Giacomo Casanova, der barocke Frauenheld, steht im Ruf, ein skrupelloser Verderber gewesen zu sein. Dabei nimmt es heute jeder Bademeister mit der Zahl seiner Eroberungen auf – kaum aber mit seiner Zugewandtheit
„Casanova“ – das heißt Weiberheld, Verführer, Schürzenjäger, „Manntier“ (Stephan Zweig). Da nur wenige die Zeit aufbringen, die zwölf Bände seiner Memoiren zu lesen, prägen verzerrte Klischees das Bild des berühmt-berüchtigten venezianischen Abenteurers: Man denkt ihn sich mit den verderbten Zügen von Donald Sutherland in Fellinis Film, der wie ein Maikäfer auf diversen Frauen pumpt, oder so zynisch wie Alain Delon in der Verarbeitung von Arthur Schnitzlers „Casanovas Heimfahrt.“ Doch verderbt und zynisch, das sind Attribute des Don Juan – einer literarischen Figur.
Giacomo Casanova (1725–1798) war kein Don Juan. Um mit Gertrude Stein zu reden: Casanova war Casanova war Casanova. Und – notabene – er war kein „richtiger Mann“.
Fast 1,90 m groß, war Casanova für die Verhältnisse des 18. Jahrhunderts von einer Gestalt, die Friedrich den Großen zu der Bemerkung veranlasste: „Wissen Sie, Sie sind ein sehr schöner Mann.“ Seine Kraft und athletische Geschmeidigkeit erlaubten es ihm, sich aus einem Speicherfenster des Dogenpalastes über den Sims auf das Dach hinaufzuziehen – das Akrobatenstück seiner sensationellen Flucht aus dem sichersten Gefängnis der alten Welt. Ohne Gerichtsurteil hatte die Staatsinquisition ihn dort inhaftiert, angeblich, wie man später erfuhr, weil Casanova sich „gegen die heilige Religion vergangen“ habe, während die eigentlichen Gründe wohl sein lockerer Lebenswandel und vor allem der verbotene Umgang mit Ausländern gewesen sind.
Casanova führte eine schnelle Klinge, doch nur, wenn es Not tat; das scharfe Wort zog er vor. Als Einzelgänger, der sich nur auf sich selbst verließ, konnte er sich nirgends ein- und unterordnen. Vom Geiger bis zum Diplomaten hatte er sich in jeder nur erdenklichen Rolle versucht – wenn er sich auch zeitlebens als Literat verstand. Selbst am Soldatenleben interessierte ihn nicht die männliche Kumpanei, das Prahlen, Stechen und Saufen, sondern die glänzende Erscheinung. Er ließ sich eine Fantasieuniform schneidern, posierte auf den Straßen – und hängte diese Rolle sehr bald wieder an den Nagel.
Das Kriegspielen lag Casanova nicht. In Friedenszeiten bot die Jagd den Feudalen für den Krieg Ersatz. Die Kavaliere preschten zu Pferde über die Felder und schossen, bis die Büchsen glühten. Die Herrschaft über Leben und Tod ist das, was die Souveränität eines Herrn ausmacht – wenn nicht über Untertanen, so wenigstens über Kaninchen. Casanova aber ließ sich entschuldigen.
Was den Venezianer betrifft, so zeigte sich früh, dass der in einem Frauenhaushalt vaterlos aufgewachsene Jüngling ein Mann des Wortes sein würde. So begann er seine Laufbahn als Abbate. Er wurde mit sechzehn Jahren zum Doktor beider Rechte promoviert, sprach fließend Latein und Griechisch und war in allen Wissenschaften zu Hause. Die spannende und temperamentvolle Schilderung seiner Flucht aus den Bleikammern, die sich schnell über Venedig hinaus herumsprach, machte Casanova zum gefeierten Star aller Salons des Ancien Régime.
Ein richtiger Mann zeigt sich nicht nur an der Faszination für das Töten, sondern auch im Verhältnis zu den Frauen. „Ich fühlte mich immer für das andere Geschlecht geboren“, schrieb Casanova. Unter den Adligen war es üblich, die Jungfern als scheues Wild zu jagen. Die Mädchen wurden erlegt, man sprach von „Abschüssen“ und zählte die Trophäen. Wo die Überwältigung physisch nicht möglich war, trieb man sie mit Worten in die Enge. Ehrbare Frauen galten als Festungen und mussten im „Liebeskampf“ erstürmt werden, bis sie sich ergaben.
Aus der Geschichte wissen wir, dass der bäuerliche pater familias in der patriarchalischen Gesellschaft Haus und Hof mit dem Genital regierte. Ganz selbstverständlich nahm er sich auch Töchter, Nichten und Mägde vor. Von daher ist das männliche Ding ein Herrschaftsinstrument und die Defloration der Trüffel unter den Herrengenüssen, der Casanova allerdings nicht sonderlich zusagte. Oft „schonte“ er seine jungen Geliebten oder sorgte für ihre Ehrbarkeit durch die Ausrichtung einer Hochzeit mit einem jungen Mann. Dieser Ritterlichkeit entspricht, dass er die Namen vieler Frauen in seinen – übrigens nie pornografischen – Memoiren verschlüsselte.
Brillant, wortmächtig und nicht ohne Bewunderung beschreibt Stefan Zweig den hoch gebildeten Salonlöwen als einen „Mannshengst mit Schultern des Farnesischen Herkules und der Brünstigkeit eines wirrhaarigen Waldgottes“. Er stilisiert Casanova zu einem „Triebmenschen“, dessen Nüstern beben, wenn er „Frauenfleisch“ wittert. „Wie Sauerstoff, Schlaf und Bewegung braucht dieser männliche Leib unablässig sein weich wollüstiges Bettfutter …“ –„Kein Gourmet“ sei er gewesen, „sondern simpler Vielfraß, bloßer Gourmand …“ Für eine einzig und wahrhaft „Geliebte“ habe er sich nicht interessiert, „sondern für Frau Jedermann, für Frau Irgendwer, für jede gerade erreichbare Frau, nur weil sie Frau ist …“ Wahllos“ sei er gewesen und „zahllos“ die Frauen, die „dieser göttliche Stier“ besprungen habe. „Ihn reizt niemals das Individuum, sondern nur die Variante,“ man habe den Verdacht, „er habe allen seinen Geliebten gar nie recht ins Gesicht gesehen“, und von den vielen bleibe „nicht viel anderes zurück als ein fleischfarbener Gelee warmer, wollüstiger Frauenkörper“.
Ein Fehlurteil. Da Stefan Zweig Casanovas Aufrichtigkeit lobt, mag dieser denn selber den Schriftsteller widerlegen: „Ich verliebte mich immer in das Gesicht, und ich fühlte mich stets bereit, beim Übrigen großzügig zu sein.“ Nun? So war es eben doch die individuelle Besonderheit, die Casanova anzog. Frauen, die er liebte, waren für ihn immer neu und einmalig. Und darum war er stets bis zur Tollheit begeistert. Nicht die schöne Gestalt reizte ihn, die heute als gute Figur zuallererst interessiert.
Warum das Gesicht? „Das Gesicht ist der Sitz der Seele“, sagt Casanova. So ist seine angebliche Wahllosigkeit anders zu interpretieren: Er ging nicht „brünstig“ mit jeder Frau ins Bett, sei sie nun jung oder alt, hübsch oder hässlich, sondern er interessierte sich offenbar auch für aparte Ausprägungen des anderen Geschlechts, die der gängige Geschmack verwarf. Genau dies machte ihn zum „Frauenkenner“.
Seine Bemerkung: „Ihr schönes Gesicht fesselte meine Aufmerksamkeit, weil es von sprechender Lebendigkeit war und Lust machte zu hören, was sie sagte“, widerlegt Zweigs üble Metapher vom „Gelee aus Frauenfleisch“. Denn Schönheit sieht Casanova hier weit fortschrittlicher als seine Zeitgenossen nicht als passiven Zustand, sondern als Ausdruck aktiven Lebens.
Ist Lebendigkeit das Kriterium für Schönheit, können auch alte und so genannte hässliche Menschen schön sein. Diese Haltung gegenüber den Frauen geht schon weit über den Horizont des „richtigen Mannes“ hinaus. Mit Kitty, der anerkannt schönsten Kurtisane Londons, konnte Casanova nichts anfangen, was ihm, wäre er ein „Mannshengst“, doch nicht hätte passieren können. Warum? Casanova beherrschte das Englische nicht. „Ohne Worte verliert die Liebe mindestens zwei Drittel ihres Reizes.“ Ohne miteinander zu sprechen, ohne „zu hören, was sie sagt“: Wenn es so geht, dann handelt es sich um bloßen Sex (Zweig: „Brünstigkeit“).
Casanova schreibt dagegen: „Ich wollte geliebt werden, das war meine fixe Idee.“ Nun, auch richtige Männer wollen geliebt werden, jeder will es. Doch Casanova wusste, dass die Chance geliebt zu werden nur besteht, wenn man sich weggibt, ohne an Äquivalente zu denken. Nicht dass er seine Geliebten mit Geschenken überhäufte ist das Besondere, sondern seine Grundhaltung in der Erotik: „Ich hatte immer die Schwäche, vier Fünftel meines eigenen Genusses in der Wonne zu finden, die ich dem reizenden Wesen verschaffte, dem ich mein Glück verdankte.“ An Clementina etwa, der belesenen Tochter eines armen Grafen, der meinte, Belesenheit sei ihrer Verheiratung hinderlich, fand Casanova „einen gesunden, tiefen und nachdenklichen Verstand“.
„Ich fuhr nach Lodi“, schreibt er, „und kaufte dort alle Bücher, die für die schöne Clementina passten, und ließ meinen großen Sack voll von Büchern in Clementinas Zimmer bringen. Clementina war von Erstaunen und Bewunderung hingerissen. Sie schien daran zu zweifeln, dass dieser Schatz wirklich ihr gehören sollte. Die Wonne über den Ausdruck von Dankbarkeit auf dem Antlitz einer angebeteten Frau hat etwas Erhabenes, Unbeschreibliches an sich. Wenn du dies nicht ebenso fühlst wie ich, mein lieber Leser, so lege ich keinen Wert darauf, von dir gelesen zu werden.“
Gesteht man ein, dass die reine Liebe eine Fiktion der Romantik ist, stört die instrumentelle Dimension in Casanovas Großzügigkeit wenig. Richtige Männer, also jene, die aus Macht und Herrschaft über Frauen Genuss ziehen, hören weder zu, noch geben sie sich Mühe, die Frauen zu beglücken. Wenn sie Geschenke machen, dann solche, die ihren eigenen Sozialstatus erhöhen – wie dann, wenn sie sich eine Frau im demonstrativen Outfit leisten.
Dass es Casanova gelang, die Frauen zu entzücken, leugnet auch Zweig nicht: „Denn Frauen glücklich zu sehen, selig überrascht, entzückt, lachend und hingerissen, ist für Casanova Endgenuss alles Genießens. Er schafft keine Niederbrüche, keine Verzweiflungen, er hat viele Frauen glücklich gemacht und keine hysterisch, alle kehren sie aus dem rein sinnlichen Abenteuer unbeschädigt in den Alltag zurück, entweder zu ihren Männern oder zu anderen Geliebten. Er streift über sie alle nur wie ein tropischer Wind hinweg, daran sie aufblühen …“
Fraglos war die Liebe im 18. Jahrhundert oberflächlich – an bürgerlichen Ansprüchen gemessen. Die Anzahl von Casanovas Amouren hatte schon das biedermeierliche Bürgertum so sehr geschockt, dass man seine posthum erschienene Lebenserinnerungen zur Fiktion, zum Roman erklärte. Casanova hat keine Liste geführt wie Don Juans Leporello, der die „Jagdstrecke“ seines Herrn protokollierte. Doch ein Abenteurer, der in ganz Europa herumzog, musste wohl, wenn er die Frauen liebte, einige mehr umarmt haben als ein sesshafter Bürger. Geht es um die Quantität, zieht mit Casanova heute jeder Bademeister gleich.
Casanova war kein Techniker, sondern ein Liebeskünstler von einfallsreicher Spontaneität. Auch dies unterscheidet ihn vom richtigen Mann, dessen diesbezügliche Standardfertigkeit treffend „bumsen“ heißt. Und war er auch in der Liebe ein geistreicher Spieler, so spielten die Frauen doch liebend gern mit. Dass Casanova von den Frauen so sehr geliebt wurde, dass er noch im Alter von siebzig Jahren mit ihnen korrespondierte, lag daran, dass Macht, Herrschaft, Gewalt, Besitz und Eifersucht bei ihm in der Liebe keine Rolle spielten. Nie habe er, versichert er stolz, eine Frau ohne deren Einverständnis geliebt.
Er war kein Draufgänger, sondern bemerkte das leiseste Entgegenkommen und den kleinsten Wink. Mehr als sein pompöses Auftreten in Samt und Seide und – in seiner besten Zeit – mit Equipage und Lakai entzückte die Damen seine amüsante Eloquenz, sein Witz. Casanova brachte ganze Tafelrunden zum Lachen. Vor allem: Er behandelte das weibliche Geschlecht nicht als inferior, sondern achtete es als die andere Ausprägung des Menschen, die ihn in steter Neugier hielt. So war es wohl Wissbegier, die ihn in lange Gespräche mit seinen Geliebten verwickelte. Er schrieb: „Man könnte die Liebe als eine mächtige Neugier betrachten“.
Der richtige Mann dagegen weiß, „wie die Weiber sind“. Was die erotische Haltung gegenüber Frauen anlangt, ist Casanova auf allen fünf Kontinenten der Männerwelt wohl noch heute ein Avantgardist.
BURKHARD BRUNN, 67, ist Soziologe und Publizist – und Herausgeber einer Auswahl von Casanovas Lebenserinnerungen („Casanova, mein Leben“, Ullstein 1998, vergriffen). Eine Gesamtausgabe der Memoiren ist auf Deutsch nur antiquarisch zu erhalten, sie gelten als erste Quelle für das Leben im 18. Jahrhundert