Ewiges Bedürfnis

Über Essen wird viel geschrieben, über Kacken nicht. Moment mal – kacken? Ja, denn das ist ein durchaus seriöser Ausdruck, abgeleitet von griechisch „kakos“ (schlecht). Eine Kulturgeschichte der Fäkalienentsorgung

Essen und Kacken sind zwei polare Körperfunktionen eines jeden Organismus. Auch die mittelalterlichen Städte wurden als Organismen aufgefasst. Auf Plänen sehen sie oft Mikroben ähnlich, sie haben einen Mund, in den die Güter, also das, was gut ist, hineingeschafft, und einen After, aus dem das, was schlecht ist, herausgeschafft wurde. Der Mund war ein großartig verziertes Stadttor, der After eine unscheinbare Öffnung in der Stadtmauer. Die Hauptstraße, sie war so etwas wie Schlund und Darm des Stadtorganismus.
Als einer der Ersten interessiert sich im achtzehnten Jahrhundert Louis-Sébastien Mercier für die Einzelheiten der Stadt. Sein „Tableau de Paris“ (deutsch: „Pariser Nahaufnahmen“) wurde 1781, kurz vor der Revolution, veröffentlicht. Den „Abtritten“ ist darin ein eigenes Kapitel gewidmet. „Drei Viertel der Latrinen sind schmutzig, entsetzlich und ekelerregend. Die Architekten verlegten ihre Röhren aufs Geratewohl; und nichts muss einen Fremden mehr verwundern, als ein Amphitheater von Latrinen zu sehen, die einen über den anderen sitzend, an die Treppen stoßend, neben den Türen, ganz nahe bei den Küchen und von überall her den widerlichsten Geruch ausströmend. Die zu engen Röhren verstopfen leicht; die Fäkalien häufen sich säulenartig an, steigen bis zum Abtrittsitz hoch, das überlastete Rohr platzt: das Haus ist überflutet. Die Kinder ängstigen sich vor diesen verseuchten Löchern; sie glauben, dort sei der Weg zur Hölle.“
Die Bemerkung über die „amphitheatralischen Anordnung“ der Latrinen erinnert daran, dass man in der Antike die Verrichtung gemeinschaftlich vornahm. Erst hatte man zusammen gespeist, dann wurde zusammen gekackt – nur die Männer natürlich. Man saß auf langen Marmorbänken, die oft ein offenes Rechteck bildeten, nebeneinander und diskutierte die Staatsgeschäfte. Ein Sklave wischte die Hintern ab. Solche Gemeinschaftslatrinen waren an Abwasserkanäle angeschlossen. Denn es gab auch schon in der Antike eine Wasserspülung, als deren mythologischer Erfinder Herkules galt. (Zu den Taten des Helden gehört es, den zum Himmel stinkenden Stall des Königs Augias auszumisten: er leitete einfach den nahen Fluss hindurch.)
Auch im Mittelalter, als die alte Wasserkultur vergessen war und die zyklopischen Aquädukte als Teufelswerk galten, war das Kacken keine private Angelegenheit – sogar noch im Barock bei Hofe des Sonnenkönigs. Louis Quartorze verkörperte nach dem Konzept des Absolutismus den Staat in persona (“L’état, c’est moi“). Folglich waren auch seine körperlichen Verrichtungen Staatsakte. Eduard Fuchs schreibt in seiner sozialkritischen Sittengeschichte: „Die alltägliche Prüfung des königlichen Nachtstuhls am französischen Hof ist ein hohes Ehrenamt für den damit Betrauten.“ Das Amt eines Herzogs. Aufgabe einer Herzogin war es, den Sohn des Königs bei der Verrichtung seiner Notdurft zu unterhalten. „Er hatte es gern, dass man ihm auf dem Kackstuhle entretenierte.“ Die Etikette bei Hofe war so streng, dass es für die Höflinge unmöglich war, sich in Gegenwart des Königs zur Bedürfnisverrichtung zurückzuziehen. Die Kleidung der Damen war entsprechend eingerichtet, dass sie – was man sonst nur von Marktfrauen kannte – sich von ihrem Platz nicht entfernen mussten. Es gab aufmerksame Diener, und hin und wieder wechselte man den Saal.
Johann Caspar Goethe, der Vater des Dichters, machte 1740 eine Reise durch Italien. Eines gefiel ihm hier gar nicht: „Selbst im Haupteingang (des Dogenpalastes in Venedig) auf der dem Kanal zugewandten Seite schämt man sich nicht, die Hosen herunterzulassen, auch wenn der Doge gerade den Palast durch die Wasserpforte betreten will.“
Auch Mercier berichtet von dieser Öffentlichkeit des Kackens: „Früher war der Tuileriengarten und der Palast unserer Könige ein allgemeiner Treffpunkt. All die Scheißer reihten sich hinter einer Taxushecke auf und erleichterten sich dort.“ Von mehreren Familiengemeinsam, wenn auch nicht mehr öffentlich, wurden die auf dem Treppenabsatz der Mietskasernen installierten Aborte bis weit ins 20. Jahrhundert benutzt. Für eine Stadt gab es zwei Möglichkeiten, sich zu entleeren. Die eine bestand darin, die Fäkalien mit Karren hinauszuschaffen, die andere, den Transport dem Fluss zu überlassen.
In Paris wurden beide Verfahren angewandt. Die Ausscheidungen wurden in Fäkalgruben gesammelt. „Sie bedeckten das Umland der Hauptstadt bis auf eine halbe Meile.“ Der Gestank reichte bis zu den Boulevards, auf denen die Bürger spazieren gingen, um frische Luft zu schnappen. Oder – wie Mercier bemerkt: „Die Kloakenentleerer schütten auch, um sich die Mühe des Transports vor die Stadt zu sparen, die Fäkalien im Morgengrauen in die Abflussgräben und Rinnsteine. Diese entsetzliche Brühe ergießt sich nun die Straßen entlang auf die Seine zu und verseucht das Ufer, wo die Wasserträger morgens mit ihren Eimern das Wasser schöpfen.“
Der Fluss schaffte also die Ausscheidungen aus der Stadt. Es ist das noch heute überwiegend angewandte Verfahren. Freilich werden die Abwässer nun durch raffinierte Kläranlagen geleitet, ehe sie den Fluss erreichen.
Die Öffentlichkeit der Verrichtung, die biologisch doch so fundamental ist wie Essen, Sichfortplanzen, Gebären, Schlafen und Sterben, finden wir heute abstoßend. Die Angelegenheit als intim zu betrachten, verdanken wir der Schamhaftigkeit, die uns die Kirche anerzogen hat, für die der Unterleib generell tabu war und ist.
Erst im neunzehnten Jahrhundert, im bürgerlichen Zeitalter, das sich besonders im viktorianischen England durch eine kaum vorstellbare Prüderie auszeichnet, wird die Entleerung des Körpers entschieden isoliert. Der Ort, der zunächst rein sachlich „Abtritt“ oder „Abort“ genannt wurde, womit zum einen ein Weggehen, zum anderen ein abgelegener Ort gemeint ist, erhält erst mit dem Ausdruck „Klosett“ (engl.: closed) seine Abgeschlossenheit. Das „Örtchen“ (lat.: locus) war nun ein verschließbares Kabinett.
Im ländlichen Deutschland gab es das „Plumpsklo“ noch lange nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als „Scheißhaus“ auf dem Hof oder hinter dem Gemüsegarten. Ein breites, mit einem großen Loch versehenes Brett und manchmal – für die Kinder – mit einem kleinen Loch daneben. Beide Löcher hatten grobe Deckel, der Gestank aus der Grube war grauenhaft, und es wimmelte von Fliegen. Das im neunzehnten Jahrhundert in England wieder erfundene Wasserklosett – verschleiernd als WC bezeichnet – zeigte sich allen anderen Versuchen, der Exkremente Herr zu werden – darunter das Feuerklosett, das skandinavische Luftklosett und andere Konstruktionen auf Basis von Chemikalien –, weit überlegen, da die Engländer bereits ein hoch entwickeltes Wasserleitungsnetz besaßen und eine Kanalisation, während man sich auf dem Kontinent noch immer mit Senkgruben behalf.
Das Wasserklosett ist darum zunächst eine wirklich urbane Einrichtung. Sie bringt eine Lösung der Probleme, die mit der großstadtbedingten Massenhaftigkeit verbunden sind. In Frankreich, sogar in Paris, findet man in einfacheren Restaurants noch immer jene cabinets, die dazu nötigen, die Notdurft in der Hocke zu verrichten, was effektiver, aber unbequemer ist als der angelsächsische Thron: Der wird von manchen als derart gemütlich empfunden, dass sie dort Zeitung lesen, ein Privatvergnügen, das in Frankreich nicht möglich ist: Ein derber Wasserschwall treibt jeden schnell wieder nach draußen.
Auf dem Land war das anders. Als Johann Wolfgang von Goethe auf seiner Italienreise einmal den Hausknecht des Albergo nach einer gewissen Gelegenheit fragte, deutete der in den Hof hinunter und meinte: „Dappertutto!“ (überall). In Anatolien gab es den Brauch, sich den Hintern mit einem flachen Stein abzukratzen, den man von einem pyramidenförmigen Haufen nahm und nach Gebrauch umgedreht zu einer Pyramide aufschichtete: die durch die Sonnenglut gesäuberten Steine konnten nun wieder von der anderen Seite benutzt werden.
Öffentliche Toiletten, für Mercier noch eine Utopie, sind heute eine Selbstverständlichkeit. Der Ausdruck „Toilette“ – eine Verkleinerungsform von französisch toile (Tuch) – verweist auf ein Kabinett, in dem man sich die Hände waschen, in den Spiegel blicken und die Frisur richten konnte. Er verhüllt den eigentlichen Zweck der Einrichtung. Die alte deutsche Bezeichnung „Pissanstalt“ ist dagegen unmissverständlich.
Die großstädtische Einrichtung ist die Konsequenz aus üblen Erfahrungen. Nach dem Prinzip „Not kennt kein Gebot“ pflegten Männer ihre Notdurft gewöhnlich ohne Rücksicht in der Öffentlichkeit zu verrichten. Besonders die Hauseingänge der Adelspaläste ermunterten das Volk. In Frankreich führte das zur Errichtung von vespasiennes für die kleine Notdurft – offener, überdachter Pissoirs mit einer Sichtblende: Oben sah man die Hüte, unten die Beine der Männer.
Und die Frauen? Sehr einfach: ehrbare (das heißt die bürgerlichen) Frauen hatten noch im späten neunzehnten Jahrhundert ohne Begleitung auf der Straße nichts zu suchen. Ihre „angeborene Schamhaftigkeit“ ließ sie in heikle Situationen gar nicht erst kommen. Den merkwürdigen Namen hat das französische Pissoir von dem römischen Kaiser Vespasian, der durch seine Sparsamkeit berühmt wurde. Von ihm stammt der Ausspruch „Pecunia non olet“ (Geld stinkt nicht), eine Antwort an jene, die seine Urinsteuer anrüchig fanden. Denn der Kaiser hatte Pissoirs eingerichtet und pro Verrichtung einen Obolus für die Staatskasse verlangt, die er gründlich saniert hat.
Giacomo Casanova fand die Stadt London im Jahre 1763 zwar sauber und die meisten Einrichtungen vorbildlich – aber dass die Männer auf die Straße pinkelten, störte ihn. „Sie wenden sich der Straßenmitte zu und pissen dorthin. Aber wer im Wagen vorüberfährt, sieht es.“ Eben! Es war eine derbe Geste der Verachtung für die in ihren Equipagen vorbeirollenden Adligen.