaal des Theaters entfaltete, wo sie mit riesigen Leinwänden umzugehen lernte, war ihre Antwort auf den Schulverweis durch die Nazis. Sie hat sich ihre Schule zurückerobert. Die Schule wurde nun wirklich ihre Schule, ihr Zuhause.
Studienrat Oppert wurde auf ihr mathematisches Talent aufmerksam. Er versuchte sie für Probleme zu interessieren, über die er in Fachzeitschriften schrieb. Noch als Charlotte schon verheiratet war, besuchte er sie in Offenbach, um sie für die Mathematik zu gewinnen. Aber er hatte seine ehemalige Schülerin, die zu seinem Kummer das Fach Mathematik abgewählt hatte, schon lange an Frau Jüttner verloren, die Charlottes künstlerische Begabung früh erkannte und sie dazu brachte, sich nach dem Abitur bei Willi Baumeister in Stuttgart zu bewerben. Sie verfolgte den künstlerischen Werdegang ihrer besten Schülerin noch nach ihrer Pensionierung und ging so weit, Charlotte in den Mansarden aufzusuchen, in denen sie mit mir in den frühen 1970er-Jahren hauste, um sie umzustimmen: denn auch sie hatte erfahren, dass Charlotte 1968 mit der Kunst gebrochen hatte und glaubte fälschlicherweise, ich sei der Grund dafür. Auf der Treppe warf sie mir einen hasserfüllten Blick zu. Ihrer resoluten Mutter hat Charlotte immer gedankt, dass sie sofort nach Kriegsende die Rückerstattung der Apotheke betrieb, worin sie nach einigen Prozessen schließlich Erfolg hatte. Nach der Befreiung und bevor sie ihr Haus in der Taunusstraße zurückbekamen, waren Mutter und Tochter in die Freseniusstraße 35 gezogen, in eine hübsche Villa im oberen Dambachtal, in der – ein merkwürdiger Zufall – auch ich ein paar Jahre später gewohnt habe. Das Haus gehörte einer Frau Schröder, die im obersten Stock auf der Terrasse Sonnenbäder zu nehmen pflegte. Sie hatte jahrelang auf Java oder Sumatra gelebt und war stets dunkelbraun gebrannt. In ihrer Wohnung duftete es, ihre Einrichtung war asiatisch, aber mit uns Kindern schimpfte sie auf berlinisch. Charlotte und ich, wir haben dort später zusammen heimlich den Garten besucht, in dem ein großer Kirschbaum stand, und einander die Stellen gezeigt, wo wir unsere Tiere begraben hatten. Es waren hauptsächlich Vögel, die sich an den großen Scheiben der Veranda die Köpfe eingestoßen hatten. Als Ellen Mayer die Rückerstattung der Apotheke erstritten hatte, zogen Mutter und Tochter wieder zurück in die Taunusstraße 20.
1957 vermietete Ellen Mayer das 1. Stockwerk an die Familie des Apothekers Pfeiffer, der die Apotheke zunächst pachtete und 1962 kaufte, wobei die Apothekenräume weiter Eigentum von Frau Mayer und ihrer Tochter blieben. Die Vermietung der Apothekenräume und dann auch der beiden übrigen Stockwerke des kleinen dreistöckigen Hauses aus dem frühen 19. Jahrhundert bildete nach dem Tod der Mutter Charlottes finanziellen Rückhalt, ohne den sie die Kunst nicht hätte aufgeben können. Wenn auch die möglichen Gründe und Motive für ihren Bruch mit der Kunst oft beredet worden sind, so kam doch nie in Betracht, dass Charlotte von der Kunst nicht leben musste. Sie war keine Berufskünstlerin, wenn man darunter versteht, dass Berufskünstler für einen Markt produzieren und von dem Erlös ihr Leben bestreiten (wollen). Charlotte war sich ihrer Privilegiertheit immer bewusst.
Später, als der Apotheker gestorben war, gelang es ihr, die Räume an eine Bank zu vermieten. Das ganze Haus roch in dieser Zeit nach Zigarrenrauch, und als die Bank wieder ausgezogen war, fanden wir hinter den Heizungskörpern Hähnchenknochen und anderen Unrat. Wegen der Renovierungsarbeiten, welche die Bank nicht ausführen lassen wollte, obwohl sie dazu vertraglich verpflichtet war, führte Charlotte einen Prozess, den sie leicht gewann. Der zuständige Direktor der Großbank sagte zu ihr nach der Verhandlung: »Aus unserer Perspektive sind Sie mit Ihrem Häuschen ein Frosch.« Als ich später in der Zentrale der Deutschen Bank in einem der obersten Stockwerke, dort wo der Aufsichtsrat tagt, für einen Fototermin eine Figur der Vierkantrohre zusammengeschraubt habe, sah ich Frankfurt von oben und konnte die Perspektive von Charlottes Prozessgegner nachvollziehen – der übrigens eine andere Großbank vertrat. Ja, von dort oben sehen wir wie Frösche aus. Es war das einzige Mal, dass Charlotte mit dem großen Kapital zu tun hatte, und den Satz mit dem Frosch hat sie niemals vergessen. Auf der Suche nach einem neuen Mieter stießen wir auf einen dynamischen Herrn, der die Räume wunderbar fand, den Vertrag sofort unterschrieb und in den folgenden Tagen eine riesige Telefonanlage installieren ließ, wozu für die Verlegung der dicken Kabel überall die Wände aufgeschlitzt werden mussten. Durch diese entschlossenen Maßnahmen von der Seriosität des neuen Mieters überzeugt, ließ sich Charlotte überreden, die erste Miete zu stunden, weil der Herr gerade eine komplizierte Umstellung seiner vielen Konten bewerkstelligen musste. Als er jedoch eines Tages anrief und die schlechte Verbindung mit den Worten entschuldigte, seine Antenne sei vereist, wussten wir, dass er vom Auto aus telefonierte, was damals nur hohen Chefs oder Angebern möglich war. Wir wurden misstrauisch. Wir fuhren nach Ober- Roden, seine bisherige Adresse, und fanden den neuen Mieter an einem alten Schreibtisch allein in einer leeren Halle sitzen. Wir waren auf einen Hochstapler hereingefallen. Zu der Gerichtsverhandlung kam er zu spät. Er entschuldigte sich mit den Worten: »Ich bitte um Vergebung, Herr Richter, ich komme gerade aus der Luft.« Charlotte besaß in geschäftlichen Dingen keinerlei Erfahrung. Aber sie vertiefte sich in alle Paragrafen des Mietrechts und wehrte sich mit Erfolg. Wir pflegten das alte, unter Denkmalsschutz stehende Häuschen so gut es ging und reparierten und putzten alles selbst. Charlotte vergaß niemals, wie hartnäckig ihre Mutter um das kleine Haus gekämpft hatte. Soweit.
Den Antiquitätenhandel gab Ellen Mayer nach der Rückerstattung des Hauses auf. Noch vor dem Abitur, das Charlotte wegen des Schulverweises durch die Nazis erst mit 21 Jahren ablegen konnte, machte sie ihre ersten Erfahrungen im Ausland: Sie unternahm nach vielerlei Bedenken ihrer Mutter mit einer Schulfreundin eine Radtour durch Holland, wo die antideutsche Stimmung unvermutet stark war. Die Mädchen waren vielen Anfeindungen ausgesetzt, was Charlotte bestürzte, da sie – unschuldig wie sie war – damit nicht gerechnet hatte. Dass sie selbst sich vor den Nazis hatte verstecken müssen, sagte sie nicht, als sie erfuhr, dass die Deutschen die Dämme zerstört hatten, um das Land zu fluten und die Holländer zu ersäufen. Diese Unmenschlichkeit rangierte für sie gleich nach dem Holocaust. Auf einen jungen Holländer hat sie offenbar so großen Eindruck gemacht, dass dieser sie noch als alter Mann besuchen wollte. Aber sie war bereits gestorben. Dennoch bestand Wim Dodemont darauf, nach Frankfurt zu kommen, und erschien hier – mit dem Fahrrad. Er hatte einen Laden für Eisenwaren in einem kleinen Ort bei ’s-Hertogenbosch und fuhr mit seinem riesigen, hoch bepackten Fahrrad weiter nach Santiago de Compostela – er war ein frommer Pilger, mit dem ich einen Abend verbrachte, an dem er mir Charlotte als junges Mädchen beschrieb.
Charlotte mochte die holländische Sprache so sehr, dass sie mich später dazu brachte, mit ihr nach einer Platte ein wenig zu lernen. Als wir uns einmal in Middelburg verfahren hatten, stieg sie aus, um nach dem Weg zu fragen. Ich sah sie mit einem Einheimischen sprechen. Als sie wieder eingestiegen war, sagte sie freudestrahlend: »Es funktioniert.« Unter allen Ländern mochte Charlotte Holland am meisten. Sie liebte die flache, undramatische Landschaft, die roten Backsteinhäuser mit den großen Fenstern, die fortschrittliche Architektur, die Liberalität und natürlich die große niederländische (protestantische) Malerei, der sie sich eher verbunden fühlte als der flämischen (katholischen) Kunst. Obwohl Charlotte nicht religiös war, lag ihr die ernste Rationalität der niederländischen Kunst näher als die lebensfrohe Üppigkeit der Flamen. Holland war das Land Piet Mondrians, ihres großen Vorbildes, und wir fuhren auch zum Leuchtturm in Westkapelle, den Mondrian gemalt hat. In Michel Seuphors großem Buch über Mondrian, das Charlotte gehörte, finde ich einen Beleg dafür, wie wichtig er für sie war: »Mondrian hat selber theoretisch die unnachahmbare Einmaligkeit des Kunstwerks als etwas ethisch und sozial Negatives abgelehnt und die Vervielfältigbarkeit des Kunstwerks postuliert.« Es gehörte zu Charlottes Konzept, dass sie ihre Vierkantrohre nicht signierte und ihre Reproduzierbarkeit ausdrücklich bestimmte. Als wir einmal von den Hügeln des Rheingaus den Rhein betrachteten, der groß und breit nach Westen strömt, sagte Charlotte: »Er fließt nach Holland.« Holland, das war das Land, in das ihr Vater mit seiner Familie hatte fliehen wollen. Ich glaube, mit Holland verband sie ihre Vorstellungen von Freiheit. Eine zweite Reise machte Charlotte 1948 in den Ferien auf Einladung ihres Onkels Arthur, der seine Bijouteriefabrik in Pforzheim hatte aufgeben und nach England emigrieren müssen. Er lebte in London als Vertreter für Bijouterien und nahm Charlotte mit, wenn er bei den Einkäufern der großen Warenhäuser vorstellig wurde. Sie war von der distinguierten Art beeindruckt, in welcher die Verhandlungen geführt wurden, bei denen der englisch korrekt gekleidete Onkel in einem eleganten ledernen Musterköfferchen Strassbroschen präsentierte. Der höfliche Umgang entsprach – wie ich glaube – nach der zwanghaften Nähe in den Luftschutzkellern und den ebenso provisorischen wie drangvollen Lebensverhältnissen der Nachkriegszeit einem ausgeprägten Zug ihres Charakters: dem Bedürfnis nach Distanz. Charlotte achtete auch später – in den entfesselten 1960er- Jahren – auf Umgangsformen und verbarg ihre Verletzlichkeit hinter großer Höflichkeit. So erschien sie vielen als unnahbar. Tatsächlich besaß sie die Gabe, zudringliche Personen durch einen einzigen Blick sternenweit entfernen zu können. Sie war verschlossen, sprach wenig, in kurzen Sätzen und sehr überlegt.
Aus England kam sie mit einem britischen Akzent zurück, was ihre Freundin Mary als Amerikanerin sehr verdross, und sie bestand das Abitur 1951 nicht nur in Englisch, sondern auch in Sozialkunde und Kunsterziehung mit »sehr gut«, wobei zu bemerken ist, dass »sehr gut« in jenen Zeiten das Prädikat für wirklich ausgezeichnete Leistungen war. Im Reifezeugnis ist weiter vermerkt, dass Charlotte an Arbeitsgemeinschaften in Deutsch, Geschichte, Zeichnen und Bühnenspiel teilgenommen hat. Weiter, dass ihre Jahresarbeit, Linolschnitte zum Johannisevangelium, mit »sehr gut« bewertet wurde und dass sie »an Stelle von Mathematik Bildende Kunst als Leistungsfach gewählt und darin überragende Leistungen erzielt« habe. Die naturwissenschaftlichen Fächer interessierten sie dagegen wenig (befriedigend, ausreichend). In allen übrigen Sprachen erhielt sie die Note »gut«. Man sieht, dass Charlotte eine sehr zielstrebige Schülerin war. Die sehr guten Leistungen in Kunst und Sozialkunde lassen die beiden starken Interessen erkennen, die ihr späteres Leben bestimmten: Kunst und Soziologie.
Ihre Englischkenntnisse machten es ihr später leicht, etwa mit Carl Andre oder Sol LeWitt umzugehen, die sie über Konrad Fischer kennenlernte. Zusammen mit Arbeiten dieser beiden und einer Reihe anderer Künstler, die heute kaum weniger berühmt sind, hat Paul Maenz vier von Charlottes Reliefs in seiner ersten Ausstellung Serielle Formationen im Jahre 1967 in der Studiogalerie der Frankfurter Universität gezeigt.
5 Studium, Bühnenbildnerin
Die Kunstlehrerin Jüttner hielt Willi Baumeister für den wichtigsten deutschen Künstler jener Zeit und konnte Charlottes Mutter überzeugen, ihre Tochter nach Stuttgart ziehen zu lassen, wo sie – per Zufall – in einem kleinen Zimmer des Corbusier-Hauses in der Weißenhofsiedlung unterkam. An der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste studierte sie in den Jahren 1951/52 zusammen mit Winfried Gaul und Peter Brüning. Beide Künstler sind tot. Gaul hat Charlotte eine Postkarte geschickt, auf der er schreibt, ihre Sachen seien das Beste, das er in letzter Zeit gesehen habe. Willi Baumeister war für sie nicht nur ein kluger, einfühlsamer Lehrer, dem sie große Bewunderung entgegenbrachte, sondern er verliebte sich auch in die intelligente, schöne 21-jährige Frau. Er schenkte ihr Drucke und Bilder, die er ihr widmete. Von seinen Reisen schickte er Postkarten, die ich nach Charlottes Tod dem Willi-Baumeister-Archiv überlassen habe. Er sandte ihr am 14. Oktober 1952 einen interessanten Brief, in dem er eine Einschätzung ihrer Begabung und ihres Charakters gibt: »sie werden sich langsam, vielleicht sehr langsam, durchsetzen. meine überzeugung steht fest. sie werden alles gewinnen, was sie wünschen. ihre meinungen und ihre gesamte natur scheint mir klar gegründet und harmonisch [.. .].« Was Charlottes angeblich harmonische Natur anlangt, so hat sich Baumeister meines Erachtens insofern geirrt, als er Charlottes großes Bedürfnis nach Harmonie als Harmonie ihres Charakters missverstand. Gerade weil sie überall Widersprüche fand – auch in sich selbst, denkt man nur an ihre widersprüchliche Herkunft –, wünschte sie sehnlich deren Lösung. Ich glaube, dass ihre schließliche Hinwendung zur Geometrie, die ja nicht nur für Technik und Architektur, sondern für unsere gesamten Lebensverhältnisse grundlegend ist, insofern sie einen Code von größter Allgemeinheit abgibt, auch psychologisch zu deuten ist: Auch die Hinwendung zur Geometrie zeugt meines Erachtens von Charlottes großem Bedürfnis dazuzugehören. Denn anstelle eines künstlerischen Individualcodes, der in den Zeiten, da Kunstwerke – wie die des Informel – sehr entschieden Autonomie beanspruchten, die übliche Art des künstlerischen Ausdrucks war, wählte sie mit der Geometrie einen Code, der es erlaubt, sich bildnerisch tendenziell allgemeinverständlich auszudrücken und sich an die große Tradition der Moderne anzuschließen. Da sie der Individualität misstraute – auch ihrer eigenen – bot ihr die Geometrie auch Schutz.
Ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit drückt sich überall aus: zum Beispiel auch, wenn Charlotte ihren avantgardistischen Citroen gegen ein weniger auffälliges Auto tauschte und die pop-grelle Kleidung aus jener Zeit, als sie mit Peter Roehr und Paul Maenz zusammen war, zu Beginn ihres Studiums ablegte und fortan farblich undefinierbare Pullover und Hosen trug. Den à la Angela Davis auffälligen Afrolook ihrer Haare schnitt sie sich wieder zurück. Sie wollte aussehen wie jedermann und auf keinen Fall mehr extravagant. Die Vorstellung, ein besonderes, einzigartiges Individuum zu sein, erschien ihr falsch, und gar als einzigartiges Individuum leben zu wollen, eher komisch. Denn die Einzigartigkeit erschien ihr in hohem Maße eingebildet, wenn das Individuum – wie so oft – vergisst, dass es aus biologischem Erbgut und den ungeheuren sozialen Vorleistungen anderer Menschen besteht. Doch soll das nicht heißen, dass sie sich einfach anpasste, denn Charlotte war und blieb eine Einzelgängerin. Aber sie wollte nach ihrer Trennung von der Kunst ein Leben führen, wie es im Prinzip jeder führen könnte – nicht etwa wie es jeder tatsächlich führte. Sie liebte einfache Gegenstände von Qualität. Alles in unserer Wohnung war in dem Sinne verallgemeinerbar, dass im Prinzip jedermann hätte so leben können. Das war in Bezug auf die Ästhetik eine Art kategorischer Imperativ. Charlotte hatte zum Beispiel beschlossen, eine bestimmte Steckdose für die bestgeformte zu halten und wollte genau diese haben. Doch wurde das Modell in den Frankfurter Läden nicht geführt. Während ich längst irgendeine Steckdose genommen hätte, nur damit das Problem endlich gelöst wäre, fand Charlotte es richtig, die Fa. Siemens aufzusuchen. Wir wurden in einen Empfangsraum geführt und warteten, bis ein Herr erschien und uns höflich nach unseren Wünschen fragte. Charlotte sagte ihm, dass sie eine bestimmte Steckdose kaufen wolle. Der Herr fragte uns, wie viele wir denn benötigten. Wir sagten: fünf. Er sah uns an, als hielte er uns für verrückt. Doch Charlotte war geschickt genug zu erwähnen, dass ihr Mann Architekt war. Wie bekamen die fünf Steckdosen.
Diese Hartnäckigkeit auch bei dem, was andere als Quantité négligeable betrachten, war ein Charakterzug. Charlotte erwähnte ein mal, der Frankfurter Architekt Ferdinand Kramer, den sie bewunderte, habe gesagt, ein Ding müsse innen so gut gearbeitet sein wie außen. Eine Hinterseite gebe es nicht. Dieses Qualitätsbewusstsein teilte sie. In unserer Wohnung gab es nichts Individuelles, keinen Nippes, keine Erinnerungsfotos. Manche Gäste erschraken, weil wir überall Neonlicht hatten, es wirkte auf sie unpersönlich, und sie fühlten sich zu sehr an Arbeit erinnert. Aber Charlotte wollte offensichtlich genau diesen Eindruck erwecken. Sie wollte sich und anderen zeigen, dass wir hauptsächlich arbeiteten und uns zur Arbeit zusammengetan hatten – was in vieler Hinsicht stimmt, in anderer aber nicht.
Es liegt auf der Hand, dass Charlotte in der Art zu wohnen ein Konzept der klassischen Moderne umzusetzen suchte. Ihre Vorliebe für weiße Wände erklärte sie mir plausibel: Es solle nicht darum gehen, dass die Bewohner ihre »Ichigkeit« über die Wände verbreiteten, indem sie ihre Individualität in Gegenständen dokumentieren, sondern sie sollten selber lebendig und scharf konturiert vor der freien Fläche agieren. Die eklektizistische Wohnkultur des 19. Jahrhunderts, in welcher die Personen in der Überfülle der Gegenstände so wenig erkennbar waren, dass man sie selber für Gegenstände halten konnte, war ihr ein Graus. Den gewissen totalitären Aspekt der Moderne – den Willen zur Durchgestaltung des ganzen Lebens (Adolf Loos hat darüber einen witzigen Text geschrieben) – sah sie nicht oder wollte sie nicht sehen. Sie teilte die Idee des »one best way«, also die Vorstellung, dass es beispielsweise ein ideales Trinkglas gäbe, das – hatte man es einmal konkretisiert – die Frage des richtigen Trinkgefäßes ein für allemal gelöst hätte. Die bisherigen Lösungen wären dann entweder Annäherungen oder Irrwege. Es wäre dann das optimale Glas gefunden, aus dem jedermann zu allen Zeiten trinken konnte. Es ist klar, dass solche Ideale dem Geist kapitalistischen Wirtschaftens völlig widersprechen.
Die pluralistische Postmoderne, welche die Form vom Inhalt gelöst hat und damit den Weg eröffnet, beispielsweise eine Fülle immer anderer Korkenzieher zu designen, hat Charlotte nicht mehr erlebt. Sie hätte damit Probleme gehabt. Sie dachte wie alle radikal Modernen eher in den Kategorien »entweder – oder«. Das tolerante bis gleichgültige »Sowohl-als-auch«, das wir heute leben – meines Erachtens in einer ausdifferenzierten Gesellschaft unumgänglich –, hätte ihr nicht gefallen. Ihre Haltung hat nichts von einer Meinung, die man wechseln kann, sondern war – wie ich glaube – die Lebensstrategie, mit der sie sich von ihrem – durch die Ächtung als »Mischling « und durch den Künstlerberuf erneut entstandenes – Anderssein zu lösen suchte, um sich an die große Tradition der Moderne anzuschließen. Dieser Versuch war als freiwillige Konstruktion eine durchaus selbstständige Lebensgestaltung.
Es sei in diesem Zusammenhang vermerkt, dass Charlotte, die den Beruf des Künstlers, der mit altmodischen Gerätschaften jenseits entwickelter Techniken vor sich hinwerkelte, für überholt und lächerlich hielt, an die Möglichkeiten der Technik glaubte. (Mit den elektronischen Medien zu arbeiten, wie Künstler es heute tun, hätte ihr vermutlich sehr gefallen.) Als wir aber im Laufe unseres Soziologiestudiums erkannten, dass Technik immer weniger ein neutrales Mittel ist und immer mehr von vornherein unter kapitalistischen Interessen entwickelt wird, war das für Charlotte eine ebenso gravierende Einsicht wie die, dass Kunst – seit der Ausdifferenzierung des Kunstbetriebs zu einem marktregulierten Subsystem gegen Ende der 1960er-Jahre – eine Ware wie jede andere ist.
Doch zurück in die frühen 1950er-Jahre: In den zitierten Brief von Baumeister war ein kleines Foto eingeklebt, das er selbst gemacht hatte. Daneben steht handschriftlich: »herausnehmen, nicht im Brief lassen!« Das Foto zeigt eine junge Frau mit einer Perlenkette, liegend und nackt: Charlotte! Sie hat ihm offenbar Modell gesessen. Baumeister schreibt recht großväterlich, dass nichts einen Alten mehr wärme, als wenn Wärme von der Jugend zu ihm komme. Der 1889 geborene Künstler war damals 63 Jahre alt. Charlotte fühlte sich, wie sie mir selbst gesagt hat, zu älteren Männern hingezogen, und sie zeigte mir einmal in Darmstadt das Hotel, über dessen Dach sie nachts hinabgeklettert war, um – in der prüden Adenauerzeit – sich und ihren verliebten alten Lehrer morgens nicht in Verlegenheit zu bringen. Die beiden siezten einander, das Verhältnis blieb eine zärtliche Freundschaft.
Ich weiß nicht, was Charlotte bewog, ihre Studien so schnell abzubrechen und nach Lübeck ans Theater zu gehen. War das Verhältnis zu Baumeister schwierig geworden? Glaubte sie, an der Hochschule nichts mehr lernen zu können? Wollte – oder musste – sie Geld verdienen? Reizte sie die Praxis als Bühnen- und Kostümbildnerin? Charlotte liebte das Theater, das sie ja seit ihrer Schulzeit auch hinter den Kulissen schon kannte. Feststeht, dass sie – anders als ihre Mitstudenten – keine freischaffende Künstlerin werden wollte. Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass Kooperation für Charlotte ein paradigmatischer Begriff war. Sie war von der Zusammenarbeit, so schwierig sie sein mochte, grundsätzlich begeistert. So haben wir zum Beispiel auch unsere Diplomarbeit Satz für Satz gemeinsam geschrieben und ließen uns zusammen prüfen. Sie erklärte mir öfters, wie fortschrittlich sie es fand, dass am Theater Hunderte von Menschen – vom Posaunisten bis zum Bühnenarbeiter – zusammenwirkten, um ein gemeinsames Produkt hervorzubringen. Hinter dem Tenor, dem applaudiert wird, stehen all die anderen, die die Vorstellung ermöglicht haben. Er ist nicht nur er, sondern er verkörpert alle anderen. In ihm werden alle gefeiert, die unsichtbar bleiben. Charlotte besaß einen starken Sinn für unsichtbar gewordene Vorleistungen, die eine Leistung erst ermöglichen. Diese Kooperationserfahrung spielte auch später in ihrer Kunst eine große Rolle, wo es bei den sogenannten Vierkantrohren darum ging, dass andere – von den Helfern bis zum Publikum – die Elemente des Bausatzes aus Wellpappe gemeinsam nach eigenen Kriterien zusammenbauen sollten. Charlotte interessierte sich generell und lange bevor sie studierte für das, was die Potenzen des einzelnen Individuums übersteigt. Sie nannte das »das Gesellschaftliche« – also Kooperation in höchster Potenz –, die sie in bestimmten sozialen und auch technischen Errungenschaften besonders sinnfällig veranschaulicht sah. Von daher hatte sie eine Vorliebe für Größe, große Maschinen, riesige Brücken, Hochhäuser, Autobahnen. Sie schrieb, ihre Objekte sollten so groß sein, dass sie nur von Kränen bewegt werden könnten. Ihr positives Verhältnis zu Amerika, wo Größe eine eigene Qualität ist, blieb ungebrochen. An Größe konnte jeder deutlich sehen, dass die Verwirklichung solcher Objekte die Kräfte eines Einzelnen weit übersteigt. Ihre Vorbehalte gegen einen naiven Individualismus rühren auch daher, weil sie sich der Vorleistungen stets bewusst war, das heißt der Tatsache, dass wir die kleinste Handlung – man denke an die Selbstverständlichkeit von fließendem Wasser, Heizung, Licht, Kanalisation etc. – nur auf der Basis der Arbeit anderer ausführen können. In diesen Zusammenhang gehört auch ihre Entscheidung, sowohl ihre Vierkantrohre als auch den Großen Drehflügel, der jetzt im Museum Ludwig in Köln ist, auf dem Frankfurter Flugplatz aufbauen und fotografieren zu lassen. Ebenso wenig zufällig wie der Flugplatz ist die Verkehrsinsel, auf der Charlotte vor dem Schloss in Offenbach ihre Vierkantrohre postiert hat. Der Filmemacher Gerry Schum hat ihr am 20. November 1967 eine Postkarte geschrieben: »Die ›offenbacher Szenen‹ sind sehr schön geworden. Kunst im Straßenverkehr! « Charlotte betrachtete sowohl den Flugverkehr wie auch den Straßenverkehr als ein riesiges Verteilungsnetz, in dem sich »das Gesellschaftliche« manifestiert. Diese Orte sind als Kontext ihrer Objekte also keineswegs zufällig im Sinne einer attraktiven »location «, wo man in den 1990er-Jahren Kunst präsentierte, um sie durch die ungewöhnliche Umgebung interessanter wirken zu lassen. Wenn ich nach Charlottes Tod in den Jahren 1988 und 1989 große Installationen in der Frankfurter Großmarkthalle, in einem Hangar der Lufthansa, auf dem Frankfurter Hauptbahnhof, in den Zwillingstürmen der Deutschen Bank, auf der Frankfurter Messe und in den Farbwerken Hoechst gemacht habe, Installationen, die zum Teil nur einen Tag lang standen, um fotografiert und gefilmt zu werden, dann bezogen sie sich auf Charlottes Vorstellung von gesellschaftlichen Orten, Orten, an denen das Gesellschaftliche anschaulich zu Tage tritt. Die Ausstellung in der Großmarkthalle (1988, als Knoten eines Warenverteilungsnetzes) war die erste, auf der die riesigen Vierkantrohre aus Pappe außerhalb der Galerie und an einem ungewöhnlichen Ort gezeigt wurden. Ich habe zusammen mit Marco Gietmann die ganze Straße zwischen dem Portikus, wo Kasper König am selben Abend Franz West zeigte, bis zur Großmarkthalle plakatiert. Von dieser Ausstellung wurde noch lange gesprochen, denn weder waren Charlottes Arbeiten noch war Martin Elsässers Großmarkthalle – außer bei den Architekten – in der Kunstszene weiter bekannt.
Ich hatte die Objekte zusammen mit den Zivis der Gemeindeschwester Annelie Traud, die Charlotte bis zu ihrem Tode gepflegt hat, in sehr großen Abständen auf den Bahnsteigen postiert, zwischen denen hier und da Güterwagen standen. (Die Frankfurter Juden waren von hier in ebensolchen Güterwagen abtransportiert worden, aber ich habe den Ort nicht darum, sondern aus den oben erläuterten Gründen ausgesucht. Niemand wusste damals, dass Charlotte jüdischer Herkunft war.) Die Objekte wirkten in der düsteren und schmutzigen Umgebung sehr fremdartig, zugleich aber merkwürdigerweise auch so, als gehörten sie hierher. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie sehr der Kontext die Erscheinung eines Kunstwerks mitbestimmt. Danach war die Großmarkthalle unter den Kunststudenten Kult, seitdem nämlich Bärbel Grässlin alle, die kamen – und es kamen wirklich unglaublich viele –, auf Kosten ihrer Galerie in die schäbige Kneipe eingeladen hatte, wo die Arbeiter nachts um drei eine heiße Suppe essen und andere sich betrinken. Die Objekte standen dort drei Tage, nachts schlossen wir sie in einen der Käfige ein, wo die Händler ihre Waren stapeln.
Lange musste ich rätseln, bis ich Charlottes sonderbare Bemerkung verstand: »Das Frankfurter Kreuz gehört mir.« Sie erzählte mir, welches Vergnügen es ihr gemacht hatte, das Frankfurter Kreuz aus dem Flugzeug zu sehen und dann selbst darauf herumzufahren. »Frankfurter Kreuz«, der Titel der Ausstellung, die Kasper König kurz vor seinem Weggang nach Köln noch eingefädelt hatte und in der Charlottes Drehflügel im Sommer 2001 zum ersten Mal nach über dreißig Jahren wieder zu sehen waren, passte wunderbar zu ihrer Arbeit. Charlotte hatte also ihre Vorstellungen von »dem Gesellschaftlichen « schon entwickelt, bevor sie mit großer Genugtuung die in Band II des Kapitals dargestellten Waren- und Geldkreisläufe zur Kenntnis nehmen konnte, die theoretisch ähnlich wie der Blutkreislauf in einem Organismus funktionieren.
Psychologisch gesehen passt auch dieses starke Bedürfnis nach Zusammenarbeit, wie sie sich letztlich im Zutagetreten »des Gesellschaftlichen « manifestiert, zu ihrem tiefsten Wunsch, dazuzugehören. Es spielt dabei vielleicht eine Rolle, dass Charlotte – sieht man einmal von ihrer besitzergreifenden Mutter ab – allein auf der Welt war. Der Vater war tot. Geschwister hatte sie nicht. Die jüdischen Verwandten in Amerika hatten keinen Wert darauf gelegt, nach dem Krieg mit Ellen Mayer wieder Kontakt aufzunehmen. Früher, zu Dr. Mayers Lebzeiten, waren sie auf einer Europareise hin und wieder vorbeigekommen und suchten Ellen Mayer in Verlegenheit zu bringen, indem sie an der Art, das Essen aufzutragen, am Service oder dem Silberbesteck herummäkelten. Sie wollten Charlottes Mutter fühlen lassen, dass sie ein unwillkommener Parvenü war. Öfters kam nur Cousin Heinz Homburger aus Brasilien, da er in der damaligen Tschechoslowakei Import-Export-Geschäfte abzuwickeln hatte. Charlotte fragte sich öfters, ob das nur Maschinen waren, wie Heinz behauptete, der seine Karriere als Geschäftsmann durch den Verkauf von Macheten begonnen haben wollte. Er war frech und vergnügt und machte mit den beiden Frauen Picknicks im Grünen. Ich habe ihn später kennengelernt, wir sind zusammen in den Rheingau gefahren und haben viel gelacht. Seine Spezialität war es, auch bei Kurven stets geradeaus zu fahren und im letzten Moment einen Haken zu schlagen, sodass die Insassen aufschrien. Die Verwandten ihrer Mutter waren verstreut und für Charlotte nicht sonderlich interessant. Sie kannte sie kaum. Dem Friseur brachte sie in der Nachkriegszeit, als die armen Leute sich nur von Steckrüben ernährten, hin und wieder von ihrer Mutter etwas Gutes zu essen. Zum Fehlen einer Familie kam hinzu, dass Charlotte bei aller Zielstrebigkeit scheu war. Auf den wenigen Fotos, die es von ihr gibt, macht sie oft ein ängstliches, ein wie erschrecktes Gesicht. Nie gelang es ihr, das zu entwickeln, was man ein »dickes Fell« nennt. Obwohl Charlotte einmal zu Fastnacht, von Freunden der Mutter nach Mainz eingeladen, die ganze Nacht wie ein Derwisch – sie sagte: »wie ein Derwisch« – mit wem auch immer von einem Saal zum anderen getanzt hatte – es war, sagte sie, »wie ein Rausch« –, ging sie morgens früh allein fort. Sie konnte mit den Menschen ihres Alters wenig anfangen. Sie war ja schon auf der Schule älter gewesen als ihre Mitschülerinnen, was Freundschaften sicher erschwert hat. So ging Charlotte also schon im Jahre 1952 nach Lübeck und wurde an den dortigen Städtischen Bühnen Bühnen- und Kostümbildnerin. Sie schwelgte in Stoffen. Sie genoss es, glänzende Stoffe, die man vor ihr ausbreitete, ballenweise für die Theaterschneider einzukaufen, die bei ihrer Arbeit auf großen Tischen saßen. Auf einem Abstecher nach Lübeck hat mir Charlotte später das Haus, ja sogar das Zimmer gezeigt, in dem sie damals untergekommen war, denn das Haus gehörte der Kommune und man konnte es betreten, weil es gerade renoviert wurde. Hier habe sie das vereiste Wasser in ihrer Waschschüssel mit der Schere aufgehackt, und es habe draußen immer merkwürdig süßlich gerochen, weil nicht weit entfernt eine Rumfabrik war.
Sie hatte in Lübeck einen Freund, dessen Namen ich vergessen habe, er hatte einen einfachen deutschen Vornamen wie Hans oder Helmut. Es war ein Kollege, mit dem sie zusammenarbeitete, auch er Bühnenbildner, ein verlässlicher Mann. Er war viel älter als sie, und er war im Krieg gewesen. Sie fuhren zusammen Fahrrad. Ich glaube, der Mann kam aus bäuerlichen Verhältnissen und sie haben einmal in den Theaterferien das Dorf besucht, aus dem er kam. Im Odenwald? Ich weiß es nicht mehr.
Charlotte nahm in Lübeck den Künstlernamen Carola an, Carola Mayer. Sie entwarf Kostüme für etwa 30 Stücke – darunter Puccinis Turandot – und zeichnete, soweit ich das von der Lübecker Theaterbibliothek erfahren konnte, als Bühnenbildnerin verantwortlich, (wenigstens) für George Bernhard Shaws Helden, den Bärenhäuter von Paul Williams und die musikalische Komödie Feuerwerk von Erik Charell und Jürg Amstein. Charlotte arbeitete leidenschaftlich. Wenn ihr eine Arbeit gefiel, hörte sie nie auf zu arbeiten. Es war so, scheint es mir rückblickend, als habe sie sich erst in der Arbeit wirklich gespürt. Später, als wir zusammenarbeiteten, habe ich ihr hin und wieder sagen müssen, dass ich nicht mehr konnte, dass ich, obwohl sechs Jahre jünger als sie, fix und fertig war – was sie sehr irritiert hat. Sie war die Erste, die kam, und die Letzte, die ging. Dass Kollegen nach Hause gingen, obwohl die Sache, die anstand, noch nicht fertig war, fand sie merkwürdig. So sehr sie die Gewerkschaften schätzte, brachte sie doch kein Verständnis dafür auf, dass die organisierten Orchestermitglieder zum Dienstschluss ihre Instrumente sinken ließen wie der Bauarbeiter seine Schippe – auch wenn die Probe noch nicht zu Ende war. Und dass man etwas anderes lieber machen könnte als die Arbeit am Theater – dieser so wunderbaren Institution –, verstand sie nicht recht. Charlotte gehörte mit 24 Jahren zu den Vorständen und hatte dadurch Einfluss auf die künstlerische Gestaltung der Stücke. 1953 gab es Festspiele in der Kirche St. Marien, bei denen der Jedermann und das Oratorium Johanna auf dem Scheiterhaufen von Paul Claudel und der Musik von Arthur Honegger aufgeführt wurden. Charlotte hatte auch für dieses herausragende Ereignis die Kostüme entworfen. 1954 gastierte das Lübecker Opernensemble mit Glucks Iphigenie auf Tauris und Arabella von Richard Strauß im Staatstheater Malmö. Das Ensemble fuhr samt Kulissen mit der Fähre nach Schweden. Es scheint ein Erfolg gewesen zu sein, alle verbrüderten sich, und Charlotte, die auch hier die Kostüme entworfen hatte, war erstaunt, wie viel die Schweden tranken. Anita Ekberg, die am dortigen Theater engagiert war und heute hauptsächlich durch die Szene im römischen Trevi-Brunnen in Erinnerung ist, wo Mastroianni ihre fremdartige Ungezwungenheit bewundert, war so betrunken, dass sie bei der Abfahrt der Fähre am Pier einen Handstand machte, erzählte mir Charlotte einmal vergnügt.
Willi Baumeister machte hin und wieder Bühnenbilder für das damalige Landestheater und heutige Staatstheater Darmstadt, dessen Intendant Gustav Sellner war – der damals neben Berthold Brecht wohl bedeutendste Regisseur in Deutschland. In der Ära Sellner (1951–1961) spielte man in der »Orangerie« auf einer winzigen Bühne. Die Fenster der Orangerie waren zugemauert. Ich glaube, Sellner und Baumeister waren befreundet. Baumeister hatte Charlotte schon einmal zum Kulissenmalen am Darmstädter Theater herangezogen und arbeitete gern mit ihr zusammen. Auf dieser Basis bot Sellner Charlotte eine Stelle als Ausstattungsassistentin neben den Bühnenbildnern Franz Mertz und Elli Büttner an. Das akzeptierte sie gern, weil es ihr Freude machte, unter einem so guten Intendanten zu arbeiten. So wohnte sie 1954 wieder in Wiesbaden bei ihrer Mutter und fuhr jeden Tag mit dem Bus nach Darmstadt. Von ihrer Mutter wurde Charlotte recht herrisch umsorgt. So brachte Frau Mayer ihrer Tochter einen Topf Essen bis zum Bus oder erschien unangemeldet zu den Proben und ließ sich vom Personal auch nicht abweisen. Beruf und Privatleben zu trennen, konnte Charlotte ihr nicht beibringen, und so kam es wohl zu manch peinlicher Szene.
Charlotte hatte mit der Schwester von Paul Posenenske zusammen das Abitur gemacht, die ihrem Bruder von ihr vorschwärmte. Es gelang der Schwester, die beiden miteinander bekannt zu machen, und so bekam Charlotte einen ernsthaften Verehrer, der es sich nicht nehmen ließ, stundenlang auf sie vor dem Theater zu warten. Paul war ein bedächtiger, qualitätsbewusster Mann, der seine Arbeit als Architekt ebenso ernst nahm wie Charlotte ihre Theaterarbeit. Er hat in den späten 1950er- und 1960er-Jahren in Hessen Kirchen und Schulen gebaut. Es gelang ihm leicht, Charlotte noch mehr für die Architektur zu interessieren, und er beeinflusste darin auch ihre spätere Arbeit als Künstlerin, die – denkt man an die riesigen Vierkantrohre oder die Drehflügel-Objekte von 1967 – ganz wie es in Russland El Lissitzky und in den Niederlanden Mondrians De-Stijl-Bewegung gefordert hatten – in Richtung Architektur gingen. Das letzte – von Charlotte nicht in die Praxis umgesetzte – Konzept zeigt zwei raumhohe, an zwei rechtwinklig aufeinander stoßenden Wänden befestigte Drehflügel, die sich zu einem Kubus schließen lassen, dessen eine Ecke die Wandecke ist. Es handelt sich also um eine Art Raumteiler, der in einem Büro oder einem großen Wohnraum installiert werden könnte. Mehr als die Begehbarkeit der Drehflügel ist hier eine Benutzbarkeit von Kunst angedeutet, die heute wieder interessant geworden ist. Charlotte dachte ganz in der Tradition des russischen Konstruktivismus, von De Stijl« und des Bauhauses, die alle durch Kunst den Alltag zu formen suchten. Weg vom Tafelbild, in welchem sich die alte Vorstellung erhält, durch ein Fenster auf eine imaginäre Welt zu blicken, das Tafelbild, das den Menschen als Betrachter, als Zuschauer, definiert und nicht als einen, der ins Leben eingreift, das Tafelbild, das Dekoration bleibt und das schlechte Leben verschönert, das Tafelbild, das sich am leichtesten verkaufen lässt, weil es sich in jeden bereits vorhandenen Raum einfügt. Unter dieser Perspektive ist Architektur, in der man wirklich arbeitet und lebt, die Kunstform, zu der sich die Kunst fortentwickeln muss. In diesem Zusammenhang ist zu sehen, dass die Drehflügel das Format von Türen haben und das Objekt begehbar ist. Die Begehbarkeit übrigens, die ja – als ein Wechsel des Gesichtspunkts, unter dem ein Kunstwerk gesehen wird, und als damals aktueller Ausdruck der Partizipation – gleichzeitig auch etwa bei Carl Andre eine große Rolle spielt, der im selben Jahr bei Konrad Fischer ausgestellt hat wie Charlotte, wird auch schon bei den Vierkantrohren thematisiert. In der Ausstellung bei art & project in Amsterdam ließ Charlotte – wie eine Zeichnung belegt – innerhalb der Installation der Vierkantrohre aus Stahlblech einen kleinen Zwischenraum, der sich nicht aus den Maßen des Baukastensystems ableiten lässt. Wieso gerade 32 Zentimeter? Denselben Zwischenraum lässt sie auch bei der Ausstellung im Nürnberger Werkbund, wo übrigens Joseph Beuys ihre Arbeit gegen einen Haufen aufgebrachter Besucher verteidigte. Ich habe Niele Toroni gefragt, als er im Frankfurter Portikus arbeitete. Und Toroni, der den bloßen Abdruck seines Pinsels Nr. 50 seit den späten 1960er-Jahren auf allem hinterlässt, was ihm dazu geeignet erscheint, immer im selben Abstand von 30 Zentimetern, der dem Bewegungsspielraum seines Arms entspricht, bestätigte meine Vermutung spontan: Die ominösen 32 Zentimeter ergeben sich aus den Maßen des menschlichen Körpers. Man braucht gerade einen solch breiten Zwischenraum, um die Installation zu durchqueren. Zu durchqueren wie dann auch die Drehflügel, bei denen die Begehbarkeit des Objekts deutlicher thematisiert ist. In der Tradition von El Lissitzky hat der Weg vom Tafelbild und den auf der Bildfläche illusionierten Räumen hin zum Realraum, in dem wir leben, eine politische Dimension auch bei Charlotte: Es ist tendenziell der Weg vom interesselosen Anschauen zum interessierten Handeln, der Weg von der Ästhetik zur Politik – sieht man hier einmal davon ab, dass auch die Politik ästhetisiert wird. Dies ist der soziale Kern des Fläche-Raum-Problems, das Charlotte stets beschäftigt hat, das heißt, es handelt sich dabei nicht um ein bloß ästhetisches Problem, wie man annehmen könnte.
6 Heirat mit Paul Posenenske
Charlotte fand bei Paul Posenenske nicht nur großes Verständnis für ihre Konzepte, sondern auch technischen Rat. Oft instrumentalisierte sie seine Angestellten, etwa Herrn Bötzel oder Herrn Schulz, mit dem sie auch nach ihrer Scheidung eine lockere Freundschaft verband. Ich sage bewusst »instrumentalisieren«, denn wer das Glück hat, Künstler persönlich zu kennen, weiß, dass sie für ihre Kunst rücksichtslos alles und jeden in Dienst nehmen. Diese Rücksichtslosigkeit ist ein Aspekt ihrer Radikalität. Bötzel hat ihre Arbeiten öfters fotografiert (etwa die im Hangar der Lufthansa). Wir haben Horst und Phili Schulz später in Frankfurt-Oberrad hin und wieder besucht. In dem, was sie sagte, immer sehr bündig, beantwortete Charlotte meine Frage, warum sie Paul Posenenske geheiratet habe: »Er war ein sehr guter Architekt.« Das meinte sie durchaus nicht maliziös. (Für die kleinen geistreichen Bosheiten, auf die intelligente Menschen ungern verzichten, hatte sie nichts übrig. Sie amüsierte sich eher über Dinge, über die auch Kinder lachen.) Aber Paul Posenenske wollte eine Familie gründen, was sich mit Charlottes Theaterarbeit und vielleicht auch mit ihrem Charakter wenig vertrug. Sie wollte nicht einmal heiraten. Ihr genügte ein Verhältnis, das sich um eine nützliche, achtbare Arbeit bildete. Sie wollte, dass er ihr irgendwo auf einer Wiese eine Art Baracke baute, worin sie arbeiten könnte. Tatsächlich kauften sie später auf dem Lerchesberg in Frankfurt-Sachsenhausen ein Handtuch von Grundstück mit Brombeerhecken, Kirsch- und Pflaumenbäumen. Zu dem Atelier kam es allerdings nie. Aber es gab im Herbst so viel Obst, dass Charlotte alle Leute, die sie kannte, zum Ernten einlud. Paul Posenenske war Sozialdemokrat, er war auf Seiten der Gewerkschaften und er war im Krieg gewesen. Vor allem war er eindeutig gegen die Nazis eingestellt, deren Denkmuster bis in die frühen 1960er-Jahre noch überall anzutreffen waren. Diese Aspekte seiner Person schätzte Charlotte besonders. Paul war ein reifer, väterlicher Mensch, der Charlotte – ebenso wie ihre Mutter – zur Heirat drängte, die dann schließlich am 1. Dezember 1955 auch stattfand. Ellen Mayer legte Wert darauf, die Hochzeit stilvoll zu begehen – Charlotte selbst wäre wahrscheinlich nach der standesamtlichen Trauung wieder zum Theater gefahren, um ihre Arbeit fortzusetzen. Aber damit war es schon vorbei, wie ich gleich berichten werde. Ihre Mutter mietete einen kleinen Saal im Wiesbadener Kurhaus und gab dort ein apartes Diner. Die Gäste fanden in ihren Servietten ein großzügig bemessenes Jeton, um nach dem Essen in der Spielbank, die sich im selben Hause befindet, ein wenig »jeuen« zu können. Als Paul Posenenske in Kassel eine Professur erhielt, freute sich Ellen Mayer, dass ihre Tochter doch eine »gute Partie« gemacht hatte. Zur Hochzeit waren auch zwei ältere Herren eingeladen, die Verehrer von Frau Mayer waren: der halbblinde Steuerberater Focker, der mit seiner dicken Brille einer Schildkröte ähnlich sah. Dieser höfliche Herr, der sich auch später noch in die Mansarden hinauftastete, um für Charlotte die Steuern zu machen, und seine winzigen Zahlen mit einem scharf gespitzten Bleistift – die Augen fünf Zentimeter über dem Teetischchen – zusammenaddierte, behauptete immer, er könne schneller rechnen als ein Computer. Charlotte richtete für ihn gewöhnlich ein wenig Gebäck und Kaffee auf einem Sèvres-Service an. Den Kuchen holten wir aus einem nahen Café – und Charlotte wählte sorgfältig. Herr Focker liebte es, nach getaner Arbeit bei einem Glas Rauenthaler von Ellen Mayer zu schwärmen, die er sich nicht scheute, »eine tolle Frau« zu nennen.
Der zweite alte Herr, der Charlotte aus dem Kreise ihrer Mutter übernommen hatte, war Dr. Joseph Grebner, ein lebensfroher, tief katholischer ehemaliger Senatspräsident eines hohen Gerichts, der Charlotte wie zuvor auch ihre Mutter in juristischen Dingen beriet. Er hatte einen hoch komplizierten Mietvertrag für die Apotheke entworfen, der zur Folge hatte, dass Charlotte die Miete 30 Jahre lang nicht erhöhen konnte, sodass sie recht sparsam leben musste. Obwohl er meist eher langweilig vom Heiligen Thomas von Aquin sprach und uns in philosophisch-theologische Fragen zu verwickeln suchte, mochte Charlotte den altmodischen Herrn, der von der leiblichen Auferstehung fest überzeugt war und sich freute, bald alle seine Lieben im Himmel wieder zu treffen. Er hatte es in der Nazizeit abgelehnt, eine Karriere zu machen, und wurde irgendwohin in die hessische Provinz strafversetzt. Joseph Grebner hatte in der Nazizeit Haltung bewiesen, wofür Charlotte große Hochachtung empfand.
So hingebungsvoll sich Charlotte auch für ihre Theaterarbeit engagierte, ohne einen anderen Ehrgeiz, als ihre Sache besonders gut zu machen – als eine Verpflichtung gegenüber einem Stück, gegenüber dem Publikum, gegenüber den Kollegen, gegenüber dem Regisseur und gegenüber dem Bild, das sie von sich selbst hatte –, so wenig interessierte sie sich für den Theatertratsch, die kleinen und größeren Intrigen und die üblichen Machtspiele. So blieb sie, ohne es zu ahnen, eine Außenseiterin und damit genau das, was sie nie mehr sein wollte. Sie war gutgläubig, insofern sie sich fest vorgenommen hatte, von den Menschen, mit denen sie zusammenarbeitete, stets das Beste anzunehmen. Sie war auch bereit zu glauben, was die Leute sagten. Vermutlich hätte sie auch für das Theater gearbeitet, wenn man ihr wenig oder gar nichts dafür bezahlt hätte. Dazu konnte ihre Scheu und Bescheidenheit leicht als Hochmut ausgelegt werden, besonders weil sie sehr tüchtig war und freiwillig Dinge tat, zu denen sie nicht verpflichtet war. So bot Charlotte eine willkommene Zielscheibe. Man hängte ihr eine Affäre mit der boshaften Unterstellung eines beruflichen Vorteils an. Sie war sehr empört und tief verletzt. Aber sie erfuhr nie, von welcher Seite die Intrige kam. Es muss für sie schlimm gewesen sein, zumal das unterstellte Verhalten ihrem Charakter völlig fremd war.
Frustriert verließ sie das Theater schon nach einer einzigen Spielzeit (1954/55), in der sie Bühnenbilder und Kostüme für zwei kleine Komödien gestaltet hatte: Das Lied der Lieder von Jean Giraudoux und Ein Phönix zuviel von Christopher Fry. In einer Kritik im Darmstädter Echo vom 24. Januar 1955 schreibt Georg Hensel über den Phönix: »Das Bühnenbild von Carola Mayer ist klug gebaut.« Wie auch andere Bühnenbildner jener Zeit arbeitete Charlotte mit Andeutungen, alles wirkt leicht hingeworfen und improvisiert und erinnert im Stil an gewisse Bilder von Dufy oder Zeichnungen von Cocteau. Die Bühnenbilder waren sichtlich gegen jeden Naturalismus gerichtet, wie ihn programmatisch das Brecht-Theater in Ost-Berlin pflegte. Einige ihrer Entwürfe wirken tatsächlich wie Bilder, in denen sich die Schauspieler in ihrer realen Körperlichkeit bewegen. Wenn man Charlottes durchgehendes Thema des Verhältnisses von Fläche und Raum bedenkt, scheint es, als sei es schon hier angelegt – doch darf man das nicht überbewerten, denn die Gleichzeitigkeit von perspektivischer, raumbildender Seitenansicht und flächiger, malerischer Aufsicht gibt es seit dem Kubismus. Willi Baumeister hatte in der Spielzeit davor zusammen mit Carola Tolkmitt die Bühnenbilder und Kostüme zu Kasperlespiele für große Leute von Max Kommerell gemacht und geäußert, Kostüme nähmen ebenso aktiv an der Handlung teil wie die Akteure, eine Idee, die auch Brecht für die Requisiten vertrat. Ich bin sicher, dass Charlotte darüber genauso dachte. 1955 hörte Charlotte also am Theater auf und heiratete.
Sie nannte sich nun Charlotte Mayer-Posenenske und signierte ihre ersten Bilder mit »CMP«. Ihren Bühnennamen »Carola« gab sie auf und nach einigen Jahren auch ihren Mädchennamen. Sie hatte mit beiden Zeiten abgeschlossen und zeichnete mit »CP« – bis sie das Signieren überhaupt ließ. Die farbigen Reliefs sind noch mit »CP« gezeichnet, die Vierkantrohre und die Drehflügel nicht mehr. Damit die Kunst wie eine gewöhnliche Ware wirken sollte, blieb die Künstlerin anonym. Charlotte wechselte die Namen mit Bedacht. Warum sie sich anstatt »Henriette Liselotte« nach ihrer Großmutter »Charlotte« genannt hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass diese eine heitere Frau gewesen sein muss und gerne tanzte. Vielleicht war es der Akt der Namengebung selbst, der für Charlotte wichtig war, insofern damit eine Art Selbstschöpfung verbunden ist, wenn man, wie sie, ernst nimmt, dass die Bezeichnung Einfluss auf das Bezeichnete hat – etwas, das ja in dem Spruch »nomen est omen« behauptet wird. Jedenfalls wechselte sie ihre Namen nicht leichthin. Wenn sie schließlich auch mit »P« als zweitem Buchstaben zeichnete, dann bedeutet das: Sie hatte sich in den sozialen Status einer Ehefrau schließlich hineingefunden, es war für sie eine akzeptierte soziale Tatsache. Mit der Anonymisierung ihrer Arbeit beginnt dann bereits der Rückzug, der mit dem Entschluss endete, die Kunst aufzugeben. Charlottes Versuch dazuzugehören, indem sie mit anderen zusammenarbeitete, war im Theater gescheitert. Obwohl sie den Möglichkeiten, die ein Individuum in unserer Gesellschaft hat, skeptisch gegenüberstand, entschied Charlotte sich dann doch, freischaffende Künstlerin zu werden.
Sie wohnte nun mit Paul Posenenske im Isenburger Schloss und richtete sich im Dachgeschoss ein kleines Atelier ein. Bot der zehn Jahre ältere Mann ihr Schutz? Suchte sie Schutz? Brauchte sie Schutz? Der Verlust ihres Vaters, der sie noch, als sie längst mit mir zusammenlebte, in vielen Menschen ehemalige Nazis erkennen ließ – und wie oft hatte sie damit recht –, könnte die lähmende Wehrlosigkeit erklären, die sie mitunter befiel, da sie doch beschlossen hatte, in den Menschen das Gute zu sehen.
Ich erinnere mich, dass wir einmal in Oberrad in einer Apfelweinwirtschaft an einem Tisch mit einem Mann saßen, dem daran gelegen war, mit uns ein Gespräch anzuknüpfen. Als wir auf unsere Berufe zu sprechen kamen, sagte der Mann, er sei Ingenieur für große Öfen gewesen. Ganz ungeniert sprach er dann davon, dass die Firma, bei der er angestellt gewesen war, die Öfen für das KZ Buchenwald gebaut hatte. Und erklärte uns die technischen Daten. Charlotte war so versteinert, dass sie sich nicht bewegen konnte. Wir gingen danach nie mehr in solche Wirtschaften, in denen man mit anderen am selben Tisch sitzen muss. Unter den Gründen, die sie haben mochte, sich mit mir zusammenzutun, dem ersten Mann, der jünger war als sie, mag die Sicherheit eine Rolle spielen, dass ich kein Nazi gewesen sein konnte. Es erschreckte sie dann sehr, als sie erfuhr, dass es auch in meiner Familie, die – was Vater und Mutter angeht – in den Nazismus nicht verstrickt war, in der entfernteren Verwandtschaft dunkle Punkte gab. Obwohl sie sich doch so große Mühe gegeben hatte, den Menschen ohne Vorbehalte zu begegnen, begann Charlotte wieder misstrauisch zu werden. Sie fand schließlich überall Andeutungen und geheime Zeichen.
Da Paul Posenenske mit dem Zug nach Kassel fuhr, hatte Charlotte den Wagen zur Verfügung Sie fuhr in den nahen Taunus und skizzierte Landschaften. Besonders liebte sie Steinbrüche, wo sie halbe Tage saß, um Skizzen zu machen. Bei all diesen frühen Arbeiten findet man keine organischen, runden Formen, die Strukturen haben einen eher kristallinen und schwebenden Charakter, oft deuten sie auch eine Geschwindigkeit an. Charlottes Hinwendung zur Geometrie scheint schon dort vorbereitet. (Übrigens hat sie die sogenannte konkrete Kunst im Besonderen nie interessiert, vermutlich waren ihr die Prämissen zu beschränkt.) Bereits im Frühwerk spielt es eine Rolle, ohne Zuhilfenahme der Perspektive in der Fläche Raum zu illusionieren. Das zu bemerken ist darum wichtig, weil Charlotte selbst zwischen dem Frühwerk und dem späteren Werk keine Verbindung sehen wollte, sondern einen Bruch, der sie schmerzte. Einmal sei sie in einem von Dickicht umgebenen Steinbruch von Kaninchenjägern aufgestöbert worden, ein anderes Mal von einem Schäfer, der wissen wollte, was das sei, was sie da mache. Charlotte wird wohl ernsthaft versucht haben, es ihm zu erklären: leicht vornüber gebeugt, den Kopf etwas schräg haltend, den Brillenbügel zwischen den Lippen. So drückte sich ihre Bereitschaft aus, anderen höflich zuzuhören.
Ein- oder zweimal in der Woche kam Frau Schwarz ins Schloss, um zu putzen. Sie war eine sehr eigenwillige, bäuerliche Frau mit festen Ansichten über das, was richtig und was falsch ist. Ihre Grundsätze erklärte sie auch ungefragt. Sie war so herrisch, dass sie bald bestimmte, wie Charlottes Haushalt in Ordnung zu halten wäre, und Anweisungen gab von der Art: »Und dann müssen wir noch die Fenster putzen, und dann müssen wir noch die Küche machen.« Ihrem damals 30-jährigen, in sich gekehrten Sohn drohte sie noch Ohrfeigen an. Trotzdem entwickelte sich eine spröde Freundschaft zwischen den beiden Frauen. Frau Schwarz, die altersmäßig Charlottes Mutter hätte sein können, erzählte freimütig und mit großer Würde aus ihrem proletarischen Leben, was Charlotte sehr interessierte, weil sie über das Milieu, in dem Frau Schwarz zu Hause war, außer dem, was sie von ihrer Mutter über den Biebricher Großvater gehört hatte, wenig Authentisches wusste. Und es interessierte sie sehr, wie Menschen leben, die in der Fabrik arbeiten oder putzen gehen. Warum sie das interessierte? Vielleicht weil sie zur Hälfte diesem Milieu entstammte und ihr eigenes Leben im Schloss als recht abgehoben empfand. Sie wollte einfach wissen, wie »normale Menschen« leben. Diese Haltung war ein Mitgrund, das Leben einer Künstlerin aufzugeben und Soziologie zu studieren, um dann in den Gewerkschaften zu arbeiten. Möglicherweise erlag sie darin wie viele andere damals einer Idealisierung der Arbeiterklasse, aber doch nur in einem gewissen Umfang, denn die Erfahrungen, dass einfache Leute den ganzen Krieg über einen Juden versteckt gehalten hatten oder dass sie ihr eigenes Leben dem schlichten Wachtmeister verdankte, der ihre Akte hatte verschwinden lassen, waren ganz persönlich und darum viel tief greifender als solche, die Studenten machen, wenn sie in den Semesterferien auf dem Bau arbeiten. Ich habe Frau Schwarz später kennengelernt und auch ihren Mann, ein »braver Mann«, wie sie über ihn sagte. Er saß hinter dem Küchentisch und trank ein Gläschen von dem Pfälzer Rotwein, den er sich hin und wieder schicken ließ. Das war der einzige Luxus des ehemaligen Schweißers. Er war ein stiller Mensch mit großen, dunklen, sanften Augen, die Frau Schwarz vielleicht einmal verliebt gemacht hatten. Er hatte es an der Lunge und er starb bald. Frau Schwarz ging jeden Morgen zu seinem Grab und sprach mit ihm. Sie sagte ihm, dass sie es schön gehabt hätten und dass er ein braver Mann gewesen sei. Sie erzählte uns, wenn wir sie in ihrer kleinen Wohnung besuchten, immer ihren ganzen Tagesablauf, der stets gleich war, aber doch in Nuancen unterschieden. So erzählte sie uns auch, was sie sich zu essen gemacht hatte und wie sie es gemacht hatte. Charlotte besaß einen Sinn für die Gleichförmigkeit und deren Nuancierungen. Ich glaube, sie dachte, ein anständiges Leben müsse im Grunde ziemlich gleichförmig sein. Sie fand die Art, wie viele Leute ihr Leben zu dramatisieren suchen, ziemlich komisch. Wir haben später Frau Schwarz manchmal zu einer Spazierfahrt im Auto eingeladen. Wir sind zum Beispiel auf den Feldberg gefahren oder an andere Orte, die wir Frau Schwarz zeigen wollten, weil es ihr selbst kaum möglich war, dorthin zu kommen. Sie war aber nie sonderlich beeindruckt. Ein schöner Blick, Landschaft, das interessierte sie nicht. Sie schien ihre Umgebung in sehr großen Kategorien wahrzunehmen: Der Himmel war blau, der Wald war grün, das Kornfeld gelb. Die vielen Zwischentöne, die Augenmenschen sehen, schien sie nicht wahrzunehmen, nicht für wichtig zu halten oder nicht in Worte fassen zu können. Jetzt, 2008, fällt mir eine Buntstiftarbeit ein, die das Museum Ludwig in Köln angekauft hat (Abb. S. 125): Die Arbeit sieht genau so aus, wie wir uns vorstellten, dass Frau Schwarz eine Landschaft sah.
Charlotte war davon beeindruckt, dass Frau Schwarz so anders war. Sie hatte große Achtung vor den sogenannten einfachen Leuten. Während man oft beobachten kann, dass Menschen gegenüber Kindern, Fremden, Arbeitern und Handwerkern einen bemühten Ton anschlagen, der deutlich als aufgesetzt erkennbar ist und dazu bestimmt, soziale Distanzen zu betonen, sprach Charlotte mit allen Menschen auf die gleiche Art. Man hatte immer den Eindruck, dass sie sich für das, was andere sagen und wie sie leben, sehr interessierte. Sie war frei von jedem Dünkel – also der Verhaltensweise von Menschen, die unwillkürlich und zwanghaft in jedem Augenblick registrieren müssen, wer sozial höher oder niedriger steht als sie selbst, und dem in oft sehr lächerlicher Weise Ausdruck verleihen. Sie hatte vor solchen Menschen wie Frau Schwarz großen Respekt, und sie sagte mir einmal, es sei sehr dumm, »einfache« Menschen zu unterschätzen, denn sie besäßen große Erfahrungen in Dingen, die man selbst gar nicht kennt, und wenngleich sie diese nicht ausdrücken könnten, so hätten sie diese Erfahrungen doch, Erfahrungen, die wir nicht haben (können).
7 Als freie Künstlerin
1959, also vier Jahre nach ihrem Fortgang vom Theater, beteiligte sich Charlotte an der Gruppenausstellung Vibration in der Kasseler Galerie Weiss. Es war ihre erste Ausstellung überhaupt. Die kleinen ungegenständlichen Bilder, die sie zeigte, sind mit dem Spachtel gearbeitet; einen Pinsel, dieses eigentliche Werkzeug des Malers, hat sie nie benutzt. Sie sind überwiegend weiß mit zarten ockerfarbenen oder bläulichen Spuren. In der Art des splittrigen Farbauftrags erinnern sie an Cézanne, der neben Mondrian im Wortsinne grundlegend für Charlottes künstlerischen Ansatz ist. Denn er war ja der Erste gewesen, der sich von der Konstruktion der Perspektive emanzipierte und Raum rein malerisch durch den Farbauftrag suggerierte. Ihre erste Einzelausstellung hatte Charlotte bei Dorothea Loehr im Jahre 1961 in der neu eröffneten Galerie in der Schumannstraße 25 im Frankfurter Westend. Auch dort zeigte sie Spachtelarbeiten. Ihr Frühwerk, das – obwohl nicht gestisch – pauschal dem damals noch vorherrschenden »Informel« zugeordnet werden könnte, wurde nur diese beiden Male ausgestellt. Erst 1999/2000 hat Konstantin Adamopoulos, der mich später bei der Organisation der Ausstellungen unterstützen und in Fragen des Nachlasses beraten sollte, in der Frankfurter Galerie ak das Frühwerk zusammen mit den späteren Objekten als Zusammenhang präsentiert. Zu den Veranstaltungen von Dorothea Loehr, die – noch in der Friedberger Straße 30 – ihren ersten beeindruckenden Auftritt als Galeristin mit einer Präsentation von Max Beckmann hatte, kam das Publikum bald aus dem ganzen Rhein-Main-Gebiet. Ab 1964, nach einem weiteren Umzug in ein altes Bauerngehöft am nordwestlichen Stadtrand, in Alt Niederursel 41, wurde die Galerie Loehr zum »bekanntesten Kuhstall Deutschlands « und zu einer Institution nicht nur für konkret-konstruktive Kunst. Ihre Lieblingsfarben, sagte Frau Loehr mir einmal in einem Interview, das ich mit ihr für die Frankfurter Rundschau geführt habe, seien noch immer Schwarz und Weiß.
Im Jahre 1967 – ich überspringe sechs Jahre des Experimentierens – fand in der Galerie Loehr die legendäre Veranstaltung Dies alles, Herzchen, wird einmal Dir gehören statt, die Paul Maenz zusammen mit Peter Roehr organisiert hatte. Eingeladen waren Jan Dibbets, Barry Flanagan, Bernhard Höke, John Johnson, Richard Long, Konrad Lueg und Charlotte Posenenske. Die Künstler werden, schrieb Maenz in der Ankündigung, »simultan, aber unabhängig voneinander einen Abend lang vergängliche Situationen inszenieren «. Und in einem Schreiben an die Künstler: »Schließlich geht es hier um ›Kunst, die man nicht kaufen kann‹, also Dinge, die sich dagegen wehren, in die feststehende Apparatur des Kunsthandels aufgenommen [.. .] zu werden.« Vorgreifend spreche ich schon hier von Charlottes späteren Arbeiten, komme aber gleich auf die Frühphase zurück. Charlotte ließ dort ihre Vierkantrohre aus Wellpappe von jungen Männern fortwährend umbauen, die von der Lufthansa entliehene weiße Overalls trugen. Sie wollte die Variabilität des Systems vorführen. Und sie ließ die riesigen Rohre aus Wellpappe aus dem Galerieraum herauskommen beziehungsweise in die Galerie hineinführen. Zum ersten und einzigen Mal hat sie dort das »Innen und Außen« thematisiert und damit deutlich einen Bezug zur Architektur hergestellt. Hans-Peter Riese schreibt am 12. September 1967 in der Frankfurter Rundschau in dem Artikel »Unter Wasser« über Charlotte: »Charlotte Posenenske (Deutschland), sonst durch farbige Bleche bekannt, zeigte Papparchitektur. Rechteckige Röhren wurden mit entsprechenden Kunststoffschrauben kombiniert, und man konnte so allerlei lustige Gebäude daraus zaubern. Ein kleiner Junge, für den diese Häuser schon eher die richtigen Dimensionen hatten, untersuchte sie dann auch zur Freude der Kameraleute auf ihre Bewohnbarkeit.«
Ein Jahr später, 1968, stellte Charlotte dann dort einen kleinen und einen großen Drehflügel aus. Frau Loehr, eine sehr schlanke und elegante Frau, eröffnete die Ausstellung, indem sie weiß gekleidet aus dem Drehflügel-Objekt trat, das bis zu ihrem Auftritt geschlossen geblieben war. Das Objekt wurde dann auch von Paaren genutzt, die sich darin ungestört küssten, und von Kindern, die Verstecken spielten. Die Flügel wurden vom Publikum spontan als Türen verstanden – der Bezug zur Architektur also auch hier. (Das Objekt hat Kasper König später für das Museum Ludwig in Köln erworben.) Die Kunst jener Zeit der selbstbewusst voranstürmenden Jugendkultur hatte »lustig« zu sein. Es war der Anfang jenes unendlichen Amüsements, das seither als ein Netz von Events die jungen Leute gefangen hält. Pop-Art, Minimal Art, Performance waren im öffentlichen Bewusstsein noch ungeschieden, und so kam es, dass alles zusammen als lautes und buntes Fest präsentiert wurde. Man kann sich heute schwer vorstellen, dass die provokanten Konzepte von Peter Roehr und Charlotte Posenenske einmal für lustig gehalten werden konnten. Doch war es damals so, dass Provokation – man denke an die frechen Sprüche der rebellischen Studenten vor Gericht – amüsant sein musste. Besonders Pop-Art wandte sich an jedermann, man verachtete alles Elitäre, das als bürgerlich galt. Auch wenn Charlotte sich an der großen Tradition der Kunst abarbeitete, hatte sie nichts dagegen, dass ihre Kunst jahrmarktsartig vorgestellt wurde, denn sie hoffte wie viele gute Künstler darauf, jeden, der Augen im Kopf hatte und Vergnügen am Nachdenken fand, interessieren zu können. Dieser Anspruch, sich an jedermann zu wenden, hat große Kunst (man denke an Jean Dubuffet) immer von jener Kunst unterschieden, um die sich seit dem Manierismus ein Kult in einem Kreis von Eingeweihten bildet, die sich bald exklusiv als Jünger verstehen. Ihre Teilnahme an der Herzchen-Veranstaltung belegt Charlottes Sympathie für das »Vorübergehende« und »Vergängliche« der Kunst, das in ihrer Arbeit mehrfach Thema ist: Vor dem Hintergrund ihrer Überzeugung, dass Kunst wie eine beliebige Konsumware nur eine vorübergehende Aktualität habe, ist sowohl die Variabilität ihrer fortwährend umzubauenden Skulpturen als auch das bald verrottende Material zu verstehen.
In diesen Jahren machte Charlotte über ihren Mann die Bekanntschaft von Ferdinand Kramer, dem Frankfurter Universitätsbaumeister, und von dessen Frau Lore, die Keramikerin war und später eine Professur für Design-Geschichte an der Offenbacher Hochschule für Gestaltung innehatte. Kramer stand in Architektur und Design in der Tradition der Moderne und war verhalten sozialdemokratisch eingestellt, obwohl er in den USA gelebt hatte, wohin er seiner jüdischen (ersten) Frau in die Emigration gefolgt war. Und er war ein sehr guter Architekt mit einem ausgeprägten Sinn für eine anspruchsvolle Bescheidenheit, was Charlotte besonders beeindruckte, weil es ihrer eigenen Grundhaltung entsprach. Charlotte schätzte die Einfachheit. Sie wollte, dass die Resultate der hoch komplexen künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeit einfach sein sollen: im Zugang einfach, das heißt transparent und handlich. Darin zeigt sich ein bestimmtes Verständnis von Demokratie. Von den Objekten ihrer künstlerischen Arbeit (aber auch von ihren sozialwissenschaftlichen Texten) geht Klarheit aus, doch keineswegs so, dass sich ihre Kunst hätte schlicht in Worte auflösen lassen und so ihre Vieldeutigkeit verlöre. Vielleicht waren ihre Produktionen aufgrund ihrer Schlichtheit auch schön. Pappe und Blech, aus denen ihre Vierkantrohre hergestellt wurden, waren ärmliche Materialien, die andererseits auch abstoßend wirken mochten. Tatsächlich stießen die Allerweltsmaterialien beim Publikum oft auf Ablehnung – ähnlich wie die rostigen Stahlplatten von Richard Serra. Für das Zusätzliche, das von außen aufgesetzte Schöne, für das Dekor und anderes Beiwerk in Sprache, Kunst und dem eigenen Leben hatte Charlotte nichts übrig. Sie besaß einen starken Sinn für das Angemessene. (Und natürlich mochte sie »Ornament und Verbrechen«, den berüchtigten Aufsatz von Adolf Loos.) Kramer erschien ihr darin vorbildlich. Er war in seiner Arbeit entschlossen anti-elitär wie sie selbst und in dem Sinne sozial, dass er Gegenstände und Häuser entwarf, die jedermann benutzen und bewohnen konnte. Im Unterschied zu anderen Architekten wohnte Kramer in einem höchst unspektakulär gebauten Haus. Charlotte bewunderte ihn darum und fühlte sich in ihrer eigenen Haltung bestärkt. Kramer kannte Adorno aus den USA. Da Adorno die Primeurs liebte, die ersten Erdbeeren, die ersten Spargel und die ersten Kirschen, hatte Charlotte Gelegenheit, die beiden Zelebritäten zu chauffieren, und sie war noch etwas zurückhaltender als gewöhnlich. Als Charlotte und ich dann später zusammen zu studieren begannen, war Adorno, den ich in den 1950er-Jahren als junger Student noch im Seminar erlebt hatte, gerade gestorben. Die Zeit der studentischen Rebellion hatte begonnen.
Zwischen 1961 und 1966 vollzog Charlotte jenen Stilwechsel, den sie als einen Bruch empfand: Sie löste sich nicht nur von dem subjektivistischen Paradigma des Informel, sondern bald auch von der Malerei überhaupt. Bis zum Jahre 1966 experimentierte sie, ohne etwas auszustellen: Bei der schon erwähnten Gruppenausstellung im Hessischen Rundfunk, bei der ich sie kennenlernte, zeigt sie ein in Industriefarben gespritztes Objekt und in der zweiten Einzelausstellung in der neuen Galerie Loehr Faltungen, die den Übergang von der (Mal)-Fläche in den Realraum markieren. (Dies alles lag vor der Serie der Vierkantrohre etc.) Etwa gleichzeitig experimentiert sie mit farbigen Klebebändern, also vorhandenem Material, die sie parallel über die weiße Bildfläche zieht und bei einigen Arbeiten leicht knickt oder anfaltet. Lucio Fontana hatte das Problem mit einem Schnitt, Michelangelo Pistoletto mit einem Spiegel, Frank Stella mit rahmensprengenden Wucherungen thematisiert, sieht man von den Produktionen der Op-Art einmal ab. Den Faltungen folgen die primärfarbenen Reliefs.
1965 fuhren Charlotte und Paul Posenenske in die USA, um dort Universitätsbauten zu besichtigen. Sie wohnten in dem riesigen Appartement eines Bekannten in einem New Yorker Hochhaus. Ich weiß darüber nicht mehr, als dass Charlotte von New York sehr beeindruckt war. Ich nehme an, dass sie die Gelegenheit auch nutzte, um Galerien zu besuchen. Es ist wahrscheinlich, dass die Eindrücke von der aktuellen amerikanischen Kunst ihren Stilwechsel beschleunigten. Sie war mit ihren sogenannten Spritzbildern (1964) und den etwa gleichzeitigen Klebestreifenbildern ja auf dem Sprung, sich von der Fläche des Tafelbildes zu lösen.
Gesprochen haben wir darüber nie.
Charlotte hat ihren Stilwechsel so schwer genommen, dass sie ihr Frühwerk (1957–1965) später nicht weiter beachtete. Immerhin aber richtete sie in ihrem Haus in Wiesbaden eine Mansarde her, wo sie die alten Arbeiten aufbewahrte. Kurz bevor sie starb und als sie wusste, dass sie nur noch kurze Zeit zu leben hatte, sind wir nach Wiesbaden gefahren und haben die frühen Arbeiten und die Arbeiten des Übergangs (Wellen, Faltungen) gemeinsam durchgesehen. Charlotte traf eine Auswahl, und wir legten zwei Mappen an, in denen die Arbeiten erster Wahl getrennt von den Arbeiten zweiter Wahl aufbewahrt werden sollten. Das Übrige warfen wir fort. Diese Entscheidungen fielen relativ schnell, an einem einzigen Nachmittag, da Charlotte schon sehr schwach war. Viele der gespritzten Objekte aus Alu- und Weißblech (kompliziertere Vorformen der einfarbigen Reliefs von 1967) haben wir zerstört. Es war für mich eine makabre Arbeit voller Skrupel, die Objekte mit einem Hammer auseinanderzuschlagen, während Charlotte auf einem Stuhl saß und zuschaute. Die Tatsache, dass sie frühe Arbeiten aufhob, ja sogar einen eigenen Raum dafür einrichtete, und dass sie eine erste von einer zweiten Wahl unterschied, beweist ohne Zweifel, dass sie darauf hoffte, dass auch diese frühen Arbeiten nach ihrem Tode noch oder wieder zu sehen sein würden. Im Jahre 1999 – vor der ersten Ausstellung des Frühwerks im November – haben Konstantin Adamopoulos und ich die frühen Arbeiten noch einmal gesichtet und die Einteilung in erste und zweite Wahl zwar beachtet, aber nicht für bindend befunden. Was den von Charlotte so betrachteten Bruch zwischen Frühwerk und Spätwerk betrifft – diese Begriffe sind im Grunde für ein schmales Werk, das etwa zwischen 1957 und 1967, also innerhalb von nur 10 Jahren entstand, zwar ein wenig übertrieben, aber zur Unterscheidung doch verwendbar – so konnten wir zeigen, dass es trotz des offensichtlichen Stilwechsels doch genügend Merkmale gibt, die es rechtfertigen, auch von einem Zusammenhang zu sprechen.6
Anders als heute, da wir von »Patchwork-Biografien« sprechen und Brüche im Lebenslauf eines Menschen als interessant und in einem künstlerischen Werk sogar als Qualitätsmerkmal ansehen, betrachtete Charlotte diesen Bruch als einen Mangel. Ein Bruch passte nicht in ihre Lebensphilosophie, in welcher Kontinuität und Konsequenz als Belege für Durchhaltevermögen, Charakterstärke, Seriosität und stringenten Zusammenhang galten. Sie besaß in hohem Maße einen Willen zur Selbstgestaltung, die in vieler Hinsicht auch eine Selbstdisziplinierung war, denn Charlotte war ein leidenschaftlicher Mensch, der so aufbrausend sein konnte wie ihre temperamentvolle Mutter – wofür sie sich dann sehr schämte. Sie sagte einmal, sie habe sich hauptsächlich selbst erzogen. (Dass sie sich selbst einen Vornamen gab, würde dazu passen.) Dass man auch seinen eigenen Charakter formen könne, davon war sie überzeugt. Sie war nach dem Rassenwahn der Nazis eine entschiedene Anti-Biologistin. Sie hatte also auch ihre künstlerische Kreativität dem zum Paradigma der Moderne gehörenden Postulat der Konsequenz und Transparenz unterworfen. Ein Werk sollte nachvollziehbar aus dem anderen folgen. Seitenpfade ließ sie – bei sich – nicht zu. Niemals ging es ihr um die Realisierung von Einfällen, deren sie – wie alle guten Künstler – sicher viele hatte. Obwohl sie die Relevanz von Irrationalitäten natürlich nicht leugnete, tendierte sie dazu, alles unter das Regime der Ratio zu bringen. Ich glaube, dass ihr tiefes Bedürfnis dazuzugehören auch hier wieder eine Rolle gespielt hat. Sie sprach langsam und überlegt und drückte sich stets einfach, klar und deutlich aus, um sich verständlich zu machen. Und sie glaubte an die Kraft des Arguments. Dass es eine Demokratie ohne das Argumentieren nicht geben kann, davon war sie überzeugt. Denn das Argumentieren lässt ja prinzipiell die Möglichkeit zu, dass der andere das bessere Argument hat. Das Gegenteil ist der Befehl, der die sprachliche Durchsetzungsweise des Faschismus gewesen war. Charlottes Liebe zu Demokratie, zu Transparenz und Rationalität wurde mit Sicherheit aus den üblen Erfahrungen während der Nazizeit genährt, die sie noch 30 Jahre danach nachts öfters in große Angstzustände brachten.
Indem ich das schreibe, wird mir einmal mehr bewusst, dass meine subjektive Erinnerung, die jahrelange Beschäftigung mit Charlottes Werk und – damit verbunden – alles, was ich für sie empfinde, kaum geeignet sind, ein objektives Bild von ihr zu entwerfen. Dies ist der Grund, warum ich diesen Bericht nicht »Biografie« nennen kann, sondern von »Erinnerungen« spreche. Auch bin ich mir bewusst, dass ich es bin, der das Bild der Künstlerin für die anderen letztendlich gestaltet, weil Charlotte sehr zurückgezogen lebte und die, welche sie kannten, mit wenigen Ausnahmen nicht mehr leben.
8 Freundschaft mit Peter Roehr und Paul Maenz
In den unruhigen 1960er-Jahren befreundete sich Charlotte mit Paul Maenz und Peter Roehr. Es war die Zeit, in der Pop-Art, die Beatles und Flower-Power die Welt eroberten. Und es war der Beginn der studentischen Rebellion. Die Jugend fühlte sich stark, und obwohl Charlotte schon in den 30ern war, wurde auch sie mitgerissen von dem Mut, der Unbefangenheit und der Lust, mit dem die Jungen die Tabus der verkrusteten Wiederaufbaugesellschaft infrage stellten. Wie witzig der Protest vorgetragen wurde! Ulrich Enzensberger, ein Mitbegründer der Kommune I, beschreibt die »Spa-Pro-Taktik« (Spaß-Protest-Taktik), die die jungen Leute als Reaktion auf die Prügelorgien der Berliner Polizei erfunden hatten: Sie zerstreuten sich und wurden zu Spaziergängern. »Wir ›spazieren‹ für die Polizei!!! Wir fordern für sie die 35-Stunden-Woche, damit sie mehr Zeit zum Lesen haben, mehr Muße für die Bräute und Ehefrauen, um im Liebesspiel die Aggressionen zu verlieren, mehr Zeit zum Diskutieren, um den alten Passanten die Demokratie zu erklären. Wir fordern eine ›moderne‹ Ausrüstung für die Polizei. Statt des Gummiknüppels eine weiße Büchse, in der sich Bonbons für weinende Kinder befinden und Verhütungsmittel für Teenager, die sich lieben wollen, und Pornographie für geile Opas.«7 Alles schien möglich, wirklich alles. Die Welt stand offen. Ein Wind von Freiheit fegte durch das fett gewordene, politisch eingeschlafene Land, in dem sich der »rheinische Kapitalismus« etabliert hatte und Altnazis unbehelligt auf Richterbänken und am Familientisch saßen.
Einer der Gründe, warum Charlotte sich nach der Befreiung so sehr für Politik interessierte und später Soziologie studierte, war ihre Überzeugung, dass der von den Nazis zu verantwortende Zivilisationsbruch kein historischer Unfall war. Das heißt, Ähnliches konnte sich durchaus wieder ereignen. Die Sozialdemokraten waren mit den Unionsparteien eine große Koalition eingegangen, und so gab es so gut wie keine parlamentarische Opposition mehr. Kiesinger, ein ehemaliger Mitarbeiter des nationalsozialistischen Propagandaministeriums, war Bundeskanzler. Es waren die 68er, die der Elterngeneration aggressiv und in aller Öffentlichkeit nun endlich die Fragen stellten, die in der Familie nie beantwortet worden waren.
Paul Maenz, später Galerist und Förderer der internationalen Avantgarde – ein kunsthistorischer Terminus, der in jenen fortschrittsgläubigen Jahren noch Sinn machte –, war 1967 aus den USA zurückgekommen, wo er bei der renommierten Werbeagentur Young & Rubicam als Art-Direktor gearbeitet hatte. Er hatte die Essener Folkwangschule absolviert und sich mit dem Gedanken getragen, Künstler zu werden. Doch gab er diesen Plan auf, als er in New York viele von den Künstlern persönlich kennenlernte, die heute zu den besten gehören. Peter Roehr hatte noch auf der Wiesbadener Werkkunstschule, die er 1965 als Meisterschüler verließ, mit der Herstellung seiner seriellen Reihungen begonnen, die ihn erst nach seinem frühen Tod 1968 nach und nach berühmt machen sollten.
Die Frankfurter Kunstszene war klein. Nach der legendären Zimmergalerie Frank, wo sich 1952 die Informellen K. O. Götz, Otto Greis, Heinz Kreutz und Bernard Schultze zur Gruppe Quadriga zusammengetan hatten – in den späten 1960er-Jahren war sie nur noch ein Gerücht –, gab es in Frankfurt in jener Zeit noch die Galerie Lichter, die zeitweilig mit Rochus Kowallek zusammenarbeitete, der zuvor die Galerie d geleitet hatte. Kowallek empfahl Charlotte an Udo Kultermann, der Arbeiten von ihr in seinem Buch Neue Dimensionen der Plastik zusammen mit einer Arbeit von Francesco Lo Savio abgebildet hat. Mit Lo Savio, den sie vor 1967, glaube ich, nicht kannte, gibt es zweifellos Gemeinsamkeiten, die einen Vergleich lohnen würden. Die Galerie Loehr war ohne Frage die wichtigste Galerie, ein Treffpunkt nicht nur von Künstlern, sondern auch von Literaten, wo viel besuchte Lesungen (Paul Celan, Günther Grass, H. C. Artmann, mit dem ich mich eine ganze trunkene Nacht lang in einer erfundenen Sprache verständigte, Gabriele Wohmann u. a.) und Performances (Wolf Vostell, Bazon Brock u. a.) stattfanden.
So war es unumgänglich, dass Peter Roehr, Paul Maenz und Charlotte aufeinander trafen. Obwohl Peter, den ich bei Frau Loehr noch kennengelernt habe, 14 Jahre jünger war als Charlotte, wurden sie bald enge Freunde. Die Einfachheit und Radikalität von Peters künstlerischem Konzept beeindruckte Charlotte sehr, obwohl ihre eigene Arbeit eher komplex war, denn sie wusste sich in einer großen Tradition, an der sie sich voller Skrupel abarbeitete. Peter war außerordentlich wissbegierig und fand in Charlotte eine gebildete, hoch intelligente und belesene Freundin. Pauls Weltläufigkeit und Einfühlsamkeit in künstlerische Konzepte, seine Findigkeit und praktische Intelligenz und die Helligkeit seines Charakters nahmen Charlotte sehr für ihn ein. Die drei tauchten überall gemeinsam auf und machten sich so manchen Spaß. Paul und Peter brachten Charlotte, die sich zuvor sehr bürgerlich gekleidet hatte, dazu, die poppigsten Klamotten anzuprobieren. Zur Beratung zogen sie Barbara Trebor hinzu, die unter dem Namen Lollipopowska einen trendigen Modeladen hatte, und sie schleppten Charlotte zu einem Coiffeur, um ihr eine schicke Frisur zu verpassen. Sogar eine Visagistin ließ sie über sich ergehen. Theatererfahren wie sie war, machte sie alles mit. Sie baute die Innenarchitektur des Head Shop, den Paul und Peter im Frankfurter Holzgraben Nr. 9 unter dem Namen »Pudding Explosion « eröffneten, mit dem Wellpappenmaterial, aus dem sie ihre Vierkantrohre herstellen ließ. Das war der erste Underground-Laden seiner Art, wo man Räucherkerzen, Mao-Bibeln und – bei flackerndem Licht und Rockmusik – allerlei witzigen Schnickschnack kaufen konnte (etwa Anti-Nazi-Spray). Gewiss holte Charlotte mit den so viel jüngeren Freunden ein Stück Jugend nach, denn die ihre war ja ernst und eher einsam verlaufen, da sie mit den Gleichaltrigen wenig hatte anfangen können und stets ältere Männer bewunderte, von denen sie lernen konnte. Ich glaube, Lernen war für sie ein großes Bedürfnis, nachdem man es ihr einmal verwehrt hatte. So wusste sie, dass lernen zu können nicht selbstverständlich ist.
Als Studentin war Charlotte später dann so gut, dass sie oft einen Schwarm junger Leute um sich hatte, denen sie – allerdings nur, wenn man sie fragte – in klaren Worten erklärte, was sie über eine schwierige Materie dachte – ohne dass diese Kontakte über das rein Sachliche hinausgingen. Wir waren über zehn Jahre älter als die Studenten, gehörten aber nicht zur Elterngeneration, gegen die sie rebellierten. So war eine Zusammenarbeit möglich. Ich erinnere mich an einen, dessen Referat uns gefallen hatte, weil es nicht so verblasen war wie andere. Einmal luden wir ihn ein, und er fragte, ob er bei uns duschen könnte. Klar. Dann boten wir ihm an, Mittag bei uns zu essen. Zu unserem großen Erstaunen lehnte er das mit den Worten ab, solch ein »bürgerliches Schnitzel« könne er nicht essen. Er holte sich unten eine (proletarische) Currywurst. Viele Jahre später fiel mir in der Homburger Straße nahe der Universität, wo wir in einer Einzimmerwohnung gehaust hatten, ein hoch gewachsener blonder junger Mann in einem Ledermantel auf, der sich von zwei Doggen das Trottoir entlangziehen ließ. Ein sonderbarer Anblick. Noch sonderbarer: Es war unser ehemaliger Mitstudent, Sohn eines Kohlenhändlers. Es gehörte damals zum antiautoritären Stil, dass Referate viele Tippfehler hatten und so schlecht abgezogen waren, dass man sie kaum lesen konnte. Unsere Texte waren fehlerfrei und wie gedruckt. Wir wurden wegen diesem Kotau vor dem Establishment aber nicht angefeindet.
Paul Posenenske, der als Professor mit umtriebigen jungen Leuten vertraut war, brachte viel Verständnis für das Rebellische auf und nahm oft an den Diskussionen der drei Freunde Paul, Peter und Charlotte über Kunst und Gesellschaft teil. Posenenske hatte nichts von der autoritären Art, die Männer seiner Generation oft an sich haben, sondern blieb stets abwägend und argumentativ. Das war etwas, das Charlotte an ihm sehr geschätzt hat. Sie haben auch zusammengearbeitet. Charlotte übernahm beispielsweise die Außengestaltung an einer Schule, die Posenenske in Hainstadt im Odenwald gebaut hatte. Sie stellte dort objektive Dimensionen dar: Temperatur, Entfernungen, Stellungen von Sonne, Mond und Erde, Spektralfarben, Tonleitern und Ähnliches. 1967 nahmen Posenenskes Peter Roehr nach London mit.
Mit Paul Maenz und Peter fuhr Charlotte in ihrer »Flunder« zu vielen Ausstellungen, auch ins Ausland, um sich über die neue Kunst aus England und den USA zu informieren. Wahrscheinlich haben sie auch die Ausstellung Minimal Art im Frühjahr 1968 in Den Haag besucht. Die drei Freunde durchstreiften Holland und begeisterten sich für die unendliche Landschaft der Polder, wobei sie es – wie Charlotte mir sagte – genossen, sich auf künstlich gewonnenem Land zu bewegen. Charlotte schreibt in einem Brief an ihren Amsterdamer Galeristen Adriaan van Ravenstijn: »Die Zeeland- und Flevoland-Reise sind unvergesslich. Mir gefällt das Künstliche, das Produzierte und Übersichtliche dort. Unsere Filme sind ungeheuer dilettantisch und langweilig. Zum Beispiel: Anfang des Dammes – Damm – Ende des Dammes. Oder 47 gleiche Bäume.« Die Filme hat mir Paul Posenenske nach Charlottes Tod als zum Nachlass gehörig überlassen. Zur Natur, die damals noch stets an die »Blut- und Boden-Ideologie« der Nazis denken ließ, hatte, wer damals jung war, ein eher distanziertes Verhältnis, wobei Sartres berühmteste Buch Der Ekel vielleicht eine Rolle gespielt haben mag. Die Grünen gab es noch nicht. Dass man Land, anstatt es naturwüchsig vorzufinden, künstlich herstellt, gefiel Charlotte sehr. Hätten die Niederländer damals schon zur Viehhaltung diese Türme gebaut, deren Etagen künstliche Wiesen sind, hätte das Charlotte sicherlich gemocht. Die Reihen in der Sonne gleißender Treibhäuser fand sie schön. Überhaupt hatte Charlotte zur Technik ein sehr positives Verhältnis und große Sympathie für das Künstliche.
Mit dieser Haltung stand sie nicht allein. Im Gegensatz zu heute, da die Neurowissenschaften einen biologischen Determinismus behaupten, erschien in den späten 1960er- und den 70er-Jahren alles machbar und veränderbar, auch die Menschen – Naturwüchsigkeit war lächerlich. In dieser zukunftsfrohen, optimistischen Zeit sind die Planungswissenschaften entstanden. Es war die »Langweiligkeit« der Polderlandschaft, welche die Freunde aufregend fanden. Während Paul Posenenske fuhr, filmten sie abwechselnd die regelmäßig vorbeihuschenden Chausseesteine, Bäume und Telegrafenmasten und ich glaube, es war Charlotte, die sagte: »Monotonie ist schön.« Der Satz passt nicht nur genau auf Roehrs Montagen identischer Teile, sondern markiert eine ästhetische Haltung gegenüber der Welt, die, sagte mir Paul Maenz, von Peter und ihm geteilt wurde. Das Gebirge fand Charlotte schon immer zu dramatisch, sie liebte die unendliche Fläche des Meeres und den fernen Horizont (vielleicht als ein Sinnbild der Freiheit?). Wir fuhren auch später nie ins enge Gebirge. Im hügeligen Schwarzwald interessierten Charlotte die kleinen Tümpel neben manchen Häusern. Sie sagte: »Das ist die Horizontale. « Möglich, dass sie die Hügelei als willkürlich empfand und dagegen die objektive Seite betonte – wie ja in ihrer Kunst überall. »Monotonie ist schön« ist nicht nur eine Absage an das »variatio delectat«, an die Abwechslung, die alle Welt anstrebt und genießt, um sich zu erholen, und an die Dramatisierungen des eintönig erscheinenden Lebens, sondern auch eine Hochschätzung des Seriellen und der Einfachheit. Das berühmte Diktum »Weniger ist mehr« war fester Bestandteil von Charlottes Denken. In unserer gemeinsamen Wohnung gab es nur weiße Wände. Charlottes Statement meint das Gegenteil des geltenden Geschmacks des Divertimento, der über die stete Wiederkehr des Gleichen hinwegtäuscht, die langfristig die »normalen« Arbeits- und Lebensverhältnisse kennzeichnet. Ihre ganze Arbeit bezieht sich stets auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, nie referiert sie auf Natur wie etwa der frühe Hans Haacke oder Giuseppe Penone und auch nicht auf die anthropologische Dimension des Menschen wie etwa Beuys. Was sie interessierte, war die Lohnarbeit, nicht Arbeit überhaupt.
Bekanntlich wandten sich in der Studentenbewegung einige unter dem Eindruck der marxschen Theorie auch praktisch der Arbeiterklasse zu. Dass die Produktion als gesamtgesellschaftliche Arbeit die Basis der Gesellschaft sein sollte, aus der alles Übrige – der »Überbau« – sich entwickelte und damit letztlich auch die Kunst, war ein neuer und faszinierender Gedanke. Einige Studenten verdingten sich sogar als Arbeiter, um die Erfahrungen der Klasse zu machen, zu der sie gehören wollten, weil sie ihnen als der Ursprung, als der Humus von allem und jedem galt, aber auch als die Kraft, welche die Gesellschaft umwälzen konnte. Auch Charlotte, die ja einst in Franks Möbeltischlerei den Anarchisten zugehört hatte, trug sich kurz mit dem Gedanken, in die Fabrik zu gehen, was ich ihr allerdings zur Freude von Paul Posenenske mit dem Argument ausreden konnte, dass man nicht die eigentlichen Erfahrungen der Arbeiter machen könne, wenn man die Möglichkeit habe, jederzeit wieder auszusteigen. Zum Los des Lohnarbeiters gehört es ja, dass er allenfalls die Freiheit hat, sich woanders Arbeit zu suchen – und die stete Angst, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, ist Bestandteil seiner Existenz. In Charlottes seriellen Arbeiten ist der Bezug zur Fabrikarbeit jedenfalls unverkennbar. Ich glaube, das gilt auch für Roehr, mit dem sie in die Kaufhäuser ging, um einfache Gegenstände auszusuchen, die sich für dessen Montagen eigneten.
In ihrem in Art International im Mai 1968 veröffentlichten »Manifest« schreibt sie über ihre Objekte: »Die Gegenstände sollen den objektiven Charakter von Industrieprodukten haben.« »Objektiv« bedeutet hier das Gegenteil subjektiver Kreativität: Ihre Kunstwerke, für die sie nur noch das Konzept lieferte, sollten fabrikmäßig wie eine normale Ware, das heißt in Serien, hergestellt werden. Das könnte auch am Ausstellungsort nach einer technischen Zeichnung besorgt werden. Die Objekte könnten nach ihrer Vorstellung durchaus im Kaufhaus verkauft werden. »Der Künstler der Zukunft müsste mit einem Team von Spezialisten in einem Entwicklungslaboratorium arbeiten«, schrieb Charlotte in ihrem »Manifest«. Ihre Objekte waren zudem für den schnellen Verbrauch bestimmt. Daher wählte sie zum Beispiel Pappe, Verpackungsmaterial und grundierte auch ihre Reliefs nicht – was heute den Restauratoren Sorgen bereitet. Sie schrieb: »Kunst ist eine Ware von vorübergehender Aktualität.« Und sie meinte das so. Die Vorstellung, dass ihre eher für eine Performance gedachten raumgreifenden Objekte aus unbehandelter Pappe und einfachem Blech einmal im Museum stehen würden, lag ihr gänzlich fern. Zu Lebzeiten hätte sie die Musealisierung vermutlich abgelehnt. Sie hat diese Art Gedanken, glaube ich, in Gerry Schums Film Konsumkunst – Kunstkonsum geäußert, der am 17. Oktober 1968 im 3. Programm des WDR gesendet worden ist. Diese Auffassung teilte sie mit anderen, die von der Aufgeblasenheit des Nachkriegsindividualismus genug hatten, als viele Künstler die wiedergewonnene Freiheit nach den Jahren der Unterdrückung als souveräne Autonomie zelebrierten. Im Vorwort zum Katalog der 4. documenta 1968 charakterisiert Günther Gerken die damals hochaktuelle Kunst mit vier allgemeinen Merkmalen:
» 1. Die Serienherstellung mit ihrer Beziehung zur Konsumgesellschaft und Massenproduktion
2. Der Objektcharakter mit seiner Beziehung zur Technik und Wissenschaft
3. Der Vorrang des Materials gegenüber der Bearbeitung
4. Die Gestaltung der Umgebung (Ambiance, Environment) mit ihrer Beziehung zur Architektur.«
Alle Merkmale treffen auf Charlottes Werk in derart frappanter Weise zu, als habe Gerken seine Charakteristika an ihrer Arbeit gewonnen. Sie war, als sie aufhörte, als Künstlerin auf der Höhe der Zeit. Übrigens kauften Charlotte und Paul Maenz auf ihren Fahrten nach Holland Sachen aus der Zeit von De Stijl, die damals auf den Flohmärkten von Amsterdam noch billig zu haben waren. Paul brachte eine ganze Sammlung zusammen, die er später verkauft hat. Hans van Manen, der berühmte Choreograf des Nederlands Dans Theater, das Charlotte jedes Mal besuchte, wenn es in der Hoechster Jahrhunderthalle gastierte, kaufte einige Vierkantrohre aus Wellpappe, die – wie er mir später am Telefon sagte – sein Hund angefressen hat. Charlotte hätte das amüsiert. Gebrauchspuren, und seien es Beschimpfungen, wie sie sich etwa auf den Drehflügeln aus Holz finden, waren für sie Formen der Partizipation. Charlotte fuhr damals auch nach Berlin zu den großen Demonstrationen und war von Rudi Dutschke sehr beeindruckt: »Bürger lasst das Gaffen sein, kommt herunter, reiht euch ein!« Diesen witzigen Spruch mochte sie besonders. Sie fand Pauls Idee, in dieser Zeit des Aufbruchs und Umbruchs eine Galerie zu gründen, grundfalsch. Sie diskutierten das lange hin und her. Ich war dabei.
9 Bruch mit der Kunst
»Kurze Karrieren« hieß eine Gruppenausstellung im Museum für Moderne Kunst in Wien, zu der ich im Mai 2004 den Kleinen Drehflügel, 4 gelbe Reliefs, Konstruktionszeichnungen und ein paar Bilder gebracht habe, darunter eines, auf dem Charlotte den Übergang von der Fläche in den Raum durch Klebebänder andeutet, die leicht angefaltet sind. Diese »Karriere« hat ganze zehn Jahre gedauert, von 1957, wo sie noch nach dem Vorbild Mondrians in einzelnen Abstraktionsschritten von der »normalen« Wahrnehmung eines Baumes zu einer strukturierten Fläche gelangte, bis zum Jahre 1967, dem Jahr, in welchem alle wichtigen Serien entstanden sind, durch die Charlotte bekannt geworden ist: die Reliefs, die Vierkantrohre (die sie oft »Kanäle« nannte), die Drehflügel und die Konzepte, bei denen nicht entschieden ist, ob sie ausgeführt werden sollten oder nicht. Anders gesagt, kulminiert ihre ganze Arbeit in einem einzigen Jahr. Dass sie ihre Werkphasen nach Serien ordnete, bedeutet nicht nur, dass sie jeweils dasselbe in Variationen (Farbe, Größe) herstellte – und damit die Absage an Unikate: durch die zusätzlichen Buchstaben A–E (Serie A– Serie E) kennzeichnet sie ihr Werk auch als einen systematischen Zusammenhang, eine Entwicklung, die sie übrigens in einer Tabelle dargestellt hat. Zufälle und Seitenpfade ließ ihr Programm nicht zu. Ebenfalls 1967 wurde Charlotte durch Vermittlung von Frau Loehr gebeten, an einer Ausstellung im Foyer des Hessischen Rundfunks teilzunehmen, zu der auch Peter Roehr und Wolfgang Schmidt aufgefordert worden waren. Charlotte beschreibt das Projekt:
»Wir drei wollten aber keine ›konventionelle‹ Ausstellung machen und überlegten uns andere Möglichkeiten. Für ein Gespräch zwischen uns dreien, das bei Schmidt in Dreieichenhain stattfand, habe ich ein Papier mit 4 Vorschlägen vorbereitet. Möglichkeiten, über Kunst ›hinauszugehen‹, interessierten mich damals am stärksten. [. . . ] Jeder stellt einen anderen Künstler (gut oder schlecht) aus. Er weist dadurch hin auf die problematische Rolle des Künstlers in unserer Gesellschaft. Was übrig bleibt vom Produkt ›Kunst‹, das immer mehr identisch wird mit der Umwelt, ist die Person des Künstlers. R/S/P machen keine Kunst, sondern einen Künstler. Sie nehmen ihn so, wie sie ihn vorfinden und demonstrieren mit ihm und seinem Werk alle gesellschaftlichen (ästhetischen) Probleme, die darin enthalten sind. R/S/P isolieren den Komplex Kunst/ Künstler und stellen ihn in einen neuen Zusammenhang. Sie veranlassen dadurch die ausgestellten Künstler automatisch zu dem ganzen fragwürdigen Verhaltensschema: Produktion und Angebot von Ware ohne Nachfrage, fehlende Mittel (und Kenntnisse) für Werbung und Vertrieb, verlorene Investitionen in Transport, Versicherung usw. Diskrepanz zwischen Produktionsmitteln und Projekten. Katalog Voraussetzung.«
Charlottes zweiter Vorschlag: »R/S/P benutzen die Gelegenheit, auf viele Menschen zu wirken, um ihrer politischen Meinung Ausdruck zu geben. Sie machen eine Ausstellung über Vietnam, Notstandsgesetze, Griechenland, Südafrika usw. usw. – Das Ergebnis des Gesprächs war der Entschluss, die Ausstellung nicht zu machen.«
Charlotte befindet sich mit diesem nicht realisierten Projekt bereits jenseits ihrer bisherigen Kunstproduktion – also schon Ende 1967. Kunst zu machen erschien ihr angesichts der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur moralisch fragwürdig, sondern die Kunstproduktion darüber hinaus auch als obsolet, da sie sich – mit Ausnahmen bis heute – nicht auf dem technischen und organisatorischen Stand der normalen Warenproduktion befindet und die Nachfrage fehlt. Charlotte war offensichtlich der Meinung, dass Kunst auch als Ware keine Zukunft mehr habe – worin sie sich gründlich geirrt hat. Denn gerade Ende der 1960er-Jahre differenziert sich der Kunstbetrieb zu einem konturierten ökonomischen Subsystem aus, das durch Galerien, Kunstmärkte, Biennalen, Kuratoren, Fachzeitschriften und Museen reguliert wird. Nun erst bildet sich der Typus des Berufskünstlers vollends aus, der kontinuierlich für den Markt arbeitet. Die Verkaufbarkeit tangiert natürlich die Inhalte von Kunst. Das Projekt im Funkhaus war der Versuch einer öffentlichen Selbstreflexion. Wenn Charlotte sich entschlossen hat, diese Ausstellung nicht zu machen, dann wohl darum, weil der Kunstbetrieb ihr für eine politische Einwirkung nicht mehr das geeignete Terrain schien. In dieser Zeit versuchte sie auch andere davon zu überzeugen, dass die Kunstproduktion überholt war, so hat sie etwa Jan Dibbets einen Abend lang von der Kunst abbringen wollen, jedoch vergeblich. Eine Postkarte zeigt sein entschiedenes Unverständnis. Ein später datiertes Projekt, das in einem direkten Zusammenhang mit Charlottes anderen Arbeiten steht, war die Bemalung des Bürgerhauses in Frankfurt-Sindlingen. Der Frankfurter Architekt Günter Bock, der auch Professor an der Städelschule war, hatte am 26. Januar 1968 dem Frankfurter Städtebau- und Baupflegeausschuss (dem Architektenbeirat der Stadt Frankfurt) vorgeschlagen, die ziehharmonikaartig gefaltete Sichtbetonfassade des von ihm 1961 erbauten Bürgerhauses zu bemalen. Als sein Vorschlag vom Bauherrn, der Frankfurter Saalbau GmbH, abgelehnt wurde, schrieb er am 2. Februar 1968 an die Redaktion der Bauwelt:
»Für die Bemalung habe ich die Pop-Artistin Charlotte Posenenske herangezogen, die auch mehrere – wie mir scheint sehr reizvolle und inspirierte – Entwürfe geliefert hat.
Entwurf 1: Eine Pop Art Bemalung, die in einer gigantischen Maßstabsverfremdung je eine rote, Zähflüssigkeit signalisierende und eine blaue, Wolken und Wind assoziierende Farbsensation auf dem Gebäude anbringt.
Entwurf 2: Eine in der Art von Comic strips stilisierte Landschaftswiedergabe dessen, was das Haus verdeckt. (Großartig, aber teuer!)
Entwurf 3: Ein Punktraster, bei dem rote Punkte von 1,50 m Durchmesser auf blauem Grund das ganze Haus unerbittlich überziehen, als hätte man dem nackten Beton einen Pyjama übergezogen.«
Weiter heißt es in dem Brief: »Die Kollegen schlagen die Hände über dem Kopf zusammen, weil die Bemalung dem Bau offensichtlich nicht gut gesinnt ist, ihn stören möchte. Es fragt sich, ob diese Störung den Bau nicht steigern kann. [...] Die Behauptung, dass die plastische Artikulation eines Körpers oder Baus verloren gehen müsste, wenn ein Raster darüber gelegt wird, ist einfach nicht haltbar. Gerade weil die Rücksichtslosigkeit des Rasters vor nichts ausweichen kann, fällt er in jede Vertiefung, klettert auf jede Erhöhung und dramatisiert sie zusätzlich. Ein kreisrunder Punkt, der um eine Ecke klappt, ›besiegt‹ diese Ecke? Annulliert sie? Nun, in einer bestimmten Beleuchtung und unter einem ganz bestimmten Gesichtswinkel mag das immerhin zutreffen, aber im nächsten Moment ist es schon umgekehrt, wird die Ecke nur verdeutlicht. Dieses Spiel von Verschleierung und Akzentuierung aber ist ungleich dramatischer, elektrisierender, als eine konforme Bemalung und verleiht der Erscheinung eine neue Dimension.« Bock freut sich über den Tabubruch und empfiehlt dem Redakteur mit Vornamen Ulrich einen möglichst süffisanten Kommentar. »Und wenn dann Echo kommt, steige ich in die Diskussion ein, und es gibt wieder ein Gemetzel.«
Charlottes dritter Entwurf, den Bock favorisierte, überträgt ihr altes, bereits in den Plastischen Bildern – den ersten Faltungen und Reliefs – behandeltes Thema, wie ein Farbauftrag die Objektoberfläche optisch einebnet oder vertieft, auf die Architektur. Am 29. November 1966 hatte sie ihr Konzept folgendermaßen skizziert:
»Die plastischen Bilder sind aus Blech gefaltet, gewölbt und zum Teil ausgeschnitten. Sie sind zusammengelötet oder -genietet und auf der Rückseite mit Aluminiumprofilen verstärkt. Ich stelle sie selbst her. Es entstehen Grate, Kreuzungen, Pyramiden, Wölbungen, Stufen, Ecken, Balken, Falten, Trichter. Auf diesen Untergrund trage ich die Farbe – hochglänzende oder matte Lacke – mit der Spritzpistole auf. [Zuerst und später nur ausnahmsweise trug Charlotte dabei eine Schutzmaske. Wir glaubten beide, dass dies ihre Krebserkrankung mitverursacht hat.] Das Problem, das ich zeige, ist die Spannung, die zwischen der realen Plastik des Untergrundes und der illusionär- plastischen Wirkung der Farbe entsteht. Die Farbe steigert die Räumlichkeit der Form oder sie hebt sie auf. Gegenstände werden zum Raum verflüchtigt und Räume zum Gegenstand verfestigt. Die Bilder beschäftigen sich mit dem Problem des Raumes in der Malerei auf eine neue Weise. Sie erinnern an Eindrücke unserer technischen Umwelt: Lichtwirkungen, schnelles Fahren, sich verengende, sich vor- oder zurückwölbende Straßen- und Lufträume [...].«
Dieses Spiel zwischen Körper und Farbe fasst Bock als »match« zwischen Architektur und Malerei auf, ein naheliegender Gedanke, insofern Charlottes Entwurf seine Architektur nicht nur verfremdete, sondern optisch zunichte machte. Man sieht, wie streng sie sich hier im Rahmen ihrer Problemstellung hielt. Charlotte wusste sich in der großen Tradition einer Kunst, die sich mit der menschlichen Wahrnehmung befasst. Anfang des 15. Jahrhunderts standen die Florentiner fassungslos vor Masaccios gemaltem Tonnengewölbe in Santa Maria Novella: Was sie sahen, war ein Raum, aber sie wussten, es war in Wirklichkeit die Kirchenwand. Die Erfindung / Entdeckung der Zentralperspektive in der Frührenaissance (Masaccio, Donatello, Brunelleschi) eröffnet die Möglichkeit, Raum auf der Fläche perfekt zu illusionieren. Die niederländischen Stilllebenmaler trieben mit ihren Trompe-l’OEil-Effekten die Augentäuschung soweit, dass der Betrachter manchmal glaubt, die Gegenstände aus dem Bild fallen zu sehen. Wie aus dem obigen Text hervorgeht, interessierte sich Charlotte gerade für diese Wahrnehmungsprobleme. Die Vierkantrohre aus Stahlblech zum Beispiel scheinen unter bestimmten Lichtverhältnissen ihre reale Plastizität zu verlieren und sehen völlig flach aus – ein Phänomen, das ich erst beim Fotografieren entdeckt habe und das von Charlotte zweifellos beabsichtigt war. Im Übrigen ist ja ein Hauptaspekt der Minimal Art, zu der Charlottes späte Arbeiten oft gezählt werden, dass etwas objektiv Gleiches – etwa eine Farbe oder ein stereometrischer Körper – in Abhängigkeit von Lichteinfall, Blickwinkel und Bewegung des Betrachters subjektiv verschieden erscheint. Charlotte fand Scheinperspektiven wie in der römischen Villa Farnesina und andere Augentäuschungen interessant – wie etwa die im großen Saal des Würzburger Schlosses, wo auf dem Deckengemälde ein gemalter Oberschenkel in einen vollplastischen Unterschenkel übergeht, der über den Sims herabhängt. Sie hat mich bei jedem Besuch darauf hingewiesen. Diesen Übergang von der Fläche in den Raum (oder von der Malerei in die Skulptur) kann man übrigens – in umgekehrter Richtung – in der Natur beobachten, wenn ein Körper einen Schatten wirft.
Das Problem, dass etwas anders erscheint als es ist, interessierte Charlotte auch als Soziologin. Bekanntlich gilt Das Kapital von Marx nicht nur als politökonomische Theorie und Revolutionstheorie, sondern auch als Ideologiekritik. Marx war der Auffassung, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse notwendig anders erscheinen, als sie wirklich sind: Das zugrunde liegende ökonomische Gewaltverhältnis – die Herrschaft des toten Kapitals über die lebendige Arbeit – erscheint dem Lohnarbeiter als Freiheit, insofern er – anders als in der Leibeigenschaft – die Möglichkeit hat, seine Arbeitskraft als juristisch gleichberechtigter Warenbesitzer zu verkaufen. Wenn der Lohnarbeiter nun seine Arbeitskraft verkauft hat und sie Bestandteil des Produktionsprozesses geworden ist, erscheint nicht er, sondern das Kapital als produktiv. In diesem Zusammenhang entwickeln sich im Kopf weitere und verwickeltere Umkehrungen der realen Verhältnisse: Sie erscheinen als Sachen. Ideologien sind nach Marx nicht – wie der allgemeine Sprachgebrauch es will – legitimatorische Denksysteme überhaupt, sondern verkehrte Vorstellungen, die unabwendbar aus der kapitalistischen Produktionsweise entstehen. Die gesellschaftlich bedingte Borniertheit der Funktionsträger des Kapitals hat er mit der Metapher der »Charaktermaske« umschrieben. Mag diese Analogie zur Illusionsbildung in der Kunst auch letztlich nur oberflächlich sein, so steht doch fest, dass Charlotte sich hartnäckig für Ideologiekritik interessiert hat und dass sie zu deren Verständnis einige Voraussetzungen aus der Kunst mitbrachte – denkt man etwa daran, dass man zwar weiß, wie ein Würfel objektiv aussieht, ihn als solchen, das heißt in seiner Ganzheit, aber nie wahrnehmen kann. Der Wahrnehmung bieten sich stets nur Aspekte. Das ist jedoch hier nicht überzubewerten. Ich erwähne das im Vorgriff auf die Frage, ob es zwischen Charlottes künstlerischer und soziologischer Arbeit Gemeinsamkeiten gibt.
1968, ein Jahr darauf, hörte sie auf. Ich habe die Objekte mit ihr zusammen im Lieferwagen abgeholt: aus der Galerie Plus-kern in Gent bei der Rückkehr von einer Englandreise, von der Galerie art & project in Amsterdam erst im April 1973, nachdem die Galeristen darum gebeten hatten. Die Objekte aus ihrem Atelier im Dachgeschoss des Isenburger Schlosses haben wir gemeinsam abgeseilt. Charlotte hatte zu dieser Zeit längst mit der Kunst abgeschlossen und war voll mit ihrem Studium beschäftigt. Adriaan van Ravenstijn und sein Partner Geert van Beijeren waren merklich enttäuscht, denn sie hatten mit Charlottes Vierkantrohren ihre Galerie eröffnet und große Hoffnungen auf ihre Arbeit gesetzt. Die Höflichkeit der beiden war frostig, und sie machten, als sie Charlotte nicht von ihrem Mann, sondern von mir begleitet sahen, sich das Bild von der Situation, das auch Paul Posenenske bevorzugte: Charlotte sei einem jüngeren Mann verfallen, der sie von der Kunst abgebracht habe. Diese Situationsdeutung verkennt allerdings Charlottes Gründe völlig. Zunächst gibt sie in dem schon erwähnten »Manifest« (S. 135) in Art International im Mai 1968 (Bd. XII/5) folgende Erklärung ab: »Es fällt mir schwer, mich damit abzufinden, dass Kunst nichts zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme beitragen kann.« Ein paar Sätze davor sagt sie, dass die gesellschaftliche Funktion der Kunst verkümmert sei und Kunst als Ware nur vorübergehende Aktualität besitze, das heißt immer schneller konsumierbar ist. Diese Ansicht äußert sie auch bei der obigen Beschreibung des Projekts, das sie zusammen mit Peter Roehr und Wolfgang Schmidt beim Hessischen Rundfunk realisieren wollte. Charlotte glaubte also, dass Kunst, die sie ernst nahm, insgesamt an ihr Ende gelangt sei. Darum beantwortete sie auch die Briefe nicht mehr, in denen sie gebeten wurde, sich an Ausstellungen zu beteiligen. Am 3. Mai 1969 etwa bittet Klaus Staeck sie darum, an der von ihm veranstalteten intermedia 69 teilzunehmen. Er wollte Objekte haben, die man im Freien aufstellen kann, und hatte Charlotte vorsorglich schon namentlich notiert. (Sein Brief ist mit einem Schlagring unterzeichnet.) Auf die Zusendung der Unterlagen des Deutschen Künstlerbundes zur Ausstellung in Hannover 1969 reagierte Charlotte nicht. Ebenso wenig auf die Einladung zu einer Ausstellung ehemaliger Baumeister-Schüler.
Man kann solche Sätze wie die aus ihrem Statement nur im Kontext der gesellschaftlichen Situation angemessen verstehen: Wir standen an einer Zeitenwende und wussten es. Die Versteinerung der nach dem Zweiten Weltkrieg restaurierten quasibürgerlichen Verhältnisse brach endlich auf. Infrage stand nicht nur das Herrschaftsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit und zwischen Staat und Bürger, sondern auch das zwischen den Geschlechtern, die Institution der Ehe, das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Die jungen Leute theoretisierten nicht nur, sondern setzten ihre Erkenntnisse sogleich in die Praxis um. Sie experimentierten, lebten zusammen, gingen wieder auseinander. Ganz neue Beziehungen waren möglich. Die »sexuelle Revolution« erlaubte jede Art von Promiskuität und befreite die Sexualität von dem Anspruch der Liebe: Sex wurde – und wird seitdem – als eine Sportart betrieben, was immer man davon halten mag. Es galt, neue Erfahrungen zu machen. Gruppensex wurde ausprobiert. Viele überlegten, ob sie vielleicht eher schwul waren oder wenigstens bisexuell. Man war spontan, entschied sich schnell, die Blumenkinder reisten nach Indien, die politischen Kinder nach China. Es begann die Zeit der Aussteiger. Sogar Karrieristen warfen den Bettel hin und begannen ein anderes Leben. Im Milieu bürgerlicher Intellektueller gingen viele Ehen auseinander. Ehefrauen verschwanden mit jungen Liebhabern. Kinder zogen aus. Überall duftete es nach Freiheit.
Der Feminismus kam auf, hat Charlotte aber nicht weiter interessiert. Während des Soziologie-Studiums wurde sie dann stärker damit konfrontiert. Darauf angesprochen, sagte sie lapidar, sie fühle sich weniger als Frau denn als Mensch. Dagegen kann man gewiss vieles einwenden. Für sich hatte sie das Problem auf diese Weise gelöst. Charlotte war – auch aufgrund ihrer finanziellen Unabhängigkeit – der Unterdrückung und Bevormundung durch Männer entgangen. Die Partner, die sie sich ausgesucht hatte – und es war zweifellos sie, die sich ihre Männer wählte –, waren gewiss keine Machos. Es mag hinzukommen – wenn es nicht der Hauptgrund ist –, dass die Erfahrung der Verfolgung durch die Nazis, die ja Männer und Frauen in gleicher Weise betroffen hatte, für ihr Leben so tief greifend war, dass das Problem der Unterdrückung durch Männer für sie vergleichsweise marginal wurde. Ich erinnere mich jedoch, dass sie einmal bemerkte, sie wolle in den Ferien künftig lieber nach Dänemark fahren als nach Italien. Warum? Und sie beschrieb mir die winzigen obszönen Gesten, denen sie sich ausgesetzt fand, ohne dass ich – als Mann – davon auch nur eine Spur bemerkt hatte. In Dänemark sahen wir in einem Garten eine alte, weißhaarige Frau in einem Schaukelstuhl sitzen, die Pfeife rauchte. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie das tat, gefiel Charlotte. Zweifellos waren andere Probleme für sie wichtiger als die Stellung der Frau. Für weibliche Mode interessierte sich die ehemalige Kostümbildnerin während unseres Zusammenlebens überhaupt nicht mehr. Sie trug stets Hosen, Pullover und flache Absätze, eine Windjacke oder einen alten Burberry. Um mir etwas von der Situation der Frau zu erklären, schlug sie mir einmal vor, ich solle nur einen Tag lang auf Stöckelabsätzen laufen. Dann, meinte sie, hätte ich schon viel verstanden. Sie betrachtete die unbequemen modischen Schuhe als eine Fessel nach Art der Bandagierung der »Lilienfüße« im alten China. Aus der traditionellen Frauenrolle hatte sie sich weitgehend befreit. Als Frau war Charlotte empfindsam und leidenschaftlich. Aber ihre Kunst hat nichts, was man spezifisch weiblich nennen könnte. Es gab für sie gute und schlechte Künstler, ob sie weiblich oder männlich waren, das war für sie kein Kriterium. Den Ausdruck »Frauenkunst « hätte sie als Diskriminierung empfunden.
In jener Zeit also entschloss sich Charlotte, ihren Mann zu verlassen und mit mir zusammenzuleben. Dieser Entschluss wurde dadurch begünstigt, dass sie entschieden hatte, die Kunst aufzugeben – und nicht umgekehrt. Aus dem oben zitierten Statement ist gefolgert worden, Charlotte habe die Kunst aus politischen Gründen aufgegeben. Diese Behauptung ist aus dem Statement aber nicht direkt abzuleiten. Denn dort steht ja nicht, dass sie sich daran beteiligen wollte, »drängende gesellschaftliche Probleme« zu lösen. Die Behauptung wird erst plausibel, wenn man Charlottes Entschluss hinzunimmt, Soziologie zu studieren, eine Wissenschaft, die allerdings auch nicht per se politisch ist. Man muss darum wissen, dass Charlotte sich auf der documenta IV an Aktionen beteiligte, die sich gegen diese Kunstveranstaltung wandte. Sie war nicht die Einzige, die der Ansicht war, dass der Kunstbetrieb mit seinen verschiedenen Institutionen ein organisierter Warenhandel wie jeder andere ist und die Ware Kunst durch ihr hohes Ansehen bestens dazu geeignet, die »drängenden Probleme« auszublenden.
Aus einem Flugblatt, das auf der documenta verteilt wurde und das Charlotte aufgehoben hat:
»Documenta-Besucher! Bedenken Sie beim Betrachten dieser Ausstellung, dass sie über soziales Elend und gesellschaftliche Missstände hin wegzutäuschen hilft. Solches bewirkt jede Form der Kunst, auch die modernste. Denn, wer abends zufrieden einer Bach-Kantate lauscht, wer die Behaglichkeit seiner Wohnstube mit bunten Gemälden putzt, wer an wohlgesetzten Gedichten sich still erfreut, wer an pop-art oder lustigen happenings sich ergötzt, wer stolz dem Gast die letzte Erweiterung seiner Kunstschätze zeigt, wer das Angenehme mit dem Nützlichen im Theaterbesuch vereint, der wird weniger geneigt sein, auf Abhilfe bestehender Missstände zu sinnen. Ihm erscheint die ganze Welt edler, harmonischer und auch schöner, als es die Gesellschaft in Wirklichkeit ist, in der er lebt. Er wird gewiss weniger nachdenken über soziales Elend, zunehmende Verbrechen, Kriege in Asien und Afrika, die Armut eines Großteils der Menschen und der Unterdrückung und Ausbeutung, das rückständige Recht dieses Landes, das rückständige Schulwesen dieses Landes, die sozialen Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft, mangelnde Bildungschancen für die Kinder der Arbeiter, die Gewalt, die täglich im östlichen wie im westlichen Teil der Welt Menschen angetan wird. Kunstwerke sind nicht fähig, Elend und Unzulänglichkeiten zu beseitigen oder auch nur wirklichkeitsgerecht darzustellen. Denken Sie, wenn Sie vor den Werken dieser Ausstellung stehen, intensiv daran, dass im selben Moment Menschen gemordet, Kinder verbrannt, Frauen geschändet werden. Dann wird Ihnen der Wahnsinn und das Unmenschliche einer solchen Ausstellung deutlich. [. . .]«
Ein anderes, weniger grundsätzliches Flugblatt vom 25. Juni 1968, das Charlotte aufgehoben hat, haben sieben junge Künstler unterschrieben. Sie wenden sich in eigener Sache »An alle«:
»Der gesamte amerikanische Beitrag (Die Wichtigkeit des Beitrags steht außer Frage) wird von einem Kölner Galeristen ausgewählt, der sich in der einzigartigen Situation befindet, als offizieller Documenta-Rat zur Teilnahme auffordern zu dürfen und gleichzeitig für seine Galerie zu akquirieren. So nebenbei organisiert er noch den Kölner Kunstmarkt, den Händler-Trust der sogenannten Progressiven und Ausstellungen wie die ›ars multiplicata‹ (mit möglichst eigenen Beständen). Aus Investitionsgründen organisiert er auch etwas junge deutsche Kunst. Einige Künstler dürfen unter sozial repressiven Exklusiv-Verträgen warten, ob und wann Stünke sie ›macht‹. Am Muster ›Stünke‹, das sich quantitativ und qualitativ beliebig erweitern lässt, zeigt sich am deutlichsten, unter welchen Bedingungen junge Künstler systematisch ausgebeutet werden. Das Muster ›Stünke‹ ist ein Beispiel für eine Machtkonzentration und Monopolisierung im Kunstbetrieb, dem entgegengetreten werden muss. Wehrt Euch gegen die professionellen Ausbeuter. Gründet eine eigne CO-OP!«
Viele Künstler, die zu jener Zeit »politisiert« wurden, begannen politische Kunst zu machen. Das lehnte Charlotte ab. Sie glaubte, dass Kunst auch dann gesellschaftlich nichts verändert, wenn sie versucht, politisch zu sein. Denn um gezielt politisch zu wirken, das heißt letztlich handlungsrelevant zu sein, müsste Kunst ihrer Ansicht nach eindeutige Aussagen machen, die jedermann verständlich sind. Doch gute Kunst bleibt vieldeutig, und ihr Verständnis hängt von Vorwissen ab. Politische Kunst tendiert dagegen zur plakativen Eindeutigkeit, das heißt, sie schränkt die Interpretationsfreiheiten ein und verliert gerade dadurch ihren Kunstcharakter. Natürlich wusste Charlotte, dass Kunst unter anderem auch eine politische Dimension haben kann, etwa wenn ein Künstler seine Betroffenheit und sein Leiden an den Verhältnissen zum Ausdruck bringt. Es kommt hier darauf an, wie breit man den Begriff »politisch« fasst. Charlottes eigene Arbeiten zeigen zumindest ein avanciertes Demokratieverständnis, das am deutlichsten an der Beteiligung anderer erkennbar ist. Überhaupt ist ihr ganzer Weg vom Tafelbild zur Architektur in dem Sinne »politisch«, dass er von der bloßen Betrachtung imaginierter Welten in die reale Welt führt, in der wir leben und handeln und unseren Alltag gestalten. Aber sie lehnte es ab, Kunst in den Dienst politischer Botschaften zu stellen. Und eine Kunst, die durch Schock überwältigen will, fand sie als ein Mensch, der auf die Vernunft baute, von Übel.
Zum besseren Verständnis muss ich erwähnen, was Charlotte mir auf einem Spaziergang als etwas besonders Wichtiges mitgeteilt hat. Willi Baumeister, sagte sie, habe ihr einmal erklärt, dass er über ein Bild, das er gemalt habe, auch nichts Besseres zu sagen wisse als ein Interpret, der sich Mühe gebe. Eine Implikation dieser Aussage ist, dass die Aufgabe des Interpreten nicht darin besteht, die Bedeutung einer Arbeit durch Rekurs auf Absichten, Motive oder gar Aussagen des Künstlers zu rekonstruieren – wie es die alten Produktionstheorien postulierten. Die Bedeutungskonstitution geht dagegen wesentlich durch die Interpretation selber vor sich. Umberto Eco hat die Rezeptionstheorie Ende der 1960er-Jahre begründet, wir lernten sie erst in den 1970er-Jahren über die Literaturwissenschaften kennen, als wir uns mit sogenannten Leerstellen beschäftigten. Baumeister vertrat diese Position offenbar avant la lettre. Charlotte konnte danach unmöglich eine Kunst gutheißen, welche durch tendenzielle Eindeutigkeit die Interpretationsmöglichkeiten einschränkt. Ich nehme die rezeptionstheoretische Position auch für mich selbst in Anspruch: Vieles von dem, was ich über Charlottes Kunst sage, ist meine eigene, nicht durch explizite Aussagen der Künstlerin gestützte Interpretation, die jedoch mehr als bloß eine Ansicht ist, denn ich kann sie am Objekt im Detail belegen. Ich sage »vieles« (nicht »alles«), weil ich aufgrund unserer sehr diskutierfreudigen, intensiven Zusammenarbeit und unseres langen Zusammenlebens zu wissen glaube, wie Charlotte dachte, und auch – ganz konventionell – Folgerungen aus dem Kontext ziehe, das heißt aus dem, was Charlotte über Kunst und Gesellschaft überhaupt dachte. Über ihre eigene Kunst habe ich Charlotte niemals befragt, da ich wusste, dass sie ungern darüber gesprochen hätte. Wir waren damals hauptsächlich mit unserer Zukunft beschäftigt.
Ein drittes Flugblatt lädt »Zur Ausstellung progressiver, nichtaffirmativer Kunst« ein (26. Juni bis 12. September 1968). Geboten wird: »Statt Affirmation Erweiterung des Bewusstseins, Kritik, Information. « Auf der Rückseite des Flugblattes ist ein Zitat von Bert Brecht abgedruckt: »Ich sehe, dass ihr aus euren Bildern die Motive entfernt habt. Es kommen keine erkennbaren Gegenstände mehr darin vor. Ihr gebt wieder die geschweifte Kurve eines Stuhles, nicht den Stuhl, die Röte des Himmels, nicht das brennende Haus. Wenn ihr dienstbare Geister der Herrschenden wärt, würdet ihr gut tun, den Wunsch eurer Auftraggeber nach etwas ungenauen allgemeinen, wenig verpflichtenden Darstellungen zu erfüllen« usw. Brechts Ablehnung der ungegenständlichen Kunst teilte Charlotte natürlich nicht. Wir haben uns während unseres Studiums mit der realsozialistischen Abbildtheorie beschäftigt und fanden sie allein schon erkenntnistheoretisch nicht haltbar.
Im Nachlass findet sich auf dem folgenden vierten Flugblatt die handschriftliche Bemerkung: »Flugblatt, bei der Eröffnung der ›documenta‹ 1968 verteilt.« Charlotte hat also am Eingang den Leuten dieses Flugblatt in die Hand gedrückt:
»Ihr Kultur-Fatzken, da kommt Ihr also wieder mal zusammen und schwätzt und lügt und redet Scheiße um Eurer Vorteile willen. Jeder hält sich und seinen Kram für bestechend ohne zu merken, wie bestochen er ist. Begreift doch endlich, dass Ihr überflüssig seid! Genau so überflüssig wie die Kunst, die Ihr macht, verkauft, konsumiert, kritisiert – kurzum: Eure ganze Apparatur der Aufund Abwertung von eingebildeten und eingebleuten Werten, an die zu glauben Ihr vorgebt. Künstler – kleine Namen, große Namen – fummeln da vor sich hin und merken nicht, dass die Wirklichkeit sie nicht nur ästhetisch längst überholt hat. Sie notieren das ›Kunstproblem‹, bilden sich was ein auf ihre formalen ›Revolutionen‹. Sie sind geil darauf, dass irgendein Kapitalist was springen lässt. ›Tagsüber immer feste drauf, so ist nun mal das Leben‹, und abends zeigt man sich und anderen, dass man ja gar nicht so ist, sondern Kultur hat. Dass man sich leisten kann, die vier Castellis tanzen zu lassen und von Christo ein gut verpacktes Paradies. Es ist lächerlich, wenn sich die amerikanischen Künstler vom Vietnamkrieg distanzieren, damit in Kassel nicht gegen sie demonstriert wird. Man kann nicht den kapitalistischen Krieg in Vietnam verurteilen und sich vom selben Gesellschaftssystem als kulturelles Alibi aufbauen lassen. Und die ach so Engagierten, die sich die Wirklichkeit vornehmen, verbraten sie zu bequemer Ästhetik. Die Arschlöcher, die beschimpften, sitzen im Parkett und klatschen Beifall. Es gibt keinen Grund mehr, Kunst zu machen. Es gibt keinen Grund für die Documenta. Sie ist ein Instrument. Sie steht einem System zur Verfügung, das sich ihrer bedient. Die Documenta vertritt alles das, was vom System gebraucht wird, um Progressivität vorzutäuschen. Begreift endlich: Ein Kubus ist ein Kubus. Wer ihn zum Kunstkubus erklärt, macht sich verdächtig.«
So verquer diese Flugblätter von rebellischen, jungen Leuten formuliert sind, Formulierungen, die Charlotte selbst nie gewählt hätte, so hat sie doch sicherlich einige Aussagen für richtig gehalten. Sonst hätte sie dieses letztere Flugblatt nicht verteilt. Auch sie war der Überzeugung, dass Kunst als Alibi für die nur scheinbare Progressivität einer reaktionären Gesellschaft dient. Auch sie hatte die Zahnlosigkeit der Kunst bemerkt, die ein Publikum beschimpfen kann, das ihr trotzdem oder gar deshalb Beifall zollt. Auch sie war der Ansicht, dass es keinen Grund mehr gebe, Kunst zu machen. Unter diesen Umständen. So witzig wie kein anderer hat Jörg Immendorf das Problem auf den Punkt gebracht: Er schuf sein berühmtes Werk mit der Aufschrift »Hört auf zu malen«. Die revolutionäre Botschaft aber: als Bild.
10 Zwischen Kunst und Soziologie (I)
Wenn Charlotte also tatsächlich an der Lösung »drängender Probleme « teilnehmen wollte, musste sie einen anderen Weg beschreiten. Sie begann also, Soziologie zu studieren, denn sie glaubte, der Individualismus habe uns den Horizont verengt, und sie erwartete von der Soziologie eine systematische Darstellung der Gesellschaft als ein Ganzes. Wir begannen also – wie damals viele – Karl Marx zu studieren, dessen Warenkreisläufe im zweiten Band des Kapital einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Sphären der Gesellschaft darstellen, der durch die Waren und das Geld vermittelt wird. Während das einzelne Individuum infolge seiner subjektiven Bedürfnisse und der objektiven Interessen, die es aufgrund seiner sozialen Position und Funktionen hat, stets nur in verengter Perspektive Ausschnitte der Gesellschaft ohne Zusammenhang wahrnimmt, verspricht die marxsche Theorie einen Blick auf das Ganze. Charlotte liebte es, Zusammenhänge zu visualisieren, und so hingen an unseren grauen Stahlregalen – denselben wie in der Universität – große, aus vielen Din-A4-Blättern zusammengeklebte Zeichnungen, auf denen lange, kurze, dicke, dünne, schwarze und rote Pfeile die Wirkungen einer gesellschaftliche Sphäre auf eine andere ausdrückten. Ich habe schon öfters gesagt, dass es in Charlottes Leben meines Erachtens ein Hauptmotiv gab, dass sich aus der schlimmen Erfahrung des Ausgeschlossenseins entwickelt hat: das Bedürfnis dazuzugehören. Sie hoffte, eine so gute Soziologin zu sein, dass sie irgendwann mit den Gewerkschaften zusammenarbeiten könnte. »Dem Volk das Beste!«, hat Karl Marx einmal gesagt, und da Charlotte, die diesen Ausspruch liebte, sich von ihrer Herkunft her nicht zur Klasse der Arbeiter rechnen konnte, musste sie dem »Volk« ihrer Auffassung nach etwas sehr Gutes und Nützliches mitzubringen haben. Sie empfand sich als unverdient privilegiert und war zudem der Ansicht, dass man sich immer nur an den Besten orientieren solle, wenn man, wie sie, die Möglichkeit dazu hatte. Sie sagte mir einmal: »Wenn du weißt, wer der Beste oder was das Beste ist, wird alles andere leicht. Denn du hast den Maßstab.« Sie wusste, dass Privilegiertheit das Resultat ungerechter Verteilungen ist, und sie war sich bewusst, dass derjenige, dem Chancen durch seine zufällige Stellung in der Gesellschaft geboten werden, den von diesen Vergünstigungen Ausgeschlossenen etwas schuldig ist, das er abzuarbeiten hat. Insofern war sie sehr moralisch.
So warfen wir uns auf ein Gebiet, das Soziologen aus der Beletage und die damaligen Soziologiestudenten überhaupt nicht interessiert hat: die Arbeitswissenschaften. Und Charlotte machte ihr Diplom durchgehend mit der Note »sehr gut«. Unsere gemeinsame Diplomarbeit hat den Titel »Vorgabezeit und Arbeitswert, Interessenkritik an der Methodenkonstruktion: Leistungsgradschätzen, Systeme vorbestimmter Zeiten, Analytische Arbeitsbewertung«. Wichtig scheint mir, dass Charlotte sich in die Einzelheiten der Methoden eingelassen hat, die zur Normierung der Lohnarbeit verwandt werden. So wie sie sich für die Methoden künstlerischer Arbeit interessierte, so jetzt für die Verfahren in der Fabrik. Mit anderen Worten: Sie wollte es genau wissen, sie wollte so nah an den Untersuchungsgegenstand herangehen wie möglich. Theoretische Überlegungen zur Lohnarbeit und Ausbeutung, wie sie damals gang und gäbe waren, genügten ihr nicht. Was hieß das denn genau, wenn Marx vom Vampirismus des Kapitals spricht? Der Vampirismus, er wird in den REFA8-Methoden, die wir untersucht haben, genau beschrieben.
An den weißen Kopfteil unseres Bettes schrieben wir mit Bleistift Sätze, die uns wichtig erschienen. Dort stand auch ein Satz von Goethe, der sinngemäß lautet: »Und sie führten das Theoretische immer wieder an das Praktische hinan.« Hinan! Die Praxis stand für Goethe also oben. So dachten wir auch. Wir besuchten zusammen einige große Fabriken, indem wir uns als Wissenschaftler ausgaben, was wir damals noch nicht waren. Später wurde man gegenüber Soziologen misstrauisch. Eines Tages wagten wir es dann, unsere Diplomarbeit der IG Metall zu präsentieren. Wir gingen zu dem uns von einem Gewerkschafter empfohlenen Bibliothekar der IG Metall und legten ihm unsere Arbeit vor. Herr Dr. Bippig war sehr freundlich und überflog die erste Seite. Dann legte er den Text mit der Bemerkung beiseite, bereits auf der ersten Seite seien mindestens zehn Fremdwörter zu lesen. Gewerkschafter mögen aber keine Fremdwörter, der Text sei für sie nicht lesbar. Wir waren bestürzt, doch Charlotte fasste sich schnell. Noch auf der Treppe sagte sie zu mir: »Dann schreiben wir das Ganze um.« Das taten wir wirklich. Es dauerte ein halbes Jahr. Wir hatten den Fehler gemacht, die Arbeit sowohl im Hinblick auf die universitären Gepflogenheiten zu verfassen, wo Fachausdrücke und Fußnoten aus Gründen der wissenschaftlichen Ökonomie und Intersubjektivität üblich und notwendig sind, als auch in der Hoffnung, den Gewerkschaften einen brauchbaren Text anzubieten. Dass Charlotte sich sofort entschloss, den Text umzuarbeiten, zeigt, wie ernst es ihr mit der erhofften Zusammenarbeit war. Der umgearbeitete Text wurde dann 1979 im Campus Verlag veröffentlicht. Um weiter zu erklären, wie Charlottes künstlerischer Ansatz sich in ihrer soziologischen Arbeit fortsetzt, schiebe ich hier einen kleinen Text ein, den ich im Mai 2004 für die Ausstellung Kurze Karrieren im Wiener MUMOK geschrieben habe. Die Redundanzen bitte ich zu entschuldigen. Bruch mit der Kunst. Und dann? »Charlotte Posenenske (1930–1985) hatte im Jahre 1968 mit der Kunst gebrochen, begann zu studieren und machte ihr Diplom in Soziologie. Heute wird gefragt, ob es in ihrem künstlerischen Werk Anhaltspunkte für ihr soziologisches Interesse gibt. Mit anderen Worten: gibt es Gemeinsamkeiten diesseits und jenseits des Bruchs? Ich denke, ja. Die ehemalige Künstlerin warf sich auf die Arbeitswissenschaften, mithin auf jenen Bereich der Industriesoziologie, deren Zentralbegriff die menschliche Arbeit ist – Arbeit nicht überhaupt, sondern Fabrikarbeit. Die Arbeit in der Industrie ist technisch, kooperativ und arbeitsteilig organisiert und wird von Menschen verrichtet, deren Existenz vom Lohn abhängig ist, sie ist im allgemeinen bis ins Detail inhaltlich und zeitlich normiert und lässt dem Arbeiter im Idealfall keinerlei Spielräume für eigene Initiativen. Der Fabrikarbeiter ist Bestandteil eines sogenannten Mensch-Maschinesystems. Die Arbeit ist fremdbestimmt. Posenenske hat mit ihren Vierkantrohren eine Art Baukasten geschaffen: sechs bzw. vier verschiedene Elemente, die zu sehr unterschiedlichen Figurationen kombiniert werden können. Die Rohre wurden fabrikmäßig hergestellt, standardisiert, in Serien, unsigniert und aus einem zum schnellen Verbrauch bestimmten Material (Blech bzw. Pappe). Sie waren als billige Ware konzipiert, die nach der Vorstellung der Künstlerin durchaus im Kaufhaus hätte verkauft werden können. Posenenske schrieb in ihrem in Art International im Mai 1968 veröffentlichten Manifest: ›Die Gegenstände sollen den objektiven Charakter von Industrieprodukten haben.‹ Die Originalität der Künstlerin besteht lediglich im Konzept. Einerseits also hat man einen Satz industriell hergestellter Bauteile, die andererseits von den Käufern oder Ausstellungsmachern nach eigenem Gutdünken zusammenzufügen sind. Im Zentrum des künstlerischen Konzepts steht ein doppelter Arbeitsbegriff, in welchem die normierte Fabrikarbeit die Mitte einnimmt zwischen der kreativen Arbeit der künstlerischen Konzeption auf der einen Seite und der interpretierenden Improvisation auf der anderen Seite, das heißt die fremdbestimmte Lohnarbeit ist nach beiden Seiten der freien Arbeit gegenübergestellt. Dort die durchorganisierte Fabrikarbeit, hier die spontane kooperative Improvisation, das heißt das gemeinsame kreative Spiel mit den Produkten gesellschaftlicher Arbeit. Auf den kooperativen Zusammenbau legte Posenenske großen Wert. Sie plante, Elemente von einer solchen Größe herzustellen, dass ihr Zusammenbau nur noch mit Kränen und kooperativ zu bewerkstelligen wäre. (Erwähnenswert ist hier, dass die Künstlerin die Hannoversche Industriemesse besuchte und dort Kräne, Baumaschinen und große Kessel fotografierte, wie sie überhaupt gegenüber der Technik – als Ausdruck einer fortschreitenden Vergesellschaftung von Arbeit – eine positive Haltung einnahm.) Indem sie die Kombination der Elemente anderen überantwortete, gab die Künstlerin einen Teil ihrer kreativen Kompetenz ab – mit dem Risiko, dass diese bei der Installation nach ganz anderen Kriterien verfahren, als sie selber es täte. Der Ausstellungsmacher bzw. der Käufer und seine Helfer werden zu praktischen Interpreten, die sich entscheiden müssen, ob sie beim Zusammenbau der autoritären Direktive des Ausstellungsmachers folgen oder einen Konsens zwischen allen am Aufbau Beteiligten zur Basis der Arbeit machen wollen. Das Ergebnis – die ausgestellten Kunstobjekte – sind dann das Resultat einer übergreifenden Kooperation zwischen der Künstlerin, den Fabrikarbeitern und den Ausstellern, die – wie gesagt – eher Interpreten in der Art von Regisseuren sind. Diese Zusammenarbeit gibt eine realistische Metapher für Freiheit ab: anders als in der naiven Vorstellung schrankenloser individueller ›Selbstverwirklichung‹ besteht die Freiheit in einem Spielraum, mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten (repräsentiert durch den Bausatz) kooperativ und spielerisch umzugehen. Die Mitbestimmung bei der Vollendung des Werks erinnert an die betriebliche Mitbestimmung in Deutschland.
Tatsächlich lief das soziologische Engagement Posenenskes praktisch darauf hinaus, die rigiden Normierungen der Fabrikarbeit zugunsten einer erweiterten Mitbestimmung aufzubrechen. Sie hat mit mir zusammen ihre Diplomarbeit geschrieben und unter dem Titel ›Vorgabezeit und Arbeitswert‹ im renommierten Campus Verlag (Frankfurt/New York) veröffentlicht. Es handelt sich dabei um eine Kritik an den in der betrieblichen Praxis üblichen Methoden, mit denen die Arbeitszeit gemessen, normiert und festgesetzt sowie der Wert der Arbeit bemessen wird. Bei diesen Verfahren handelt es sich um vorgeblich wissenschaftliche, objektive Methoden auf der Basis des Taylorismus, die allerdings alle darauf hinauslaufen, den Handlungs- und Verhandlungsspielraum der Arbeiter gegenüber der Geschäftsleitung weiter einzuschränken.«
Ein anderer – oder ein weiterer – Grund dafür, dass Charlotte die Kunst aufgab, ist weniger persönlich und liegt in der Sache selbst. In kurzer Zeit hat sie das gesamte Programm der modernen Malerei noch einmal selbst durchlaufen, beginnend mit einem Problem bei Cézanne, der als Erster mit der Perspektive gebrochen hat und auf seinen Gemälden hier und dort die nackte Leinwand stehen ließ, sodass die Realität der Fläche die Illusion des Gemalten konterkariert: das Verhältnis von Fläche, Illusion und Raum ist für Charlottes Arbeit grundlegend. Und beginnend bei Mondrian, der zu seiner streng horizontal/vertikal strukturierten Malerei über Abstraktionen aus Naturbeobachtungen gekommen war und als Protagonist der niederländischen De-Stijl-Bewegung, welche das Leben umfassend zu gestalten suchte, von der Malerei bis zur Innenarchitektur vordrang: Vom Tafelbild war auch Charlotte über Knickungen, Faltungen und Reliefs zu freistehenden Skulpturen bis zur Architektur gelangt. Und ihre letzten Arbeiten waren nur Konzepte. Sie hatte ihr Programm erfüllt. Oder: Ihr Programm war ausgeschöpft – ähnlich wie das von Roehr, der nicht nur Montagen aus gleichen Teilen produzierte, sondern schließlich völlig gleiche Bilder. Von einem Scheitern zu sprechen, finde ich jedoch darum falsch, weil es unterstellt, Künstler zu sein, sei ein lebenslanger Beruf, was ja längst nicht mehr gilt. Bei ihrer Orientierung an den Kriterien der Konsequenz und Stringenz hätte Charlotte wohl niemals nach alternativen Ansätzen gesucht, um weiterzumachen, Brüche waren ihr verdächtig, eine Arbeit hatte nachvollziehbar aus der anderen zu folgen. Darin lag für sie viel Seriosität. Den fortwährenden und programmatischen Stilwechsel etwa von Jiri Dokoupil oder den Wechsel des Ichs in der Literatur wie bei dem portugiesischen Schriftsteller Fernando Pessoa hätte sie als Konzept zwar interessant gefunden, aber niemals für ihre eigene Arbeit akzeptiert. Das Material, das sie verwendete, war zuletzt Pressspanholz und Pappe, Materialien, die sich mit der Zeit auflösen. Waren ihre Arbeiten zu Anfang mehrfarbig, wurden sie später einfarbig (Primärfarben, Industriefarben), dann spindgrau und materialfarben. Ein weiterer Aspekt dieses reduktiven Programms ist die Vereinfachung: So besteht die erste Serie der Vierkantrohre aus Stahlblech aus sechs Elementen, die Vierkantrohre aus Wellpappe haben nur noch vier. Die Vierkantrohre wurden oft im Ernst mit Entlüftungsrohren aus Stahlblech verwechselt, die aus Wellpappe lösten wenigstens die Assoziation aus. Diese Verwechslung bedeutet, dass die Objekte einen offensichtlichen Kunstcharakter verloren hatten und sich optisch in die Alltagswelt integrierten. Dahinter steht die Vorstellung des Verschwindens, die in der Kunst viel später noch einmal aktuell werden sollte. (Charlotte äußerte übrigens einmal über Ferdinand Kramer, sein Design sei darum so hervorragend gut, weil es ganz unauffällig, das heißt verschwindend sei. Sie war auch der Ansicht, dass ein Mensch dann gut angezogen sei, wenn man sich später nur erinnere, dass er gut angezogen gewesen sei, aber nicht wisse, was er tatsächlich angehabt habe. Das en passant, um zu verdeutlichen, dass ihr die Idee des Verschwindens durchaus geläufig war.) Die nicht ausgeführten Konzepte sind in dem reduktiven Prozess der Schlusspunkt dieser Entmaterialisierung. Es war Peter Weibel, der beiläufig in einem Text bemerkte, dass Charlottes Aufhören mit der Kunst als ein künstlerischer Akt gelten könne. Das Aufhören wäre demzufolge der allerletzte Schritt der sukzessiven Entsubjektivierung und Entmaterialisierung.
Dem tendenziellen Verschwinden der Vierkantrohre im Alltag (durch ihre Verwechselbarkeit mit Entlüftungsrohren) entspricht das Verschwinden der Künstlerin selbst in das Leben von jedermann. Dramatischer formuliert: Es war ein künstlerischer Suizid. Dafür spricht – um nun wieder persönlich zu werden –, dass Charlotte auch der Kunstszene den Rücken kehrte, keine Galerien mehr besuchte und die aktuelle Kunstentwicklung weitgehend ignorierte. Manchmal fuhren wir zu den Ausstellungen von Paul Maenz nach Köln und im Juli 1977 sahen wir sogar eine Ausstellung von Giulio Paolini in der Mannheimer Kunsthalle. Doch dies sind Ausnahmen. Charlotte hatte wirklich Schluss gemacht und fing ein neues Leben an. In den vielen Museen, die wir gemeinsam in Europa besucht haben, interessierte sie sich nur für die klassische Kunst und die klassische Moderne. Ich vermute, dass dieser Verzicht ihr sehr schwer gefallen ist. Die aktuelle Kunst hätte sie vermutlich gezwungen, ihren Entschluss andauernd zu überdenken. Anders gesagt: Die Wunde wäre nie vernarbt. Sie gab ihrer Kreativität eine andere Richtung: Sie arbeitete nun mit Worten genauso akribisch wie zuvor mit den Mitteln der Kunst. Doch versuchte sie immer, sich theoretische Zusammenhänge visuell wahrnehmbar zu machen, indem sie die schon erwähnten großen Skizzen zeichnete.
Schließlich gibt es einen weiteren, oben bereits angedeuteten Grund für das Aufhören, den ich als Erklärung für möglich halte. Es könnte sein, dass Charlotte die Vorstellung, einen Beruf lebenslang auszuüben, längst aufgegeben hatte und in Projekten dachte. Es gab das Theaterprojekt, das Kunstprojekt und das Soziologieprojekt. Ein weiteres Projekt wäre vielleicht das Gewerkschaftsprojekt geworden. Auch unser Zusammenleben, das den Charakter einer Kooperation ohne feste Arbeitsteilung hatte, könnte sie als Projekt aufgefasst haben. Sie hätte dann eine Lebensform für gut befunden, die uns heutzutage als Patchwork-Biografie fast selbstverständlich geworden ist. Die verschiedenen Projekte sind anschlussfähig, weil sie einige fundamentale Dimensionen gemeinsam haben. Das sind allerdings nur Vermutungen. Gesprochen haben wir über das ganze Thema nie. Ich selbst habe Charlotte nie gefragt, warum sie aufgehört hat, musste die Frage aber anlässlich der posthumen Ausstellungen, die ich organisiert habe, immer als erste zu beantworten suchen.
11 Über meine posthumen Ausstellungen
Die Einrichtung einer Mansarde zur Aufbewahrung ihrer Kunstwerke und die Auswahl und Ordnung vieler Arbeiten in Mappen belegt, dass Charlotte davon ausging, dass ihre Arbeiten irgendwann irgendwo wieder gezeigt werden würden. Als Paul Maenz sie zum letzten Mal besuchte, war sie schon von der Krankheit gezeichnet. Er bot ihr an, für sie in seiner renommierten Avantgarde-Galerie in der Kölner Bismarckstraße eine Ausstellung auszurichten. Charlotte hat sich darüber sehr gefreut. Ob diese posthume Retrospektive, die Paul und ich dann 1986/87 zusammen organisiert haben, von Charlotte als Endpunkt oder aber als Anfang weiterer Ausstellungen vorgestellt war, wissen wir nicht. Sie konnte schon kaum mehr sprechen. Dass sie überhaupt in eine Ausstellung eingewilligt hat, besagt immerhin, dass sie ihren Bruch mit der Kunst wenigstens nach dem Tode nicht mehr aufrecht erhalten haben wollte.
Fest steht, dass die Bekanntheit, die ihre Arbeiten inzwischen erreicht haben, ohne die Ausstellung bei Paul Maenz so nicht möglich gewesen wäre. Aus bloßer Freundschaft hätte Paul seine Galerie nicht zur Verfügung gestellt – das hat er mir offen bestätigt. Für meine weitere Arbeit mit Charlottes Werken hatte ich damit eine Ausgangsbasis auf hohem Niveau. Als ich Paul fragte, ob er nicht eine Möglichkeit sähe, wie man Charlotte auch in Frankfurt zeigen könnte, rief er Bärbel Grässlin an, die ihm sofort einen Termin zugesagt hat. Imi Knoebel, der damals in der Galerie Grässlin eine Ausstellung festgemacht hatte, gab großzügig eine Woche an Charlotte ab, deren Arbeiten er von früher her kannte und offenbar schätzte. Ich habe dann dort damit begonnen, die Vierkantrohre aus Wellpappe vorzustellen, die ich allerdings in einer Kartonagenfabrik nach dem Muster weniger übrig gebliebener und halb verrotteter Pappen erst neu herstellen lassen musste. Alle Vierkantrohre, die ich seitdem ausgestellt habe, sind Reproduktionen.
Gegen diese Wiederaufnahme von Ausstellungen einer Künstlerin, die mit der Kunst spektakulär gebrochen hatte, und besonders gegen die Reproduktion von »Originalen«, als welche die Pappen von 1967 galten, gab es zuerst auch wenig wohlwollende Kommentare. Man wollte Charlotte Posenenskes Werk als abgeschlossen, als historisch betrachten – besonders Galeristen. Allerdings wussten die Kritiker nicht und konnten es vielleicht noch nicht wissen, dass die endlose Reproduzierbarkeit der Vierkantrohre sowie ihr Zusammenbau nach beliebigen Kriterien anderer Leute ein wichtiger Bestandteil von Charlottes Konzept sind. Originale gab es ja auch bei den Reliefs nicht, wenn auch heute diejenigen Arbeiten, die Charlotte noch selber herstellen ließ, vom Markt als Originale behandelt werden. Der Daimler-Konzern hätte vermutlich keine Reproduktionen angekauft. Das Baukastenprinzip und die Kunst als anonyme Ware (wenngleich als Markenartikel) bilden die Voraussetzung für die prinzipielle Möglichkeit, diese Werkreihe bis in alle Ewigkeit herzustellen und immer anders zu präsentieren. Darin steckt natürlich eine Kritik an dem traditionellen Originalitätsanspruch der Kunst, der sich an signierten Unikaten festmacht.
Da das Ausstellungskonzept der Vierkantrohre auch vom Ausstellungsort abhängt, für den nach Charlottes Auffassung nur gesellschaftlich relevante Orte in Betracht kommen (wie ich sie dann mit Markt, Flughafen, Bahnhof, Bank und Messe gefunden zu haben glaube), ergibt sich das Problem, dass der Kontext auf die Ausstellung stark einwirkt – womit ja der Autonomiestatus der Kunst infrage gestellt wird. Die von Kirsten Weiss kuratierte Ausstellung im Busch-Reisinger Museum der Harvard Universität in Cambridge (Mass.) unter dem Motto »Dependent Objects« thematisiert diesen Sachverhalt der Abhängigkeit, die dort nicht nur an Charlottes Vierkantrohren, sondern auch an Arbeiten von Gerhard Richter, Hans- Ehrhardt Walther, Hans Haacke und Thomas Schütte vorgeführt wird. Als ich begriffen hatte, dass das Konzept die Einbeziehung des Kontexts vorsah, war ich versucht, die Vierkantrohre in Umgebungen zu bringen, die auf eine Gegenüberstellung hinausliefen. So hatte ich die Idee, sie mitten in der Natur oder sogar im Wasser aufzustellen. Beispielsweise postierte ich eine stelenförmige Figur der Vierkantrohre in der Deutschen Bank neben einer Arbeit von Rückriem, den Charlotte schätzte. Oder ich hatte vor, Figuren der Vierkantrohre mit Fotos ihrer selbst in anderen Situationen zu konfrontieren. Da ich die einzigartige Möglichkeit hatte, meine Trauerarbeit ganz praktisch zu leisten, hätte ich in meinem Enthusiasmus fast eine Grenze überschritten. Paul Maenz öffnete mir die Augen über die Gefahr, in die ich mich einzulassen im Begriff war, mit der lakonischen Frage: »Wollen Sie Künstler werden?« Nein, natürlich nicht. Charlotte hatte zwar mit ihrem Baukastensystem andere zur Mitarbeit eingeladen, aber gewiss nicht mit der Vorstellung, diese zu Künstlern zu machen, während sie selbst sich gerade aus der Kunst zurückzog. Außer mir hat bisher nur Werner Esser eine posthume Installation selbstständig konzipiert. Er hat die Vierkantrohre aus Stahlblech 1989 in der Rotunde der Neuen Staatsgalerie in Stuttgart aufgebaut. (2007 hat auch Mehdi Chouakri in seiner Berliner Galerie sehr interessante Installationen gemacht, die Charlotte selbst so wohl nie entworfen hätte.) Dass Charlottes Werk heute mehr oder weniger anerkannt ist und dass ich mir inzwischen völlig sicher bin, was das Konzept zulässt und was nicht, verdanke ich hauptsächlich Paul Maenz, der sowohl entschieden als auch taktvoll ist: die Ausstellung in einer der besten Galerien Europas war ein hoher Reputationsvorschuss und Pauls knappe Bemerkung für mich richtungsweisend. Für meine Ausstellungstätigkeit habe ich mir die finanzielle Unterstützung stets selbst besorgt: die Deutsche Bank, die Deutsche Bahn, die Deutsche Lufthansa haben mir jeweils einen kleinen Katalog bezahlt. Die institutionelle Unterstützung, also etwa die durch das MMK, wurde mir von Jean-Christophe Ammann und von Rolf Lauter, damals Chefkurator am MMK und später Direktor der Mannheimer Kunsthalle, angetragen. Lauter hat über die Variabilität von Kunstwerken promoviert und über Charlottes Arbeit den ersten Text nach ihrem Tode verfasst. So wurden Arbeiten von Charlotte dreimal im MMK ausgestellt und einmal mit Unterstützung der Galerie Meyer- Ellinger in der Hoechster Jahrhunderthalle.
Meine Ausstellungen stießen anfangs auf einige Zweifel bezüglich der Werktreue – wer kann schon wissen, dass Charlotte geschrieben hat, man könne die Vierkantrohre auch an die Decke hängen. Wer muss schon wissen, dass die zusammengesetzten Elemente der Vierkantrohre nicht nur als abgeschlossene Figurationen, sondern auch als Bruchstücke verstanden werden können. Manche der Kombinationen geben sich formvollendet wie eine klassische Skulptur, obwohl die Offenheit an beiden Enden des Hohlkörpers und die freien Schraubenlöcher deutlich eine prinzipielle Fortsetzbarkeit, das heißt Unvollendetheit, signalisieren. Damit steht aber der traditionelle Skulpturbegriff, unter dem wir eine abgeschlossene Form verstehen, infrage. Anders gesagt: Die einfachen Elementzusammensetzungen sind in jedem Fall ambivalent. Die mögliche Fortsetzbarkeit der Bruchstücke, ihre Anschlussfähigkeit, geht mit der prinzipiell endlosen Reproduzierbarkeit der Elemente parallel. Charlotte hat sowohl fertige Figurationen wie unfertige Installationen ausgestellt. Daran habe auch ich mich gehalten.
Ich hatte das Glück, das Vertrauen und das Wohlwollen von Paul Maenz, von Kasper König wie auch von Jean-Christophe Amman zu besitzen, der nicht nur als Erster einen Bausatz der Vierkantrohre angekauft, sondern die Reihe der MMK-Kataloge mit Charlotte Posenenske eröffnet hat. (Doch hat er auch eine Installation, die ich für die Jahrhunderthalle vorgesehen hatte, korrigiert. Zu Recht: Ich hatte dieselben Elemente seriell angeordnet, aber als einzelne, was dem Konzept widerspricht.) Ohne diesen Hintergrund kompetenter und einflussreicher Menschen, aber auch ohne die Neugier der Künstler und Kunstinteressierten der späten 1980er-Jahre auf ein fast verschollenes Werk aus »heroischer« Zeit, die sie oft selbst nicht kennengelernt haben, wäre es unmöglich gewesen, Charlottes Werk wieder bekannt zu machen. All diesen Menschen werde ich immer dankbar sein.
12 Zwischen Kunst und Soziologie (II)
Zwischen ihrem Beruf als Künstlerin und dem als Soziologin gibt es einen merkwürdiges Zwischenstück, das noch mit Kunst zu tun hat und schon mit Soziologie. Charlotte war zusammen mit vier anderen Künstlern zu einem Wettbewerb in Bielefeld eingeladen worden, ein Kontakt, den ein Mann aus dem Bielefelder Bauwesen vermittelt hatte, der sich in mehreren Briefen sehr für ihre Arbeit interessierte. Er ging so weit, Charlotte im Isenburger Schloss in Offenbach zu besuchen. Er schrieb am 23. April 1968 an sie: »Ein Bielefelder Unternehmer, der ein größeres Wohnungsbauprojekt mit einem Ladenzentrum hier in Bielefeld verwirklichen will, beabsichtigt, einen beschränkten Wettbewerb über die Gestaltung eines räumlich gut gegliederten Innenhofes zwischen Ladenzentrum und Wohnhäusern über einer Tiefgarage auszuschreiben. Ich habe vorgeschlagen, Sie zur Abgabe eines Wettbewerbsentwurfes aufzufordern.« Charlotte sagte zu und erhielt die Ausschreibungsunterlagen. Bei dem Bielefelder Unternehmer handelte es sich um die Firma Wohn- und Industriebau E. Möhrke KG. Der Platz, auf dem das Projekt verwirklicht werden sollte, ist von drei- bis achtgeschossigen Gebäuden mit kleinen Wohnungen umgeben. Die Jury sollte am 12. Mai 1969 entscheiden, also zu einem Datum, an dem Charlotte mit der Kunst längst abgeschlossen hatte. Ihr Entschluss, die Kunst aufzugeben, muss also direkt nach ihrer Zusage gefallen sein. Auf einer Reise durch England, die Charlotte und ich im Jahre 1968 machten, saßen wir in ihrem neuen VW-Bus, den wir uns notdürftig eingerichtet hatten, auf dem Bett und verfassten auf der Reiseschreibmaschine ein Flugblatt, das Charlotte an die Bewohner der Bielefelder Siedlung verteilen wollte, die sie sich kurz vorher angesehen hatte.
»DM 38.000 wirft die Fa. E. Möhrke KG aus, um das neue Geschäftszentrum von Stieghorst mit einer Plastik oder einem Brunnen zu ›verschönern‹. 5 Künstler sollen dafür Entwürfe einsenden. Jeder erhält DM 1.000. Für den angenommenen Entwurf werden nochmals DM 1.000 bezahlt. Ich gehöre zu den aufgeforderten Künstlern. Aber ich lehne es ab, an diesem Projekt mitzuarbeiten. Denn es ist falsch, DM 38.000 unter den hier bestehenden Umständen für Kunst auszugeben. Ein schöner Brunnen soll Ihnen vormachen, dass alles für Sie Notwendige beim Bau dieser Siedlung schon getan sei. Die Fa. Möhrke baut Häuser, um von Ihnen Miete einzunehmen. Darum sind die Häuser nur so gut, wie es gerade nötig ist, um die Miete zu erhalten, und lange nicht so gut, wie sie sein müssten, wenn man Sie nach Ihren Bedürfnissen gefragt hätte. Die Wohnungen werden ihnen vorgesetzt. Aus dem, was die Fa. Möhrke für Sie für richtig hält, können Sie sich etwas aussuchen. Nach I h r e n Bedürfnissen sind Sie nicht gefragt worden. Stellen Sie fest, was Ihnen hier alles fehlt, und fordern Sie es von der Fa. Möhrke! 38.000 werden dafür kaum ausreichen. Ch. Posenenske Wenden Sie sich an die Fa. Möhrke, Bielefeld«
Man sieht leicht, worum es Charlotte ging. Es war nichts Besonderes, denn die Frage nach den »wahren« Bedürfnissen von sogenannten Betroffenen wurde in jenen Jahren bei allen nur denkbaren Projekten gestellt – und ist im Prinzip immer richtig. Mit ihr verbunden wurde die Forderung nach Partizipation, ein politischer Aspekt, den Charlotte auf dem Terrain der Kunst schon 1967 im Konzept ihres Baukastensystems thematisiert hat, das ja eine Mitarbeit des Publikums vorsah. Entschlossen, Soziologie zu studieren, entwarfen wir nun auf unserer verregneten Englandreise mit dem ganzen Eifer und der großen Naivität von Greenhorns unseren ersten Fragebogen. Wir wussten damals noch nicht, welch unrühmliche Geschichte der Fragebogen beispielsweise bei den Befragungen zur sogenannten Arbeitszufriedenheit hat, die in den späten 1950er-Jahren in vielen Betrieben erforscht wurde. Heute weiß man, wie schlau die befragten Arbeiter den Feldforschern trotz des Einbaus raffinierter Fangfragen einen Bären aufbanden. Denn sie betrachteten das Auftauchen von Interviewern in der Fabrik zu Recht als eine Veranstaltung der Geschäftsleitung. Blauäugig glaubten wir daran, dass die Bewohner der Siedlung uns ihre »wahren« Bedürfnisse offenbaren würden. Und wir fuhren tatsächlich nach Bielefeld und klingelten an circa 20 Haustüren. Unter den 23 Fragen, die wir an der Haustür stellten, waren folgende:
Frage 2: Haben Sie viele Bekannte hier in der Siedlung?
Frage 3: Gibt es einen Kindergarten?
Frage 9: Wo treffen Sie sich mit den Freunden?
Frage 18: Sind Sie nach Ihren Bedürfnissen gefragt worden?
Frage 23: Könnte man mit den 38.000 in der Siedlung etwas Nützliches einrichten?
Eine Prämisse des Fragebogens war die Annahme, dass die Menschen dort ziemlich isoliert voneinander leben. Dann schrieb Charlotte einen Brief, der unter der Überschrift »Charlotte Posenenske an einen Bauunternehmer« in Adam Seides Egoist (Heft 1, 1970) abgedruckt ist.
»Sehr geehrte Herren! Ich danke Ihnen für die Aufforderung, an dem Wettbewerb für das Geschäfts- und Wohnzentrum in Stieghorst, Bielefeld, teilzunehmen. Die Siedlung Stieghorst ist eine Ansammlung von Wohnmöglichkeiten. Dieses Angebot der Möglichkeiten soll den Eindruck erwecken, die Mieter könnten sich für etwas entscheiden, das ihren tatsächlichen Bedürfnissen entspricht. Auf diese Weise wird der Zwang, das Angebotene akzeptieren zu müssen, verschleiert. Die tatsächlichen Bedürfnisse wurden nur soweit befriedigt, wie sie die Rentabilität nicht infrage stellten. Jede Investition, die über die minimale Befriedigung der tatsächlichen Bedürfnisse hinausgeht, dient nur dazu vorzutäuschen, diese seien restlos erfüllt. Deshalb soll in Stieghorst für einen Brunnen oder eine Plastik 38.000 DM investiert werden. Das angeblich nicht mehr nur Nützliche – die Kunst – rentiert sich für den Bauherrn. Sie soll weismachen, diese Karnickelställe hätten alle Bedürfnisse erfüllt, und man könne sich nun das Schöne leisten. Kunst soll für die Slums der Zukunft werben. Die Auslober selbst wissen offenbar von der Unzulänglichkeit ihres Projekts, wenn sie meinen, den Platz durch künstlerische Gestaltung ›steigern‹ zu müssen. Kunst hat hier die Funktion eines Alibis. Ich lehne die Mitarbeit unter diesen Umständen ab und schicke Ihnen beiliegend die Unterlagen zurück.«
Neben dem in Art International abgedruckten schon erwähnten »Manifest « (S. 135) ist dies der zweite Text, der ihre Absage an die Kunst begründet. Hier wird überdies deutlich, dass sie versucht hat, sich der Integration der Kunst in das ökonomische System zu entziehen, das sie im Prinzip sowohl für den Faschismus wie für den Krieg in Vietnam verantwortlich wusste. Hatte man begriffen, dass über die Ware-Geld-Kreisläufe alles mit allem zusammenhängt, war man als Kunstproduzent stets mehr oder weniger in »das System« involviert. Es war wie die Erbsünde. Immer wurde man schuldig, ob man produzierte, konsumierte oder versuchte, auszusteigen. Mit dieser Einsicht zu leben, war nicht leicht. Gegen »das System« zu sein, war die einzige Alternative, wollte man sein Gewissen beruhigen – falls man eines hatte. Auch diese Position war privilegiert, denn der lohnabhängige Familienvater war drin »im System«, solange er seine Familie ernähren wollte.
Charlotte teilte die Auffassung derer, die in Flugblättern die Kunst anklagten, die schlechten gesellschaftlichen Verhältnisse zu »verschleiern« – ein Wort, dem man damals immer wieder begegnete, bis es im Ausdruck »Verschleierungszusammenhang« verknöcherte. Einen großen Einfluss hatte Herbert Marcuses 1937 verfasster Aufsatz »Über den affirmativen Charakter der Kultur«. Ungeachtet der Zeitdifferenz von 30 Jahren schienen Marcuses Überlegungen über die »affirmative Kultur« noch aktuell:
»Sie ist in ihren Grundzügen idealistisch. Auf die Not des isolierten Individuums antwortet sie mit der allgemeinen Menschlichkeit, auf das leibliche Elend mit der Schönheit der Seele, auf die äußere Knechtschaft mit der inneren Freiheit, auf den brutalen Egoismus mit dem Tugendreich der Pflicht. [...] Die Kultur meint nicht so sehr eine bessere wie eine edlere Welt. [...] Die Kultur soll das Gegebene veredelnd durchdringen, nicht ein Neues an seine Stelle setzen. So erhebt sie das Individuum, ohne es aus seiner tatsächlichen Erniedrigung zu befreien. [...] Die Schönheit der Kunst ist – anders als die Wahrheit der Theorie – verträglich mit der schlechten Gegenwart: in ihr kann sie Glück gewähren. Die wahre Theorie erkennt das Elend und die Glücklosigkeit des Bestehenden.«
Das sind Kernsätze, die jeder, der sich 1968 ernsthaft mit Kunst beschäftigte, gut kannte. Charlotte auch. Wichtig für sie und vielleicht wegweisend ist in dem Zitat die »Wahrheit der Theorie«, die sich von der Verwicklung in das System insofern frei weiß, als sie es radikal kritisiert – doch notabene: Praktisch verwickelt bleibt auch der radikalste Kritiker, wenn er lebt wie jedermann. Die Kunst ist allerdings schon lange nicht mehr »schön«, wie Marcuse 1937 noch unterstellt. Den Ausweg aus dem Dilemma sahen manche in »unschöner«, kritischer oder politischer Kunst, die ähnlich wie die »wahre Theorie« als unkonsumierbar betrachtet wurde. Charlotte hat diesen Weg – wie oben erläutert – abgelehnt.
13 Nachtrag
Charlotte ist am 3. Oktober 1985 im Krankenhaus Frankfurt-Höchst gestorben. Annelie Traud, die Gemeindeschwester, die sie gepflegt hatte, und ich, wir waren zugegen, als sie starb. Der dortige Chefarzt war uns im renommierten Krankenhaus Hamburg-Eppendorf empfohlen worden, das in der Krebsbehandlung besonders fortschrittlich war. Dort erfuhren wir, dass Charlotte nicht mehr viel Zeit hatte. Wieder zu Hause, suchten wir auf dem Friedhof in Frankfurt-Westhausen zusammen die Stelle aus, an der sie begraben sein wollte. Dann suchten wir auch den Grabstein aus. Den Friedhof Westhausen am westlichen Stadtrand hat Charlotte gewählt, weil sie es unpassend fand, auf dem Zentralfriedhof begraben zu sein. Sie hatte nie in der Mitte, sondern immer am Rande gelebt.
Anmerkungen
[1] Die Erinnerungen an die Künstlerin erschienen erstmals im Revolver Verlag, Frankfurt a. M. 2005. 1 Siehe S. 133.
[2] Burkhard Brunn, Friedrich Meschede u. a., Charlotte Posenenske (Schriften zur Sammlung des Museums für Moderne Kunst), hrsg. vom Museum für Moderne Kunst, Frankfurt a. M. 1990.
[3] Das Objekt gehört zur Werkgruppe der Plastischen Bilder, Abb. S. 51. 4 Prof. Dr. Wolfgang-Hagen Hein, in: Beiträge zur Geschichte der Pharmazie, 6, 1980, S. 44–47. 5 Als Handwerker auf der Wanderschaft.
[4] Prof. Dr. Wolfgang-Hagen Hein, in: Beiträge zur Geschichte der Pharmazie, 6, 1980,
S. 44–47.
[5] Als Handwerker auf der Wanderschaft.
[6] Vgl. dazu meinen Text in: Charlotte Posenenske. Malerei 1959–1965, hrsg. von Konstantin Adamopoulos, Ausst.-Kat. Galerie ak, Frankfurt a. M. 1999.
[7] Die Jahre der Kommune I: Berlin 1967– 1969, Köln 2004. 8 REFA = Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung (1924), Reichsausschuss für Arbeitsstudien (1936), heute Verband für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung.
[8] REFA = Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung (1924), Reichsausschuss für Arbeitsstudien (1936), heute Verband für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung.