Von Kopf bis Fuß (2): Die Stirn
„Er hatte die Stirn zu behaupten, die Erde sei eine Scheibe!“ In der Tat leitet sich dieser Affront gegenüber der Wissenschaft vom lateinischen „frons“, also Stirn, her. Wer an der Front steht, bietet dem Feind die Stirn. Warum nicht die Nase, die doch noch weiter hervorsteht? Was die breite Stirn am Kopf, ist die breite Brust am Körper, ein Schutzschild, ein Panzer vor allem dann, wenn es vorwärts, um Fortschreiten und Fortschritt geht – sei es in der Schlacht, sei es in der Technik oder den Wissenschaften.
Engstirnigkeit ist dagegen ein Ausdruck für Borniertheit, Beschränkung: eine spezifische Form der Dummheit, die durch den verengten Horizont entsteht. Ihr entspricht die Engbrüstigkeit von Leuten, denen sich die „Brust nicht weitet“, wenn sie an die Freiheit denken. Die Kühnen werden in Kunst und Film immer mit freier Stirn dargestellt. Simpelfransen sind eine Frisur für Naive – man stelle sich nur eine Heroine wie Katherine Hepburn mit Pony vor! Wir erinnern uns, dass die Mütter den Jungen die Haare aus der Stirn strichen. Den Mädchen mochten die Locken in die Stirn fallen, denn kühn sollten sie nicht wirken.
Früher noch als Lavater, der in der Goethe-Zeit berühmt war, weil er den Charakter des Menschen an Schädelform und Profil glaubte bestimmen zu können, galt eine hohe Stirn als Merkmal des Geistes. Goethe, Wagner und andere Größen besaßen eine solche und trugen sie stolz. Was spielt sich auf der hohen Denkerstirn nicht alles ab! Sie ist mal umwölkt – eine Eigenschaft, die sonst nur Berggipfeln zukommt. Natürlich resultiert solch düsterer Ausdruck aus dem Zusammenspiel mit Augenbrauen und Augen. Erstere werden grimmig zusammengezogen oder – highbrow – gehoben; Letztere konnten blitzen. Dann folgte das Donnerwetter. Auch von zorngeschwellter Stirn kann man lesen. Mancher Patriarch besaß eine Ader auf der Stirn und musste darum nicht erst abwarten, bis ihm der Kragen platzte, damit seine Leute begriffen, was er von ihnen hielt. Redet man von einer gramdurchfurchten Stirn, so scheint das Leben auf der Stirn buchstäblich geackert zu haben.
Die Stirn ist beredt, denn es lässt sich nach einer Redensart etwas von ihr ablesen, wenn etwa die Bosheit jemandem auf der Stirn geschrieben steht – wie das biblische Kainsmal. Eine reine Stirn wurde besonders den Jungfrauen angedichtet, eine Stirn, die weder umwölkt noch durchfurcht, düster oder zorngeschwellt war, eben weil die Jungfrau weder zu grübeln, sich zu grämen oder zu zürnen, sondern nur abzuwarten hatte. Doch eine steile Falte auf der Stirn durfte sie auch nicht haben, da sie als Zeichen eines jähen Willens galt.
Der Hut verkörpert seit ältesten Zeiten wenn nicht männliche Würde, so doch wenigstens Männlichkeit. Wenn Robert Mitchum sich den Hut mit dem Zeigefinger aus der Stirn schob, signalisierte das ein Abwarten – die Situation war noch offen. Die Geste ist wohl ein ironisches, unfertiges Lüften des Hutes. Zog Humphrey Bogart sich den Hut in die Stirn, war die Entscheidung gefallen, das Visier geschlossen. Das Hutspiel ist in amerikanischen Filmen der 30er- bis 50er-Jahre ein ebenso häufiges Ritual wie das Zigarettenanzünden und Telefonieren.
Die Stirn ist der Schutzschild des Kopfes, der Steuerungszentrale. Daher jagt der Selbstmörder sich die Kugel nicht durch die eherne Stirn, sondern durch die weiche Schläfe, nämlich jene Seite des Kopfes, auf der man gewöhnlich schläft. Sich an die Stirn zu tippen ist eine altmodische Art, jemandem anzuzeigen, dass jedes Wort zu viel ist, um auszudrücken, wie doof man ihn findet. Die Geste weist darauf hin, dass hinter der Stirn gewöhnlich das Hirn ansässig ist, nur eben in diesem Fall nicht. Bietet man jemandem die Stirn, trotzt man dieser Person – wie gesagt, ein Affront.
Obwohl wir den Kopf drehen können, ist die Stirn immer vorn. Die Stirn ist wesentlich ein durch Kampf und Widerstand definierter Teil unseres Körpers, dem die Hörner fehlen. Das belegen gewisse Schlägermethoden: In einer Art Frontalzusammenstoß nach Art der Steinböcke schlägt man dem Gegner mit der Stirn die Nase blutig.