Noch liegt er da – unflätig und nackt. Der Faun, die Verkörperung der Lust, macht den Betrachter zum Voyeur
Es ist, als höre man seinen Atem. Und während man ihn still beobachtet, fragt man sich, was er wohl täte, wenn man ihn weckt. Verglichen mit der Distanziertheit marmorner Heroen ist der antike junge Mann in der Münchener Glyptothek von einer kaum zu überbietenden Präsenz. Von griechischem Profil kann keine Rede sein, seine Züge sind nicht edel, sondern eher derb, es könnte sich um einen jungen Bauernburschen handeln.
Hingegossen liegt er da – mit breit gespreizten Schenkeln. Ist das nicht skandalös? So fragte sich das Publikum nicht nur im 19. Jahrhundert. Wenn er erwachte, könnte man kaum hoffen, dass er sich schämte. Würde er, fragte sich wohl manche Dame, auf sie zustürzen, um ihr etwas anzutun? Ooh, er ist schrecklich schön! Den Herren schwante, dass dieses Ooh sich weniger auf den ästhetischen Wert des Kunstwerks als auf den Kerl selber bezog. Der Museumsführer hatte Routine: Er bat das Publikum, ein wenig zur Seite zu treten, und machte es auf die Spitze des Pferdeschwanzes aufmerksam, der – von vorn nicht zu bemerken – zwischen der linken, nackten Hinterbacke des jungen Mannes und dem Pantherfell hervorlugt. Da konnte man aufatmen. Gottlob, er ist ein Tier!
Es handelt sich um einen Faun, um den berühmteren Barberinischen Faun. Wäre er ein Mann – die Art, wie er liegt, wäre zu manchen Zeiten wirklich ein Skandal gewesen. Richtige Männer bieten sich nicht derart hingegeben den Augen anderer dar. Und weil er schläft, macht er den Betrachter/die Betrachterin zum Voyeur – mit allen Implikationen. Die Archäologen haben den so menschlich anmutenden Faun für sturzbetrunken erklärt und ihm einen entglittenen Weinbecher angedichtet, um sein „von jeglicher Rücksicht freies Sichgehenlassen“ (A. Furtwängler 1910) zu erklären und zu entschuldigen. Gleichwohl muss der frontale Blick den Faun doch unausweichlich zunächst als Mann wahrnehmen. Die Hörnchen des Fauns, die ihn sofort als Tiermenschen kenntlich machen würden, sind in seinem Lockenkopf gut verborgen. Raffiniert.
Nun, die Wissenschaftler wissen, wie Faune sind: feige, faul und friedlich. Sie sind neugierig, verspielt, albern, zudringlich und unverschämt. Sie sind musikalisch, tanzen gern und sind maßlos. Sie saufen nicht nur bis zum Umfallen, sondern sind auch in des Wortes ursprünglicher Bedeutung: geil. Sie wollen und können immer. Wundert es, dass der Faun zur Verkörperung des Bösen wurde, obwohl er als Naturwesen ebenso wenig böse sein kann wie ein Fuchs oder ein Bär? Könnte der Barberinische Faun aufwachen, so würde er fliehen und aus sicherer Entfernung Grimassen schneiden.
Faunus ist ursprünglich ein Gott der alten Kultur von Latium, der Gegend um Rom. Er ist ein Dämon, ein niederer Erdgott, Schützer von Ackerbau und Viehzucht. Seine Name leitet sich von dem lateinischen Verb favere (begünstigen) her. Die Faune sind die altrömische Entsprechung der griechischen Satyrn. Diese haben Pferdeschwänze und Pferdeohren: Es sind Pferdemenschen, und als solche sind sie mit den wüsten Menschenpferden, den Kentauren verwandt. Die Archäologen nennen sie „Mischwesen.“
Bocksbeine hat Pan, der griechische Feldgott mit dem Bocksgesicht, dessen plötzliches Erscheinen auf der Seite der Griechen dem persischen Heer einen „panischen“ Schrecken eingejagt hatte. Aber schließlich vermischt sich die Figur des Pan mit den Satyrn, die mal mit Bocksbeinen, mal mit Menschenbeinen auftreten und Spitzohren, Bockshörnchen und – wenigstens auf den Vasen – einen ausgeprägten Pferdehintern haben. Alte Satyrn sind – wie auf den Gemälden von Rubens, Jordaens und van Dyck – glatzköpfig, dickbäuchig und versoffen. Oft haben sie Stülpnasen wie Sokrates und sinnliche Lippen. Man nennt sie „Silene“, nach Silenus. So hieß der alte Erzieher des Dionysos, des unheimlichen, mädchenhaft aussehenden Frühlingsgottes der Griechen, in dessen Triumphzug außer den wilden Mänaden auch die Satyrn mittorkelten.
Die Skulptur des großen schlafenden Fauns (aus parischem Marmor), der einstmals in den Gärten des römischen Kaisers Nero am Tiber gestanden hatte, wurde bei den Umbauten gefunden, die Papst Urban VIII. Barberini in den Jahren 1624 bis 1641 an den Befestigungsanlagen der Engelsburg vornehmen ließ. Barberini ließ die überlebensgroße Statue in den Palast seiner Familie am Quirinal bringen, wo sie größte Bewunderung erregte. Der große Bildhauer des Barocks Gian Lorenzo Bernini, dem wir unter anderem die „Verzückung der Heiligen Therese“ verdanken, die die Hingabe der Heiligen an einen Engel darstellt, ergänzte auf Geheiß des Papstes das ganze rechte Bein und den linken Unterarm. Doch aus Respekt vor dem unbekannten antiken Meister vervollständigte er den Torso nur in Gips – in der Hoffnung, dass sich die originalen Teile noch finden würden.
150 Jahre nach dem Fund hatte ein gewisser Vicenzo Piacetti, Bildhauer und Kunsthändler von Beruf, der Barberini-Familie die Statue abgekauft, schlug den Gips ab und ersetzte die Glieder in Marmor. Er wollte ein gutes Geschäft machen. Als nun der kunstsinnige Kronprinz Ludwig von Bayern im Jahre 1805 nach Rom kam, um für seine Sammlung einzukaufen, war er von der Skulptur so beeindruckt, dass er sie unbedingt besitzen wollte.
Die Verhandlungen waren zäh und zogen sich bis 1816 hin. Erst drei Jahre später im November wurde die mit dem päpstlichen Siegel versehene Kiste auf einem von neun Maultieren gezogenen Wagen schließlich über die Alpen geschleppt. Bei jeder größeren Steigung mussten zusätzlich Ochsen vorgespannt werden. Nach fast sechswöchiger, abenteuerlicher Fahrt war der Zug endlich in Kufstein angelangt. Aber ach: Der Faun war zu schwer für die Brücke über den Inn. Eine Notbrücke musste errichtet werden – ganz wie zum Übergang der Artillerie.
In den vatikanischen Museen gibt es – als römische Kopien griechischer Skulpturen – eine große Sammlung von Faunen, darunter eine nach Praxiteles (400 A. D.) der so lässig dasteht wie James Dean, ein anderer sieht aus wie Elvis. Dort steht auch der Marsyas des großen griechischen Bildhauers Myron (500 A. D.), der eine Kuh geschaffen hatte, die so lebendig aussah, dass sie die Stiere besprungen haben sollen. Er ist Teil einer Zweiergruppe mit Athene.
Im Garten des Frankfurter Liebighauses ist eine bronzene Reproduktion zu bewundern. Marsyas ist der einzige Satyr, der es außer Silenus zu andauernder Berühmtheit gebracht hat. Der Marsyas des Myron ist in dem Augenblick festgehalten, da er heranspringend mit dem Fuß nach der Doppelflöte, den Auloi, tastet, die Athene wütend fortgeschleudert und verflucht hat. Wütend, weil alle Götter lachten, als ihr beim Hineinblasen die Backen anschwollen.
Der Faun schnappte sich also die Flöte und verstand es bald, alle Welt mit seiner wilden, ekstatischen Musik zu berauschen. Vermessen forderte er Gott Apoll zum Wettstreit heraus. Während Marsyas auf der Flöte leidenschaftliche Melodien blies, entlockte Apoll, Gott der Rationalität und einer rationalen Ästhetik, der Lyra mathematisch nachvollziehbare Sphärenklänge.
Ins Heutige übertragen, spielte der Faun eine Art folkloristischen Jazz und der Gott Bach’sche Fugen. Es ging also um den Widerstreit zwischen irdischer Leidenschaft und göttlicher Rationalität. Es wurde ausgemacht, dass der Gewinner des Wettstreits mit dem Verlierer tun könne, was er wolle. König Midas, der schon einmal den Silenus mit Wein dazu überlistet hatte, ihm Zugang zum Naturwissen der Satyrn zu verschaffen, wurde zum Schiedsrichter bestellt. Doch Midas war von der faunischen Musik so entzückt, dass er sich anschickte, den Marsyas zum Sieger zu erklären. Da aber ließ Apoll, der als Gott ein schlechter Verlierer war, dem Schiedsrichter Eselsohren wachsen und ließ dem Marsyas als Strafe für seinen Größenwahn die Haut abziehen. Die Arbeit des Schindens musste ein Sklave vom Stamme der grausamen Skythen besorgen, der den Faun an den Handgelenken an einem Baum aufhängte und dann sein sichelartiges Messer schliff. Der aufgehängte Marsyas (Rom, Paris, Florenz, Mannheim), so lebensnah gestaltet, dass man ihn stöhnen zu hören glaubt, gehört zu den eindrucksvollsten Skulpturen des Hellenismus. Es existieren zwei Versionen: Der so genannte weiße Marsyas scheint sich seinem Schicksal zu ergeben, der rote Marsyas dagegen bäumt sich auf.
Die Körperhaltung des Ersten erinnert an die Jesu, die des Zweiten an die der Schächer. Der Schinder ist unter dem Namen „Schleifer“ berühmt (arrotino). Er hockt beim Messerschleifen auf dem Boden, den Kopf leicht erhoben, als lausche er dem Stöhnen des Marsyas. Die Figur ist so perfekt, dass man sie lange für ein Werk Michelangelos gehalten hat. Es dauerte lange, bis die Archäologen herausfanden, dass die Figur des Marsyas und des arrotino einst eine Gruppe gebildet hatten – aber sie werden noch immer getrennt ausgestellt.
Aber was hat der Mythos zu bedeuten? Und was geht’s uns an? Ovid, der in seinen „Metamorphosen“ die Geschichte des Marsysas erzählt, lässt ihn ausrufen: „Quid me mihi detrahis?“ (VI,385), das heißt: „Warum entreißt du mich mir selbst?“ Die Wissenschaft ist sich über die Bedeutung der Worte einig: Damit werde gesagt, dass die irdische Hülle unter Schmerzen abgestreift werden müsse, um zu einer höheren Erkenntnisform zu gelangen.
Die Schindung des Fauns gilt als Symbol der Katharsis, der Läuterung. Anders gesagt: Um sich zu vergeistigen, muss das Naturwesen aller Lust und alles Lustigen entsagen. Freudianisch gesprochen, handelt es sich um den schmerzhaften Sieg des Realitätsprinzips über das Lustprinzip.
Nach alten Berichten sollen die Satyrn mitunter auch im Heere mitgezogen sein. Sie machten dabei hauptsächlich Lärm und hauten ab, wenn es ernst wurde. Es sind Maulhelden, und sie bilden in der griechischen Tragödie den Chor. Am liebsten liegen sie in der Sonne und kraulen sich den Bauch.
Doch sind sie sofort auf den Beinen, wenn es was zu sehen gibt. Oft „entdecken“ sie – im Wortsinn – ein Mädchen: Sie ziehen nämlich der Schlafenden die Decke weg, um sie genauer betrachten zu können. So sieht man auf einem Gemälde von Piero di Cosimo (1462–1521) in der Londoner National Gallery einen zarten Satyr, mit Spitzbärtchen neben einer wie schlafenden Nymphe knien, die, nach einer blutenden Halswunde zu schließen, tot ist. Der Pfeil eines Jägers mag sie gestreift haben.
Auf einem Bild des Botticelli (1445 bis 1510) (National Gallery) sieht man mutwillige Fäunchen mit dem Helm und der Lanze von Kriegsgott Mars Unfug treiben, den auch das riesige Muschelhorn nicht aufwecken kann, wo doch Venus in verführerischem Negligee der tätigen Liebe ihres Gatten harrt. Die Zudringlichkeit der Satyrn ging so weit, sogar die Göttermutter Hera zu belästigen. Aber Herkules konnte sie rechtzeitig verscheuchen.
Wie gesagt, sind sie stets lüstern. Auf den griechischen Vasen laufen sie immer mit erigiertem Penis herum. An Menschenfrauen wagen sie sich selten, aber sie treiben es mit den Nymphen. Und da diese sich nicht allzu heftig wehren, nennt man sie „nymphoman“. Im Museum Kassel-Wilhelmshöhe gibt es die Zeichnung eines Fauns, der verzückt ein großes Gefäß umklammert, in das er sein Ding gesteckt hat.
Viele Skulpturen zeigen die Faune ausgelassen tanzend, betrunken und den Saft zerdrückter Trauben schleckend. Eine besonders schöne Figur, die – wie auch der arrotino – in der Tribuna, dem Innersten der Florentiner Uffizien, einen Ehrenplatz einnimmt, heißt „Tanzender Faun“: Er tritt mit dem rechten Fuß eine blasebalgähnliche Fußklapper und schlägt dazu hingebungsvoll die Zimbeln. Sein Körper ist vom wilden Rhythmus geschüttelt.
Die Satyrn, so schreibt Dieter Blume 1985, „vertreten die Naturkräfte, die ungebändigten Triebe, die vollkommen dem Irdischen verhaftet sind und die von der Möglichkeit des menschlichen Geistes, dem Kreislauf von Werden und Vergehen zu entkommen, ausgeschlossen sind.“
Um 1500 wurden in der Paduaner Werkstatt des Andrea Riccio Bronzen von Faunen aller Art gegossen. Kein studiolo eines Renaissancefürsten oder eines humanistischen Gelehrten, das nicht auch ein gefesselter Faun zierte, der dem Denker ergeben ein Tintenfass oder eine Kerze halten musste. Die beherrschten Triebe standen in Diensten des Geistes. Während der Humanismus der Renaissance sich darauf beschränkte, das Naturwesen zum Knecht zu degradieren, ging die asketische Kirche, der das irdische Leben nur als ein Jammertal vor der Pforte des Paradieses galt, einen Schritt weiter: Sie machte den Faun zum Bild des Teufels.
BURKHARD BRUNN, Jahrgang 36, ist Soziologe, freier Autor und Publizist. Er lebt in Frankfurt am Main. Der Text über den Faun gehört zu seiner Reihe „Der richtige Mann“