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(Giacomo Casanova)

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Mächtige Neugier
Giacomo Casanova, der barocke Frauenheld, steht im Ruf, ein skrupelloser Verderber gewesen zu sein. Dabei nimmt es heute jeder Bademeister mit der Zahl seiner Eroberungen auf – kaum aber mit seiner Zugewandtheit

„Casanova“ – das heißt Weiberheld, Verführer, Schürzenjäger, „Manntier“ (Stephan Zweig). Da nur wenige die Zeit aufbringen, die zwölf Bände seiner Memoiren zu lesen, prägen verzerrte Klischees das Bild des berühmt-berüchtigten venezianischen Abenteurers: Man denkt ihn sich mit den verderbten Zügen von Donald Sutherland in Fellinis Film, der wie ein Maikäfer auf diversen Frauen pumpt, oder so zynisch wie Alain Delon in der Verarbeitung von Arthur Schnitzlers „Casanovas Heimfahrt.“ Doch verderbt und zynisch, das sind Attribute des Don Juan – einer literarischen Figur.
Giacomo Casanova (1725–1798) war kein Don Juan. Um mit Gertrude Stein zu reden: Casanova war Casanova war Casanova. Und – notabene – er war kein „richtiger Mann“.
Fast 1,90 m groß, war Casanova für die Verhältnisse des 18. Jahrhunderts von einer Gestalt, die Friedrich den Großen zu der Bemerkung veranlasste: „Wissen Sie, Sie sind ein sehr schöner Mann.“ Seine Kraft und athletische Geschmeidigkeit erlaubten es ihm, sich aus einem Speicherfenster des Dogenpalastes über den Sims auf das Dach hinaufzuziehen – das Akrobatenstück seiner sensationellen Flucht aus dem sichersten Gefängnis der alten Welt. Ohne Gerichtsurteil hatte die Staatsinquisition ihn dort inhaftiert, angeblich, wie man später erfuhr, weil Casanova sich „gegen die heilige Religion vergangen“ habe, während die eigentlichen Gründe wohl sein lockerer Lebenswandel und vor allem der verbotene Umgang mit Ausländern gewesen sind.
Casanova führte eine schnelle Klinge, doch nur, wenn es Not tat; das scharfe Wort zog er vor. Als Einzelgänger, der sich nur auf sich selbst verließ, konnte er sich nirgends ein- und unterordnen. Vom Geiger bis zum Diplomaten hatte er sich in jeder nur erdenklichen Rolle versucht – wenn er sich auch zeitlebens als Literat verstand. Selbst am Soldatenleben interessierte ihn nicht die männliche Kumpanei, das Prahlen, Stechen und Saufen, sondern die glänzende Erscheinung. Er ließ sich eine Fantasieuniform schneidern, posierte auf den Straßen – und hängte diese Rolle sehr bald wieder an den Nagel.
Das Kriegspielen lag Casanova nicht. In Friedenszeiten bot die Jagd den Feudalen für den Krieg Ersatz. Die Kavaliere preschten zu Pferde über die Felder und schossen, bis die Büchsen glühten. Die Herrschaft über Leben und Tod ist das, was die Souveränität eines Herrn ausmacht – wenn nicht über Untertanen, so wenigstens über Kaninchen. Casanova aber ließ sich entschuldigen.
Was den Venezianer betrifft, so zeigte sich früh, dass der in einem Frauenhaushalt vaterlos aufgewachsene Jüngling ein Mann des Wortes sein würde. So begann er seine Laufbahn als Abbate. Er wurde mit sechzehn Jahren zum Doktor beider Rechte promoviert, sprach fließend Latein und Griechisch und war in allen Wissenschaften zu Hause. Die spannende und temperamentvolle Schilderung seiner Flucht aus den Bleikammern, die sich schnell über Venedig hinaus herumsprach, machte Casanova zum gefeierten Star aller Salons des Ancien Régime.
Ein richtiger Mann zeigt sich nicht nur an der Faszination für das Töten, sondern auch im Verhältnis zu den Frauen. „Ich fühlte mich immer für das andere Geschlecht geboren“, schrieb Casanova. Unter den Adligen war es üblich, die Jungfern als scheues Wild zu jagen. Die Mädchen wurden erlegt, man sprach von „Abschüssen“ und zählte die Trophäen. Wo die Überwältigung physisch nicht möglich war, trieb man sie mit Worten in die Enge. Ehrbare Frauen galten als Festungen und mussten im „Liebeskampf“ erstürmt werden, bis sie sich ergaben.
Aus der Geschichte wissen wir, dass der bäuerliche pater familias in der patriarchalischen Gesellschaft Haus und Hof mit dem Genital regierte. Ganz selbstverständlich nahm er sich auch Töchter, Nichten und Mägde vor. Von daher ist das männliche Ding ein Herrschaftsinstrument und die Defloration der Trüffel unter den Herrengenüssen, der Casanova allerdings nicht sonderlich zusagte. Oft „schonte“ er seine jungen Geliebten oder sorgte für ihre Ehrbarkeit durch die Ausrichtung einer Hochzeit mit einem jungen Mann. Dieser Ritterlichkeit entspricht, dass er die Namen vieler Frauen in seinen – übrigens nie pornografischen – Memoiren verschlüsselte.
Brillant, wortmächtig und nicht ohne Bewunderung beschreibt Stefan Zweig den hoch gebildeten Salonlöwen als einen „Mannshengst mit Schultern des Farnesischen Herkules und der Brünstigkeit eines wirrhaarigen Waldgottes“. Er stilisiert Casanova zu einem „Triebmenschen“, dessen Nüstern beben, wenn er „Frauenfleisch“ wittert. „Wie Sauerstoff, Schlaf und Bewegung braucht dieser männliche Leib unablässig sein weich wollüstiges Bettfutter …“ –„Kein Gourmet“ sei er gewesen, „sondern simpler Vielfraß, bloßer Gourmand …“ Für eine einzig und wahrhaft „Geliebte“ habe er sich nicht interessiert, „sondern für Frau Jedermann, für Frau Irgendwer, für jede gerade erreichbare Frau, nur weil sie Frau ist …“ Wahllos“ sei er gewesen und „zahllos“ die Frauen, die „dieser göttliche Stier“ besprungen habe. „Ihn reizt niemals das Individuum, sondern nur die Variante,“ man habe den Verdacht, „er habe allen seinen Geliebten gar nie recht ins Gesicht gesehen“, und von den vielen bleibe „nicht viel anderes zurück als ein fleischfarbener Gelee warmer, wollüstiger Frauenkörper“.
Ein Fehlurteil. Da Stefan Zweig Casanovas Aufrichtigkeit lobt, mag dieser denn selber den Schriftsteller widerlegen: „Ich verliebte mich immer in das Gesicht, und ich fühlte mich stets bereit, beim Übrigen großzügig zu sein.“ Nun? So war es eben doch die individuelle Besonderheit, die Casanova anzog. Frauen, die er liebte, waren für ihn immer neu und einmalig. Und darum war er stets bis zur Tollheit begeistert. Nicht die schöne Gestalt reizte ihn, die heute als gute Figur zuallererst interessiert.
Warum das Gesicht? „Das Gesicht ist der Sitz der Seele“, sagt Casanova. So ist seine angebliche Wahllosigkeit anders zu interpretieren: Er ging nicht „brünstig“ mit jeder Frau ins Bett, sei sie nun jung oder alt, hübsch oder hässlich, sondern er interessierte sich offenbar auch für aparte Ausprägungen des anderen Geschlechts, die der gängige Geschmack verwarf. Genau dies machte ihn zum „Frauenkenner“.
Seine Bemerkung: „Ihr schönes Gesicht fesselte meine Aufmerksamkeit, weil es von sprechender Lebendigkeit war und Lust machte zu hören, was sie sagte“, widerlegt Zweigs üble Metapher vom „Gelee aus Frauenfleisch“. Denn Schönheit sieht Casanova hier weit fortschrittlicher als seine Zeitgenossen nicht als passiven Zustand, sondern als Ausdruck aktiven Lebens.
Ist Lebendigkeit das Kriterium für Schönheit, können auch alte und so genannte hässliche Menschen schön sein. Diese Haltung gegenüber den Frauen geht schon weit über den Horizont des „richtigen Mannes“ hinaus. Mit Kitty, der anerkannt schönsten Kurtisane Londons, konnte Casanova nichts anfangen, was ihm, wäre er ein „Mannshengst“, doch nicht hätte passieren können. Warum? Casanova beherrschte das Englische nicht. „Ohne Worte verliert die Liebe mindestens zwei Drittel ihres Reizes.“ Ohne miteinander zu sprechen, ohne „zu hören, was sie sagt“: Wenn es so geht, dann handelt es sich um bloßen Sex (Zweig: „Brünstigkeit“).
Casanova schreibt dagegen: „Ich wollte geliebt werden, das war meine fixe Idee.“ Nun, auch richtige Männer wollen geliebt werden, jeder will es. Doch Casanova wusste, dass die Chance geliebt zu werden nur besteht, wenn man sich weggibt, ohne an Äquivalente zu denken. Nicht dass er seine Geliebten mit Geschenken überhäufte ist das Besondere, sondern seine Grundhaltung in der Erotik: „Ich hatte immer die Schwäche, vier Fünftel meines eigenen Genusses in der Wonne zu finden, die ich dem reizenden Wesen verschaffte, dem ich mein Glück verdankte.“ An Clementina etwa, der belesenen Tochter eines armen Grafen, der meinte, Belesenheit sei ihrer Verheiratung hinderlich, fand Casanova „einen gesunden, tiefen und nachdenklichen Verstand“.
„Ich fuhr nach Lodi“, schreibt er, „und kaufte dort alle Bücher, die für die schöne Clementina passten, und ließ meinen großen Sack voll von Büchern in Clementinas Zimmer bringen. Clementina war von Erstaunen und Bewunderung hingerissen. Sie schien daran zu zweifeln, dass dieser Schatz wirklich ihr gehören sollte. Die Wonne über den Ausdruck von Dankbarkeit auf dem Antlitz einer angebeteten Frau hat etwas Erhabenes, Unbeschreibliches an sich. Wenn du dies nicht ebenso fühlst wie ich, mein lieber Leser, so lege ich keinen Wert darauf, von dir gelesen zu werden.“
Gesteht man ein, dass die reine Liebe eine Fiktion der Romantik ist, stört die instrumentelle Dimension in Casanovas Großzügigkeit wenig. Richtige Männer, also jene, die aus Macht und Herrschaft über Frauen Genuss ziehen, hören weder zu, noch geben sie sich Mühe, die Frauen zu beglücken. Wenn sie Geschenke machen, dann solche, die ihren eigenen Sozialstatus erhöhen – wie dann, wenn sie sich eine Frau im demonstrativen Outfit leisten.
Dass es Casanova gelang, die Frauen zu entzücken, leugnet auch Zweig nicht: „Denn Frauen glücklich zu sehen, selig überrascht, entzückt, lachend und hingerissen, ist für Casanova Endgenuss alles Genießens. Er schafft keine Niederbrüche, keine Verzweiflungen, er hat viele Frauen glücklich gemacht und keine hysterisch, alle kehren sie aus dem rein sinnlichen Abenteuer unbeschädigt in den Alltag zurück, entweder zu ihren Männern oder zu anderen Geliebten. Er streift über sie alle nur wie ein tropischer Wind hinweg, daran sie aufblühen …“
Fraglos war die Liebe im 18. Jahrhundert oberflächlich – an bürgerlichen Ansprüchen gemessen. Die Anzahl von Casanovas Amouren hatte schon das biedermeierliche Bürgertum so sehr geschockt, dass man seine posthum erschienene Lebenserinnerungen zur Fiktion, zum Roman erklärte. Casanova hat keine Liste geführt wie Don Juans Leporello, der die „Jagdstrecke“ seines Herrn protokollierte. Doch ein Abenteurer, der in ganz Europa herumzog, musste wohl, wenn er die Frauen liebte, einige mehr umarmt haben als ein sesshafter Bürger. Geht es um die Quantität, zieht mit Casanova heute jeder Bademeister gleich.
Casanova war kein Techniker, sondern ein Liebeskünstler von einfallsreicher Spontaneität. Auch dies unterscheidet ihn vom richtigen Mann, dessen diesbezügliche Standardfertigkeit treffend „bumsen“ heißt. Und war er auch in der Liebe ein geistreicher Spieler, so spielten die Frauen doch liebend gern mit. Dass Casanova von den Frauen so sehr geliebt wurde, dass er noch im Alter von siebzig Jahren mit ihnen korrespondierte, lag daran, dass Macht, Herrschaft, Gewalt, Besitz und Eifersucht bei ihm in der Liebe keine Rolle spielten. Nie habe er, versichert er stolz, eine Frau ohne deren Einverständnis geliebt.
Er war kein Draufgänger, sondern bemerkte das leiseste Entgegenkommen und den kleinsten Wink. Mehr als sein pompöses Auftreten in Samt und Seide und – in seiner besten Zeit – mit Equipage und Lakai entzückte die Damen seine amüsante Eloquenz, sein Witz. Casanova brachte ganze Tafelrunden zum Lachen. Vor allem: Er behandelte das weibliche Geschlecht nicht als inferior, sondern achtete es als die andere Ausprägung des Menschen, die ihn in steter Neugier hielt. So war es wohl Wissbegier, die ihn in lange Gespräche mit seinen Geliebten verwickelte. Er schrieb: „Man könnte die Liebe als eine mächtige Neugier betrachten“.
Der richtige Mann dagegen weiß, „wie die Weiber sind“. Was die erotische Haltung gegenüber Frauen anlangt, ist Casanova auf allen fünf Kontinenten der Männerwelt wohl noch heute ein Avantgardist.
BURKHARD BRUNN, 67, ist Soziologe und Publizist – und Herausgeber einer Auswahl von Casanovas Lebenserinnerungen („Casanova, mein Leben“, Ullstein 1998, vergriffen). Eine Gesamtausgabe der Memoiren ist auf Deutsch nur antiquarisch zu erhalten, sie gelten als erste Quelle für das Leben im 18. Jahrhundert

(Why do tables have four legs?)

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Warum haben Tische vier Beine?
Dass fast alle Möbelstücke auf Beinen stehen, lässt sich nur zum Teil funktional und physikalisch erklären. Entscheidender ist, dass die Formen von Möbeln ursprünglich aus der Tierwelt hergeleitet wurden und das Obensitzen Herrschaft über all jene ausdrückt, die auf dem Boden im Schmutz sitzen

Die Warum-Fragen ihrer Kinder bringen Eltern oft in Verlegenheit. Denn den Kindern erscheinen Dinge, die den Eltern schon lange selbstverständlich sind, als fragwürdig. Gesetzt der Fall, ein Kind fragt, warum der Tisch vier Beine hat, was antwortet man da? Kann man da sagen: was für eine blöde Frage? Kann man nicht! Warum haben Tische und Stühle Beine? Damit man die eigenen darunter stellen kann. Selbstverständlich. Alles sehr funktional. Und warum hat der Schrank Beine? Und die Kommode? Damit man darunter fegen kann? Stünden sie direkt auf dem Boden, wäre das gewiss praktischer. Funktionalität erklärt keineswegs, warum ein Schrank Beine haben.
Tisch, Stuhl, Schrank und Kommode heißen „Möbel“: sie sind mobil, im Gegensatz zu den Immobilien, die sich – zum Glück – nicht bewegen lassen. Mobilität bedeutet im Fall der Möbel, dass man sie verrücken oder bei einem Umzug mitnehmen kann. Soweit erklärt die Funktion alles. Mobil und vierbeinig aber sind die Möbel warum? Weil sie ursprünglich als eine Art Haustiere betrachtet wurden. Weil die Formen der Möbel von den Tieren abgeleitet sind, nur darum haben sie Beine. Denn stehen könnten sie auch ohne Beine und, rein physikalisch betrachtet, am sichersten auf drei Beinen. Und einbeinige Tische? Auch diese sind von der Natur hergeleitet: sie sind Urenkel des Baumes.
Die graziösesten Möbel auf geschwungenen Beinen mit kleinen Hufen unverkennbar tierischer Herkunft bauten Abraham und David Roentgen aus Neuwied, im Ancien Régime hochgeschätzte Kunsttischler. Diese zarten braunen Möbel sind von einer solchen Lebendigkeit, dass man sich nicht wunderte, wenn sie wie die Zicklein wider alle Vernunft durch die offenen Türen in den Garten hinaussprängen. Dies nebenbei: Bei Carlo Levi, dem Autor von „Christus kam nur bis Eboli“ gibt es eine „hinkende Kommode“.
Dieser natürliche Ursprung war noch unmittelbar deutlich bei den gewaltigen Lehnstühlen des deutschen Historismus, die auf Löwentatzen und Greifenklauen stehen – wie einst schon in der Renaissance. Die bauchigen Barockkommoden haben deutlich einen Leib, der sich in den Raum wölbt. Und sogar die Badewannen haben Tatzen. Wenn der südamerikanische Maler Ignacio Iturria einem dicken Sofa einen Rüssel malt, wird deutlich, dass die weichen Polster von Sesseln Fleisch imitieren. Schwellende Polster mit dem Messer aufzuschlitzen oder mit dem Säbel, wie es die Marodeure zu Revolutions- und Kriegszeiten taten, hat etwas Stellvertretendes. Gemeint sind die Bäuche der abwesenden Besitzer. Zu Sesseln haben wir ein besonders intimes Verhältnis, weil sie mit Beinen, Armlehnen und Rücken den menschlichen Körper im Groben nachbilden, an den sie sich anschmiegen, wenn man auf ihnen sitzt. Künstler haben den Armstuhl oft als Symbol für den Menschen selber benutzt.
Doch die gewaltigen „Zylinderbureaus“, fürstliche Schreibsekretäre zum Ende des 18. Jahrhunderts, stehen nicht mehr auf geschwungenen Beinen, sondern auf steifen Säulen. Wie bereits früher bei den großen „Frankfurter Schränken“ dient im Klassizismus als Vorbild die Architektur. Die Schreibtische haben nun den Charakter von Schlössern mit mehreren Etagen und Balustraden und Geheimkammern. Wenn man im 20. Jahrhundert sich auch des tierischen Ursprungs der Möbel nicht mehr erinnerte, so verzichtete man doch keineswegs auf die Beine: sogar schwere Schränke stehen auf Stümpfen, die in funktionaler Hinsicht ganz überflüssig sind. Das hat allein ästhetische Gründe, denn die Möbel verlieren an Schwere, wenn man sie vom Boden wenigstens ein wenig abhebt.
Es gibt Sessel, die auf kurzen verchromten Vierkantrohren stehen, sodass man die Vorstellung hat, die Sitze schwebten. Die scheinbare Schwerelosigkeit schwerer Möbel, das hat etwas von der Überwindung der Schwerkraft und daher etwas Erhebendes – ästhetisch betrachtet. Die Anmutung von Leichtigkeit, die durch Beine erreicht wird, betont – gegenüber festen Einbauten wie Sitzecken, die sich mit der Architektur verbinden – die Beweglichkeit der Möbel, das heißt genau das, was sie eigentlich zu Möbeln macht. Dass man sie hier und dorthin stellen könnte, gibt guten Möbeln eine Eigenheit, ja fast ein Stück Individualität, die eingebaute Betten und Schränke nicht haben können. Die gehören zum Haus und betonen mit der Unverrückbarkeit die Sesshaftigkeit.
Das Sitzen auf dem Stuhl ist im Grunde ein Reiten. Man sitzt hoch zu Ross, denn der Stuhl ist so etwas wie ein Pferd. Der junge Goethe pflegte in seinem Weimarer Gartenhaus, in dem er mit seiner Christiane schmuste, beim Dichten auf einem Stuhl zu sitzen, der wie ein Pferdesattel gearbeitet war. Er nahm den Stuhl zwischen die Beine. Grundsätzlich drückt das Obensein Herrschaft aus über das, was unten drunter ist. So ist das Reiten auch Beherrschung der Natur, und das Sitzen auf dem Stuhl erinnert daran. Viele Kirchenkanzeln und Säulen basieren auf brüllenden Löwen, die Symbole der überwundenen, doch immer noch mächtigen Natur. Aus Afrika kennt man geschnitzte hölzerne Sitze aus Tier- oder Menschenrücken. Die Häuptlinge thronten buchstäblich auf ihren Untertanen, die ja darum früher auch „Untersassen“ hießen, also die, welche unten sitzen. Der Stuhl ist wie der Thron ein Mittel zur Erhöhung des Individuums. Vom hochbeinigen Stuhl hat man eine Übersicht und wird auch selber gesehen.
Die hohen Stühle der abendländischen Kultur haben letztlich mit dem unglaublichen Schmutz zu tun, der überall auf dem Boden lag. Das verächtlichste Tier ist bekanntlich die beinlose Schlange, weil sie durch den Schmutz kriecht – sie gilt als ein Tier des Teufels. Die Vorstellungen, die wir soziologisch mit „hoch“ und „niedrig“ verbinden, beziehen sich ursprünglich auf den Schmutz. Der Bettler, in der sozialen Hierarchie der niedrigste, sitzt direkt im Schmutz und keinesfalls auf einem Stühlchen, was er ja könnte, denn das würde den Eindruck der sozialen Niedrigkeit zunichte machen, dessen er bedarf, um authentisch zu rühren. Dazu hält er den Blick zu Boden gerichtet, er blickt dem barmherzigen Passanten nicht ins Auge, als sei er ihm ebenbürtig, sondern er blickt in den Dreck. Die Verbeugung und den „Diener machen“ sind Ergebenheitsgesten, deren Bedeutung darin liegt, dass man sich dem Schmutz nähert, wenn man den Kopf senkt. Das Kriechen und das Kriecherische ist uns zuwider, denn es entspricht nicht der abendländischen Vorstellung von Menschenwürde. Uns vom Boden zu erhöhen, das ist ein wesentlicher Aspekt des Stuhles, dieses Nachfahren des Pferdes.

(Faecal disposal)

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Ewiges Bedürfnis
Über Essen wird viel geschrieben, über Kacken nicht. Moment mal – kacken? Ja, denn das ist ein durchaus seriöser Ausdruck, abgeleitet von griechisch „kakos“ (schlecht). Eine Kulturgeschichte der Fäkalienentsorgung

Essen und Kacken sind zwei polare Körperfunktionen eines jeden Organismus. Auch die mittelalterlichen Städte wurden als Organismen aufgefasst. Auf Plänen sehen sie oft Mikroben ähnlich, sie haben einen Mund, in den die Güter, also das, was gut ist, hineingeschafft, und einen After, aus dem das, was schlecht ist, herausgeschafft wurde. Der Mund war ein großartig verziertes Stadttor, der After eine unscheinbare Öffnung in der Stadtmauer. Die Hauptstraße, sie war so etwas wie Schlund und Darm des Stadtorganismus.
Als einer der Ersten interessiert sich im achtzehnten Jahrhundert Louis-Sébastien Mercier für die Einzelheiten der Stadt. Sein „Tableau de Paris“ (deutsch: „Pariser Nahaufnahmen“) wurde 1781, kurz vor der Revolution, veröffentlicht. Den „Abtritten“ ist darin ein eigenes Kapitel gewidmet. „Drei Viertel der Latrinen sind schmutzig, entsetzlich und ekelerregend. Die Architekten verlegten ihre Röhren aufs Geratewohl; und nichts muss einen Fremden mehr verwundern, als ein Amphitheater von Latrinen zu sehen, die einen über den anderen sitzend, an die Treppen stoßend, neben den Türen, ganz nahe bei den Küchen und von überall her den widerlichsten Geruch ausströmend. Die zu engen Röhren verstopfen leicht; die Fäkalien häufen sich säulenartig an, steigen bis zum Abtrittsitz hoch, das überlastete Rohr platzt: das Haus ist überflutet. Die Kinder ängstigen sich vor diesen verseuchten Löchern; sie glauben, dort sei der Weg zur Hölle.“
Die Bemerkung über die „amphitheatralischen Anordnung“ der Latrinen erinnert daran, dass man in der Antike die Verrichtung gemeinschaftlich vornahm. Erst hatte man zusammen gespeist, dann wurde zusammen gekackt – nur die Männer natürlich. Man saß auf langen Marmorbänken, die oft ein offenes Rechteck bildeten, nebeneinander und diskutierte die Staatsgeschäfte. Ein Sklave wischte die Hintern ab. Solche Gemeinschaftslatrinen waren an Abwasserkanäle angeschlossen. Denn es gab auch schon in der Antike eine Wasserspülung, als deren mythologischer Erfinder Herkules galt. (Zu den Taten des Helden gehört es, den zum Himmel stinkenden Stall des Königs Augias auszumisten: er leitete einfach den nahen Fluss hindurch.)
Auch im Mittelalter, als die alte Wasserkultur vergessen war und die zyklopischen Aquädukte als Teufelswerk galten, war das Kacken keine private Angelegenheit – sogar noch im Barock bei Hofe des Sonnenkönigs. Louis Quartorze verkörperte nach dem Konzept des Absolutismus den Staat in persona (“L’état, c’est moi“). Folglich waren auch seine körperlichen Verrichtungen Staatsakte. Eduard Fuchs schreibt in seiner sozialkritischen Sittengeschichte: „Die alltägliche Prüfung des königlichen Nachtstuhls am französischen Hof ist ein hohes Ehrenamt für den damit Betrauten.“ Das Amt eines Herzogs. Aufgabe einer Herzogin war es, den Sohn des Königs bei der Verrichtung seiner Notdurft zu unterhalten. „Er hatte es gern, dass man ihm auf dem Kackstuhle entretenierte.“ Die Etikette bei Hofe war so streng, dass es für die Höflinge unmöglich war, sich in Gegenwart des Königs zur Bedürfnisverrichtung zurückzuziehen. Die Kleidung der Damen war entsprechend eingerichtet, dass sie – was man sonst nur von Marktfrauen kannte – sich von ihrem Platz nicht entfernen mussten. Es gab aufmerksame Diener, und hin und wieder wechselte man den Saal.
Johann Caspar Goethe, der Vater des Dichters, machte 1740 eine Reise durch Italien. Eines gefiel ihm hier gar nicht: „Selbst im Haupteingang (des Dogenpalastes in Venedig) auf der dem Kanal zugewandten Seite schämt man sich nicht, die Hosen herunterzulassen, auch wenn der Doge gerade den Palast durch die Wasserpforte betreten will.“
Auch Mercier berichtet von dieser Öffentlichkeit des Kackens: „Früher war der Tuileriengarten und der Palast unserer Könige ein allgemeiner Treffpunkt. All die Scheißer reihten sich hinter einer Taxushecke auf und erleichterten sich dort.“ Von mehreren Familiengemeinsam, wenn auch nicht mehr öffentlich, wurden die auf dem Treppenabsatz der Mietskasernen installierten Aborte bis weit ins 20. Jahrhundert benutzt. Für eine Stadt gab es zwei Möglichkeiten, sich zu entleeren. Die eine bestand darin, die Fäkalien mit Karren hinauszuschaffen, die andere, den Transport dem Fluss zu überlassen.
In Paris wurden beide Verfahren angewandt. Die Ausscheidungen wurden in Fäkalgruben gesammelt. „Sie bedeckten das Umland der Hauptstadt bis auf eine halbe Meile.“ Der Gestank reichte bis zu den Boulevards, auf denen die Bürger spazieren gingen, um frische Luft zu schnappen. Oder – wie Mercier bemerkt: „Die Kloakenentleerer schütten auch, um sich die Mühe des Transports vor die Stadt zu sparen, die Fäkalien im Morgengrauen in die Abflussgräben und Rinnsteine. Diese entsetzliche Brühe ergießt sich nun die Straßen entlang auf die Seine zu und verseucht das Ufer, wo die Wasserträger morgens mit ihren Eimern das Wasser schöpfen.“
Der Fluss schaffte also die Ausscheidungen aus der Stadt. Es ist das noch heute überwiegend angewandte Verfahren. Freilich werden die Abwässer nun durch raffinierte Kläranlagen geleitet, ehe sie den Fluss erreichen.
Die Öffentlichkeit der Verrichtung, die biologisch doch so fundamental ist wie Essen, Sichfortplanzen, Gebären, Schlafen und Sterben, finden wir heute abstoßend. Die Angelegenheit als intim zu betrachten, verdanken wir der Schamhaftigkeit, die uns die Kirche anerzogen hat, für die der Unterleib generell tabu war und ist.
Erst im neunzehnten Jahrhundert, im bürgerlichen Zeitalter, das sich besonders im viktorianischen England durch eine kaum vorstellbare Prüderie auszeichnet, wird die Entleerung des Körpers entschieden isoliert. Der Ort, der zunächst rein sachlich „Abtritt“ oder „Abort“ genannt wurde, womit zum einen ein Weggehen, zum anderen ein abgelegener Ort gemeint ist, erhält erst mit dem Ausdruck „Klosett“ (engl.: closed) seine Abgeschlossenheit. Das „Örtchen“ (lat.: locus) war nun ein verschließbares Kabinett.
Im ländlichen Deutschland gab es das „Plumpsklo“ noch lange nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als „Scheißhaus“ auf dem Hof oder hinter dem Gemüsegarten. Ein breites, mit einem großen Loch versehenes Brett und manchmal – für die Kinder – mit einem kleinen Loch daneben. Beide Löcher hatten grobe Deckel, der Gestank aus der Grube war grauenhaft, und es wimmelte von Fliegen. Das im neunzehnten Jahrhundert in England wieder erfundene Wasserklosett – verschleiernd als WC bezeichnet – zeigte sich allen anderen Versuchen, der Exkremente Herr zu werden – darunter das Feuerklosett, das skandinavische Luftklosett und andere Konstruktionen auf Basis von Chemikalien –, weit überlegen, da die Engländer bereits ein hoch entwickeltes Wasserleitungsnetz besaßen und eine Kanalisation, während man sich auf dem Kontinent noch immer mit Senkgruben behalf.
Das Wasserklosett ist darum zunächst eine wirklich urbane Einrichtung. Sie bringt eine Lösung der Probleme, die mit der großstadtbedingten Massenhaftigkeit verbunden sind. In Frankreich, sogar in Paris, findet man in einfacheren Restaurants noch immer jene cabinets, die dazu nötigen, die Notdurft in der Hocke zu verrichten, was effektiver, aber unbequemer ist als der angelsächsische Thron: Der wird von manchen als derart gemütlich empfunden, dass sie dort Zeitung lesen, ein Privatvergnügen, das in Frankreich nicht möglich ist: Ein derber Wasserschwall treibt jeden schnell wieder nach draußen.
Auf dem Land war das anders. Als Johann Wolfgang von Goethe auf seiner Italienreise einmal den Hausknecht des Albergo nach einer gewissen Gelegenheit fragte, deutete der in den Hof hinunter und meinte: „Dappertutto!“ (überall). In Anatolien gab es den Brauch, sich den Hintern mit einem flachen Stein abzukratzen, den man von einem pyramidenförmigen Haufen nahm und nach Gebrauch umgedreht zu einer Pyramide aufschichtete: die durch die Sonnenglut gesäuberten Steine konnten nun wieder von der anderen Seite benutzt werden.
Öffentliche Toiletten, für Mercier noch eine Utopie, sind heute eine Selbstverständlichkeit. Der Ausdruck „Toilette“ – eine Verkleinerungsform von französisch toile (Tuch) – verweist auf ein Kabinett, in dem man sich die Hände waschen, in den Spiegel blicken und die Frisur richten konnte. Er verhüllt den eigentlichen Zweck der Einrichtung. Die alte deutsche Bezeichnung „Pissanstalt“ ist dagegen unmissverständlich.
Die großstädtische Einrichtung ist die Konsequenz aus üblen Erfahrungen. Nach dem Prinzip „Not kennt kein Gebot“ pflegten Männer ihre Notdurft gewöhnlich ohne Rücksicht in der Öffentlichkeit zu verrichten. Besonders die Hauseingänge der Adelspaläste ermunterten das Volk. In Frankreich führte das zur Errichtung von vespasiennes für die kleine Notdurft – offener, überdachter Pissoirs mit einer Sichtblende: Oben sah man die Hüte, unten die Beine der Männer.
Und die Frauen? Sehr einfach: ehrbare (das heißt die bürgerlichen) Frauen hatten noch im späten neunzehnten Jahrhundert ohne Begleitung auf der Straße nichts zu suchen. Ihre „angeborene Schamhaftigkeit“ ließ sie in heikle Situationen gar nicht erst kommen. Den merkwürdigen Namen hat das französische Pissoir von dem römischen Kaiser Vespasian, der durch seine Sparsamkeit berühmt wurde. Von ihm stammt der Ausspruch „Pecunia non olet“ (Geld stinkt nicht), eine Antwort an jene, die seine Urinsteuer anrüchig fanden. Denn der Kaiser hatte Pissoirs eingerichtet und pro Verrichtung einen Obolus für die Staatskasse verlangt, die er gründlich saniert hat.
Giacomo Casanova fand die Stadt London im Jahre 1763 zwar sauber und die meisten Einrichtungen vorbildlich – aber dass die Männer auf die Straße pinkelten, störte ihn. „Sie wenden sich der Straßenmitte zu und pissen dorthin. Aber wer im Wagen vorüberfährt, sieht es.“ Eben! Es war eine derbe Geste der Verachtung für die in ihren Equipagen vorbeirollenden Adligen.

(The feet)

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Von Kopf bis Fuß (4): Die Füße
Freiheit am unteren Ende

Ein Bauer geht anders als ein Flaneur. Auch der Gang – nicht nur die Handschrift – drückt etwas über den Charakter und die seelische Befindlichkeit eines Menschen aus. Hände und Füße bewegen sich zunächst individuell und werden darum bald domestiziert. Um sie sozialer Disziplin zu unterwerfen, wurden in der Schule die Hände einst zum Schönschreiben abgerichtet, und auf dem Kasernenhof zog man den Rekruten „die Hammelbeine lang“ – ihr Gang wurde im Gleichschritt standardisiert.
Der aufmerksame Beobachter kann auch heute an wehrpflichtigen jungen Männern den antrainierten Schritt bemerken. Von den Tieren unterscheiden wir uns u. a. durch den aufrechten Gang. Vom Homo erectus wird daher erwartet, dass er seine Besonderheit pflegt. „Brust raus!“ war in der alten Erziehung eine stereotype Forderung, und wer sie nicht herausstreckte, dem schob man einen Spazierstock unter die Achseln.
Warum das? Das Kriechen und Bücken empfinden wir als „Unterhundigkeit“, weshalb wir stets bemüht sind, uns möglichst weit über den Boden zu erheben. Was etwa auch den Zylinderhut erklärt. Schon der gebeugte Rücken bedeutet eine Nähe zum vierfüßigen Gang, zum Tier und zum Schmutz. Darum wird Gehorsam in „Bücklingen“ und „Dienern“ zelebriert. Schon das zustimmende Neigen des Kopfes ist eine Unterwerfungsgeste, und der Kotau im alten China, bei welchem der Bittsteller kriechend seine Stirn gegen den Boden schlug, war ein Extrem, das auf Abendländer abstoßend wirkte. Korsett und Kürass der Offiziere verhalfen auch denen zu aufrechter Haltung, die es ohne Stütze nicht schafften.
Die Haltung und – mit ihr verbunden – der soziale Status des Herrn und der Dame hängt nun aber weitgehend von den Füßen ab. Solange sie wie kleine Leibnizkekse aussehen, werden sie mit Küsschen bedeckt, bald aber als die vom Kopf am weitesten entfernten (Extremitäten!) und dazu untersten Körperteile in Schuhe gestopft und dort vergessen, bis sie zu riechen beginnen. Jemandem die Füße ins Gesicht zu strecken ist ein Zeichen der Verachtung, besonders ausgeprägt in der amerikanischen Manier, die Füße auf den Schreibtisch zu legen und dabei den Hut aufzubehalten. Endgültige Unterjochung wurde im Altertum dadurch ausgedrückt, dass der Sieger dem Besiegten den Fuß auf den Nacken stellte.
Die Füße unserer Großeltern sahen furchtbar aus. Sie waren ausgetreten und über und über mit Hühneraugen besät – gerade die Füße der Frauen. Denn sie wurden zwar nicht mehr wie im alten China zu „Lilienfüßchen“ bandagiert, so doch in Schuhe gezwungen, die auf die Beschaffenheit des Fußes keinerlei Rücksicht nahmen. Die hohen Absätze – als zoccoli ursprünglich eine venezianische Erfindung gegen den Straßenschmutz der Lagunenstadt – waren im Pariser Rokoko des Louis-quinze so hoch geworden, dass die Hofdamen, wie Casanova berichtet, – körperlich völlig disproportioniert – eher nach vorne fielen, als dass sie gingen. Die Unbehilflichkeit der Dame war die Voraussetzung für die Kavaliersleistungen des Herrn. Das schlichte Implikat ist der Herrschaftsanspruch, den Frauen das Weglaufen unmöglich zu machen, d. h. die Bewegungsfreiheit zu beschränken, welche ja die Freiheit der Freiheiten ist. Bloße Füße sind darum ein Symbol der Freiheit.
Die Lernfähigkeit und Behändigkeit unserer Füße ist enorm. Sie vermögen nicht nur tanzend über das Parkett zu wirbeln wie jene von Fred Astaire, sondern können notfalls auch lernen, ein Auto steuern oder zu schreiben. Nicht umsonst heißen die Zehen im Italienischen „Fußfinger“. Schmerzende Füße dagegen können das soziale Auftreten gründlich zunichte machen. Die – buchstäblich basale – Bedeutung des Fußes wird durch entsprechendes Schuhwerk unterstrichen, sogar die Schuhgröße hatte einst soziale Bedeutung: die Redensart „jemand lebt auf großem Fuß“ hat den realen Hintergrund, dass die Schnabelschuhe eines Fürsten 2 1/2 Fuß, die eines Barons 2 Fuß und die eines Ritters 1 Fuß maßen. Verkehrte man mit jemandem auf gleichem Fuß, stand man auf der gleichen Gesellschaftsstufe.
Darüber hinaus ist der „Fuß“ – länger als „Elle“ und „Handbreit“ – die einzige vom menschlichen Körper abgeleitete Maßeinheit geblieben, welche den Anspruch, der Mensch sei das Maß aller Dinge, gegenüber den objektiven Maßen (Meter, KW etc.) tapfer aufrechterhält.

(The tongue)

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Von Kopf bis Fuß (3): Die Zunge
Von Wörtern und anderen Bissen

Dass wir unsere Zunge sowohl zum Schmecken wie zum Sprechen benutzen, ist eine große Merkwürdigkeit unserer körperlichen Konstitution. Die Zunge ist zudem der einzige Körperteil, der buchstäblich aus der Haut fahren kann: Sie allein kann die Oberfläche – die Haut, welche die leibliche Identität des Ichs umschließt – durchbrechen.
Eine gemeinsame Dimension unserer Sinne ist die Distanz, aus der ein Gegenstand wahrgenommen wird. Der Geschmackssinn ist unter den Sinnen der intimste, da wir das von Auge, Ohr, Nase und Händen in der Entfernung und draußen geprüfte Ding vertrauensvoll in unseren Körper einlassen, um es erst drinnen zu schmecken, wenn es ganz uns gehört. Die Zunge gilt als zum inneren Körper gehörig, auch weil sie rot ist. Sie wird als intimer Körperteil betrachtet. Ihr Charakter ist zwiespältig. Denn sie wälzt nicht nur Essbares, sondern auch Worte. Man spricht darum von „Ländern deutscher Zunge“, und „lingua“ (ital.), „lengua“ (span) und „langue“ (franz.) bedeuten beides: Zunge und Sprache.
Die Zunge hat damit einerseits eine sehr materielle und andererseits eine ideelle Aufgabe. Tut sie aber beides zugleich, gilt das als anstößig. Während des Kauens zu sprechen findet man unanständig, denn das Kauen ist der Anfang des Verdauungsvorgangs, dessen Ende verrufen ist. „Sprich nicht mit vollem Mund!“ ist eine mütterliche Ermahnung, die jeder kennt und beherzigen sollte. Darum ist es geboten, stets mit fest geschlossenem Mund zu kauen, wie es die wirklichen Damen tun, die in ihren Mund, damit er nicht sperrt oder sich die Backen ausbeulen, immer nur kleine Bissen stecken – eben „ein bisschen“.
Wie hübsch ist doch die Redewendung: „Ich habe es auf der Zunge.“ Man kann sich dabei ein kleines schlaues Wort vorstellen, das auf der Zungenspitze steht wie auf einem Sprungbrett und dann übers Gemüse springt.
Doch gibt es zwei Möglichkeiten, die diskrepanten Zungenfunktionen in Harmonie zu bringen: zum einen durch die Vergeistigung des Schmeckens, zum anderen durch die Versinnlichung des Sprechens während des Essens. Die alten Römer haben das Problem gelöst, indem sie aus dem lateinischen Wort „sapere“ (für „schmecken“) das Wort „sapientia“, also Klugheit, Weisheit, bildeten. Danach muss man, um wirklich klug zu sein, die Dinge auf der Zunge gehabt, muss sie geschmeckt haben.
Im Deutschen gilt diese Vorstellung, wenigstens für ästhetische Belange, wenn man sagt, jemand habe Geschmack. Die Redewendungen „Das ist Geschmackssache“ oder „Über Geschmack lässt sich streiten“ besagen, dass der Geschmack ganz individueller Natur ist und sich nicht objektivieren lässt, wie man es unter dem Terminus des „guten Geschmacks“ immer wieder versucht hat. Zum anderen löst sich die Diskrepanz in Harmonie auf, wenn man genau über das spricht, was man isst. Der Gedanke beugt sich dann – quasi selbstreferenziell – über den Bissen. Er ist – wie beim gefährlichen Job des Vorkosters – geistesgegenwärtig dabei, das gesprochene Wort umrundet als Signifikant die Speise als sein materielles Substrat.
Schließlich gibt es noch eine dritte Art, die geistige mit der sinnlichen Seite der Zunge zu verbinden. Von Kaiser Nero wird berichtet, er habe Nachtigallenzungen verspeist in der Hoffnung, wie eine Nachtigall zu singen. Er pflegte nämlich im Theater dem Volk tagelang Arien vorzutragen. Folgt man dem kaiserlichen Aberglauben, was würde es bedeuten, weiter Kalbszunge zu essen? Eben.
Kalb oder nicht, eine abgeschnittene Zunge ist in jedem Fall ein makabrer Anblick, und erinnert an eine kürzlich im Spiegel veröffentlichte Dienstanweisung des Saddam-Regimes.

(The forehead)

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Von Kopf bis Fuß (2): Die Stirn
Berggipfel vor dem Donnerwetter

„Er hatte die Stirn zu behaupten, die Erde sei eine Scheibe!“ In der Tat leitet sich dieser Affront gegenüber der Wissenschaft vom lateinischen „frons“, also Stirn, her. Wer an der Front steht, bietet dem Feind die Stirn. Warum nicht die Nase, die doch noch weiter hervorsteht? Was die breite Stirn am Kopf, ist die breite Brust am Körper, ein Schutzschild, ein Panzer vor allem dann, wenn es vorwärts, um Fortschreiten und Fortschritt geht – sei es in der Schlacht, sei es in der Technik oder den Wissenschaften.
Engstirnigkeit ist dagegen ein Ausdruck für Borniertheit, Beschränkung: eine spezifische Form der Dummheit, die durch den verengten Horizont entsteht. Ihr entspricht die Engbrüstigkeit von Leuten, denen sich die „Brust nicht weitet“, wenn sie an die Freiheit denken. Die Kühnen werden in Kunst und Film immer mit freier Stirn dargestellt. Simpelfransen sind eine Frisur für Naive – man stelle sich nur eine Heroine wie Katherine Hepburn mit Pony vor! Wir erinnern uns, dass die Mütter den Jungen die Haare aus der Stirn strichen. Den Mädchen mochten die Locken in die Stirn fallen, denn kühn sollten sie nicht wirken.
Früher noch als Lavater, der in der Goethe-Zeit berühmt war, weil er den Charakter des Menschen an Schädelform und Profil glaubte bestimmen zu können, galt eine hohe Stirn als Merkmal des Geistes. Goethe, Wagner und andere Größen besaßen eine solche und trugen sie stolz. Was spielt sich auf der hohen Denkerstirn nicht alles ab! Sie ist mal umwölkt – eine Eigenschaft, die sonst nur Berggipfeln zukommt. Natürlich resultiert solch düsterer Ausdruck aus dem Zusammenspiel mit Augenbrauen und Augen. Erstere werden grimmig zusammengezogen oder – highbrow – gehoben; Letztere konnten blitzen. Dann folgte das Donnerwetter. Auch von zorngeschwellter Stirn kann man lesen. Mancher Patriarch besaß eine Ader auf der Stirn und musste darum nicht erst abwarten, bis ihm der Kragen platzte, damit seine Leute begriffen, was er von ihnen hielt. Redet man von einer gramdurchfurchten Stirn, so scheint das Leben auf der Stirn buchstäblich geackert zu haben.
Die Stirn ist beredt, denn es lässt sich nach einer Redensart etwas von ihr ablesen, wenn etwa die Bosheit jemandem auf der Stirn geschrieben steht – wie das biblische Kainsmal. Eine reine Stirn wurde besonders den Jungfrauen angedichtet, eine Stirn, die weder umwölkt noch durchfurcht, düster oder zorngeschwellt war, eben weil die Jungfrau weder zu grübeln, sich zu grämen oder zu zürnen, sondern nur abzuwarten hatte. Doch eine steile Falte auf der Stirn durfte sie auch nicht haben, da sie als Zeichen eines jähen Willens galt.
Der Hut verkörpert seit ältesten Zeiten wenn nicht männliche Würde, so doch wenigstens Männlichkeit. Wenn Robert Mitchum sich den Hut mit dem Zeigefinger aus der Stirn schob, signalisierte das ein Abwarten – die Situation war noch offen. Die Geste ist wohl ein ironisches, unfertiges Lüften des Hutes. Zog Humphrey Bogart sich den Hut in die Stirn, war die Entscheidung gefallen, das Visier geschlossen. Das Hutspiel ist in amerikanischen Filmen der 30er- bis 50er-Jahre ein ebenso häufiges Ritual wie das Zigarettenanzünden und Telefonieren.
Die Stirn ist der Schutzschild des Kopfes, der Steuerungszentrale. Daher jagt der Selbstmörder sich die Kugel nicht durch die eherne Stirn, sondern durch die weiche Schläfe, nämlich jene Seite des Kopfes, auf der man gewöhnlich schläft. Sich an die Stirn zu tippen ist eine altmodische Art, jemandem anzuzeigen, dass jedes Wort zu viel ist, um auszudrücken, wie doof man ihn findet. Die Geste weist darauf hin, dass hinter der Stirn gewöhnlich das Hirn ansässig ist, nur eben in diesem Fall nicht. Bietet man jemandem die Stirn, trotzt man dieser Person – wie gesagt, ein Affront.
Obwohl wir den Kopf drehen können, ist die Stirn immer vorn. Die Stirn ist wesentlich ein durch Kampf und Widerstand definierter Teil unseres Körpers, dem die Hörner fehlen. Das belegen gewisse Schlägermethoden: In einer Art Frontalzusammenstoß nach Art der Steinböcke schlägt man dem Gegner mit der Stirn die Nase blutig.

(Jean Dubuffet)

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Der Allesmischer

Als Weinhändler war Jean Dubuffet stets gut sortiert, als Künstler hingegen ließ er nur das Durcheinander gelten. Auf den Spuren eines Großmeisters der modernen Kunst

„Dann werde ich Künstler. Dann stelle ich im Salon aus. Und dann begräbt man mich im Panthéon. Und dann verkauft man meine Zeichnungen für zehn Millionen. Und dann bin ich berühmt für die ganze Ewigkeit“, schrieb der Sechzehnjährige ironisch an einen Schulfreund. Nun, Künstler ist er schließlich geworden, nachdem er zweimal aufgegeben hatte und wieder Weinhändler geworden war wie sein Vater. Im „Salon“ hat er nicht ausgestellt, denn diese uralte staatliche Institution, die noch Manet von der Teilnahme ausgeschlossen hatte, existierte nicht mehr. Die erste Einzelausstellung hatte er in der Galerie René Drouin an der Place Vendôme. Seine Strichmännchen machten einen derartigen Skandal, dass sie von der Polizei bewacht werden mussten.

Das war im Jahr 1944, und der am 31. Juli 1901 in Le Havre geborene Jean Dubuffet war schon nicht mehr der Jüngste. Wer die steinerne Wendeltreppe in die Krypta des Panthéon hinabsteigt, wird in der kühlen Gruft, in welcher die unsterblichen Franzosen ruhen, rechts von Jean-Jacques Rousseau und links von Voltaire empfangen. Auch Soufflot, der Architekt des Panthéon, liegt hier begraben. Aber Dubuffet? Keine Spur. Während die beiden Denker der Aufklärung und vehementen Kritiker des Feudalismus zu den geistigen Vätern der Französischen Republik zählen, hat Dubuffet zeitlebens alles getan, um sich dem Zugriff der etablierten Normen- und Denksysteme sowie den mit dem Staat verflochtenen Kulturapparaten zu entziehen.

„Typisch für die Kultur ist“, schrieb er in einem seiner brillanten Essays, „dass sie die Schmetterlinge nicht fliegen lassen kann. Sie ruht nicht eher, als bis sie aufgespießt und etikettiert sind. Das ursprüngliche, massenhafte Gewimmel, der fruchtbare Humus, auf dem tausend Blumen wachsen können, wird von der Kulturpropaganda nicht gepflegt.“ „Aufspießen“, damit meinte er das Registrieren, Analysieren, Klassifizieren, Hierarchisieren, Evaluieren, das Zuschnappen der kulturellen Begriffs- und Wertsysteme.

„Ich bin eher für das Durcheinander“, schrieb er. Warum? Eben weil für ihn „die unterschiedliche, horizontal ausgebreitete Vielfalt unterschiedlicher Dinge“ das Leben selber ausmachte. In der ihm eigenen luziden und anmutigen Ausdrucksweise schrieb er einmal, man dürfe „den Wind nicht vom Baum trennen“. Von Anfang an versuchte er in seiner Kunst, die herrschenden Begriffssysteme zu unterlaufen, welche die Welt analytisch auseinander reißen und in Kategorien ordnen, nach denen dies gut und jenes schlecht, dies schön, jenes hässlich, dies normal, jenes anormal ist.

Dubuffet wollte subversiv, wollte Outsider bleiben, und das so sehr, dass er es sogar ablehnte, seine Werke zwischen die der „Berufskünstler“ (J. D.) zu hängen. Ehrungen lehnte er ab. Zu Vernissagen erschien er nicht. Was nun aber die „zehn Millionen“ anlangt: Heute dürften – anders, als der junge Dubuffet es sich vorstellte – seine Werke ein Vielfaches wert sein. Und „berühmt“, was schließlich das betrifft, so sind wenigstens Dubuffets Arbeiten aus der Werkphase der L’Hourloupe (1962 bis 1974), jene puzzleartigen, zellularen Zusammenhänge, die sich unverwechselbar auf Bildern und Wänden, als Skulpturen, als Architektur und schließlich sogar als Theater wie ein fremder Kosmos ausbreiten, ebenso weltbekannt wie Giacomettis fadendünne Menschen.

Mit der großen Retrospektive zu seinem hundertsten Geburtstag wurde Jean Dubuffet vor zwei Jahren im Centre Pompidou als einer der Heroen der modernen Kunst Europas gefeiert, der fraglos neben Giacometti und Picasso rangiert. Sein fünf Meter hohes Konterfei hing in allen Pariser Métrostationen, die groß genug dafür waren.

Obwohl oder weil man seine Arbeiten verhöhnte, war er bald berühmt geworden. Documenta, MoMA, Guggenheim, Biennale: Alle Kunsttempel haben ihn ausgestellt. Hat er es dann doch genossen, dass seine Werke „vom kulturellen Magen verdaut“ (J. D.) wurden? Mme Armande Ponge de Trentinian lacht: „Dass er schließlich geschätzt wurde, hat er wohl auch genossen.“ Die langjährige Direktorin der Fondation Jean Dubuffet ist die engste (sie sagt: très proche) Mitarbeiterin des Künstlers gewesen. Sie hatte schon zuvor sein Sekretariat organisiert.

„Ja“, meint sie, als ich sie in ihrer mit Dubuffets voll gehängten Wohnung in Paris besuche, „ein Sekretariat, das war für einen Künstler damals schon außergewöhnlich.“ Dubuffet, der „Vertreter der Unordnung“ (J. D.) in der Kunst, der die ästhetischen Prinzipien durch Mischungen der abenteuerlichsten Materialien konterkarierte, hielt im bürgerlichen Leben und bei der Organisation seiner Projekte auf strikte Ordnung.

Als ich die neuen Pariser Papierkörbe sehe, durchsichtige grüne Plastikbeutel mit der Aufschrift „vigilance propreté“ (Sauberkeitsüberwachung) in einem Gestell, fällt mir der Film ein: Jean Dubuffet verlässt in Hut und Mantel – er war immer höchst seriös gekleidet – sein Haus in Vence bei Nizza und lüftet den Deckel einer Mülltonne. Wie selbstverständlich kramt er darin herum und dann lässt er – flutsch – etwas in die Tasche seines Trenchcoats gleiten. Er hatte etwas für eine Assemblage gefunden, diese Methode, ein „Durcheinander“ herzustellen.

Kurt Wyss, Dubuffets Fotograf, in dessen Atelier ich viele Fotos aus den Katalogen wiedererkenne, sagt mir in Basel: „Er war auch ein hervorragender Manager.“ Ein Manager? Als Dubuffet in den Siebzigerjahren das Großprojekt „L’Hourloupe“ schuf – seine „Villa Falbala“, eine Welt aus weißen, schwarz umrandeten Puzzles, in der man herumgeht und bald die Orientierung verliert, und „Coucou Bazar“, ein totales L’Hourloupe-Theater, bei dem sich die in riesige hourloupeske Kostüme gekleideten Tänzer von den Kulissen nur dadurch unterscheiden, dass sie sich bewegen –, da beschäftigte er mehrere Technikerteams, oft mehr als zwanzig Mann.

Humanistisch gebildet, gutbürgerlicher Herkunft, erfolgreicher Weingroßhändler, der in der Okkupationszeit mit Geschick gutes Geld gemacht hatte, besaß er einen Sinn für effektive Organisation. Gemessen an Chaoten wie Giacometti, der mit Bruder Diego in einem Loch lebte, verstand es Jean Dubuffet, seine Arbeit zu organisieren. Wie auch sein Leben.

In der Rue Lhomond, wo der Künstler von 1935 bis 1944 wohnte und arbeitete, sehe ich zum Atelierfenster hinauf. Dort muss es gewesen sein, dass er Le Corbusier ein Bild schenkte, weil er das Verkaufen für unanständig hielt. Obwohl der Künstler schließlich wohlhabend wurde, war er – wie mir Mme de Trentinian sagte – doch immer darauf bedacht, dass die Preise erschwinglich blieben. „Er wollte“, sagt sie, „dass seine Arbeit überall und allen bekannt würde.“ So gründete er eine Stiftung („Fondation“), die über tausende von Werken verfügt, welche auch nach seinem Tode unabhängig vom kommerziellen Kunstbetrieb gezeigt und ausgestellt werden.

Er wohnte in Nummer 34 und arbeitete in Nummer 35. Die alten, kleinstädtisch wirkenden Häuser stehen einander dicht gegenüber. Um zur geliebten Lili zu kommen, brauchte er nur über die Straße zu springen. Bei Mme de Trentinian sehe ich ein frühes Bild von ihr. War es ein glückliches Verhältnis? „Ja, sehr!“, lächelt Madame. Lili sieht vergnügt aus. Es scheint mir nicht unschicklich, sich der frechen erotischen Zeichnungen „Conjugaison“ (1949) zu erinnern, so anmutig, weil beide Partner großes Vergnügen haben und (im Unterschied etwa zu Picasso) jede Gewalt fehlt.

Ich mache mich auf zur Rue de Vaugirard 114[bis], wo Dubuffet die längste Zeit wohnte und 1985 gestorben ist. Da lassen gerade zwei blutjunge Polizisten ihre superschnellen Fahrräder auf dem Hinterrad hüpfen, ohne runterzufallen. Kurz nach diesem Rodeo treffe ich auf einen Geschäftsmann aus dem Viertel, der sich an Dubuffet erinnert: „Ein großer Künstler, ein großer Mann!“ Er sagt mir, dass die Ateliers im hinteren Haus heute nicht mehr existieren. Und wie war das da? „Nach dem Krieg war es so kalt, dass Dubuffet in die Sahara ging.“ Und sich für die Spuren im Wüstensand begeisterte.

Der Künstler hatte nicht nur hier ein Atelier, sondern auch eins in Vence, eins in Le Touquet, und er mietete in der Banlieue von Paris immer wieder riesige Hallen für seine Großprojekte an, darunter auch in der Cartoucherie im Park von Vincennes. Um zu sehen, wo er für „Coucou Bazar“ geprobt hat, bin ich dorthin gefahren. Man nimmt die Métrolinie 1, diesen wunderbaren, nicht in Waggons abgeteilten Zug, der eine 250 Meter lange Durchsicht erlaubt. Ein ferner Musettewalzer kommt immer näher, aber in den Kurven wird er leiser und in sehr engen Kurven bricht er ganz ab. Und endlich materialisiert er sich als ein junger Ziehharmonika spielender Russe.

In der Cartoucherie (in der einst Granaten gefüllt wurden) residieren jetzt mehrere Theater, darunter das „Théâtre de soleil“. Die kostümierten Theaterleute sind freundlich. Ein Bär erlaubt mir einen Blick hinter die Bühne.

Die „Fondation Jean Dubuffet“ versteckt sich in der Rue de Sèvres 137 hinter Jasmin- und Rosensträuchern in einer Art Gartenhaus. Im Entrée liegen unter einem Großfoto des Künstlers 38 Kataloge. Ausgestellt in einer Vitrine sind auch die kleinen elektrischen Glühdrahtwerkzeuge, mit denen er Polyester schnitt. Schade, die jetzige Direktorin, Mme Webel, macht verlängertes Wochenende. Später, am Telefon, sagt sie: „Aber nein, Monsieur, um Dubuffet persönlich zu kennen, bin ich zu jung.“

Hier war zuvor die Collection de l’Art Brut untergebracht, die unangepassten Werke devianter Autodidakten, oft Anstalts- und Gefängnisinsassen, für die Dubuffet sich interessierte, weil er ihre Arbeiten als noch nicht durch die gesellschaftlichen Normen kontaminiert ansah. Der Künstler hat die Sammlung später der Stadt Lausanne geschenkt, wo man nun im Château Beaulieu in der Tat die unglaublichsten Werke sehen kann. Die augenblickliche Ausstellung in der Fondation Jean Dubuffet zeigt eine Übersicht seiner verschiedenen Werkphasen, die erkennen lassen, worauf es Dubuffet immer ankam: den Zusammenhang von allem und jedem. „Kakaismus!“, hatte die Kritik geheult, als er Dreck und Ölfarbe mischte.

Dubuffets geistiger Ansatz ist heute darum so aktuell, weil er – lange bevor „Durchmischung“ in Soziologie und Architektur zum geflügelten Wort wurde – gegen das uralte, unheilvolle Denkmodell der Reinheit (Homogenität) die Heterogenität („das chaotische Gewimmel“) ins Feld führte, das heißt das Leben selbst gegen die Herrschaft des analytischen Geistes.

Was aber gibt es nun in Paris von Dubuffets Werken zu sehen? Im Centre Pompidou den Wintergarten („Jardin d’hiver“), ein Stück aus der L’Hourloupe-Welt. Leider ist die Sammlung, die Dubuffet dem Musée d’arts décoratifs in der Rue de Rivoli geschenkt hat, für längere Zeit unzugänglich. Dort wird momentan renoviert. So gehe ich durch die Gärten der Tuilerien und finde auf einem kleinen eingehegten Rasenstück neben dem Eingang zum Jeu de Paume an der Place de la Concorde die fuchtelnde Figur „Bel costumé“ aus dem L’Hourloupe-Zyklus. Ein ehrenvoller Platz – fünfzig Meter weiter stehen drei große Skulpturen von Rodin.

Ich frage eine Dame, die gerade vorbeigeht, ob ihr die Skulptur gefällt. „Ein bisschen zu modern für meinen Geschmack“, meint sie. „Ich bin mehr für das Klassische.“ – „Kennen Sie den Künstler vielleicht, Madame?“, frage ich. „Aber nein“, wehrt sie höflich ab, ganz sicher, dass Dubuffet nichts für sie ist. Anders gesagt: Jean Dubuffet ist selbst heute noch nicht allgemein konsumierbar.

(The skin)

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Von Kopf bis Fuß (1): Die Haut
Da kommt keiner raus

Sieht man von Schnecken, Würmern, Grottenolmen und ekelhaften Nackthunden ab, sind wir die einzigen Lebewesen, die von bloßer Haut umschlossen sind. Die Verletzlichkeit hält uns unsere Oberfläche stets bewusst. Sie erscheint uns als Grenze unserer Identität und gibt uns ein klares Bewusstsein einer Außenwelt. Daher finden wir es höchst unangenehm, wenn uns jemand „auf die Pelle rückt.“
Für uns ist die Haut die empfindliche Scheide zwischen innen und außen und mitverantwortlich dafür, dass wir die sinnliche Unterscheidung von Ich und Welt treffen, die mit der geistigen Konstituierung von Subjekt und Objekt einhergeht. Die Haut verhüllt das Innere des Körpers, nicht nur die Organe, sondern auch die Seele. Von da entsteht die Vorstellung der Enthüllung, das heißt einer verdeckten Wahrheit, die erst durch ihre Entdeckung ans Tageslicht gefördert wird: etwa eine Krankheit durch das Öffnen des Körpers.
Das Sezieren des menschlichen Körpers war lange verboten, weil die Kirche nicht zuließ, dass die gottgegebene Ganzheit des Menschen durchbrochen wurde. In dem berühmten Sezierraum der medizinischen Fakultät von Padua war der Seziertisch drehbar eingerichtet, sodass die herein stürzenden päpstlichen Büttel anstelle des vermuteten menschlichen Leichnams einen toten Hund auf dem Tisch vorfanden.
Die Häutung ist mit der Vorstellung eines Identitätswechsels verbunden, der seinen furchtbarsten Ausdruck in dem Mythos von der Schindung des Marsyas gefunden hat. Weil der animalische Satyr den Gott Apoll im Musizieren herausgefordert hat, lässt dieser ihm die Haut abziehen. Der Mythos gilt als Symbol schmerzhafter Läuterung, als Abstreifen des Sinnlichen. Aber die Schindung war auch in Wirklichkeit eine Strafe, besonders furchtbar darum, weil sie dem Verurteilten nicht nur das Leben, sondern auch seine Identität nahm.
Wenn ein Mensch vor Wut aus der Haut fährt, gerät er „außer sich“, ist er nicht mehr er selbst. In der Anatomie hießen die Körperöffnungen „Leibespforten“, die nicht nur Ausgang, sondern auch Eingang sind. Aber auch die Farbe der Haut hat größte soziale Bedeutung: Rassen werden nach der Hautfarbe unterschieden, was in den Wissenschaften heute als ideologisches Konstrukt kritisiert wird, weil eine derartige Unterscheidung allein nach dem Kriterium der Oberfläche abgelehnt wird. Sie ist buchstäblich oberflächlich.
Die gängige Interpretation der Haut unterliegt allerdings Veränderungen: Weiße Haut galt in müßigen Feudal-gesellschaften als edel, heute indiziert Bräune dagegen Gesundheit, gutes Aussehen Wohlhabenheit. Um diesen Eindruck zu erzielen, gibt es inzwischen an jeder Ecke Bräunungsstudios.
Falten wiederum zeigen das Altern an. Darum wird die Haut geliftet. Lesbarkeit wurde der Haut in gewissem Umfang schon immer zugeschrieben, etwa wenn Erröten als Scham und Erbleichen als Erschrecken interpretiert wird. Muttermale wurden früher als Resultat eines Fehltritts der Mutter angesehen. Und der römische Legionär zeigte stolz seine Narben auf der Brust. Auf dem Rücken eine Narbe zu haben, galt als Beweis der Feigheit. Da die Haut als Ausdruck des Inneren galt, lag es nahe, sie zu maskieren. Heute wird die Haut durch Tätowierung für soziale Botschaften funktionalisiert: Das war und ist gewöhnlich eher die Aufgabe der „zweiten Haut“, so wie wir aufgrund unserer Nacktheit gezwungen sind, Kleidung zu tragen. Sie kann nicht nur unseren Sozialstatus signalisieren, sondern erotisierende Entblößungen ermöglichen. Doch sind die Zeiten, da die entblößte Fessel eines Damenbeins die Männer um den Verstand brachte, endgültig vorbei.
Dass die Haut erotisch hochsensibel sein kann, wusste man schon in der Antike, als Gott Zephir den einsamen Frauen zärtlich den bloßen Busen fächelte. Garstige und unzufriedene Denker wiederum behaupteten, die Haut sei ein Sack und ein Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gebe. Aus dem des Hirns aber auch nicht.

(The Easter bunny)

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Alle Macht den Hasomanen
Als Fest der Fruchtbarkeit wird Ostern mit Eiern und Schokoladenhasen gefeiert. Joseph Beuys zog bei seinen Ritualen im Kunstbetrieb dagegen Gold vor: 1982 schmolz er auf der documenta VII eine Kopie der Krone von Iwan dem Schrecklichen in einen Hasen um – als Symbol für Frieden und Volkskunst

An Ostern feiert die Christenheit die Auferstehung Jesu. Ostern ist der Sieg des Lebens über den Tod. Es ist das christliche Frühlingsfest, das die Kirche den vorchristlichen Frühlingsfesten anzupassen wusste. Der Hase, besonders der Märzhase, galt dabei schon im Mittelalter als Symbol der verrücktesten Geylheit, weil er im März nichts im Kopf hat als zu „rammeln“. „Mad like a marchhare“, sagt man in England. Man nannte das „Hasigkeit“.
Den Hasen liebte Joseph Beuys als Symbol so sehr, dass er sich selber einen Hasen nannte und den Hasen sogar als Kühlerfigur auf seinen Bentley setzte. Für ihn, der eine Partei der Tiere gegründet hat, zu deren Mitgliedern außer den Hasen und Elefanten auch Engel gehörten, war der Hase – ganz österlich – das Symbol der Umwandlung und des Neubeginns. Gleichwohl war sich Beuys der Fruchtbarkeitssymbolik, die den Hasen zum Osterhasen macht, sehr wohl bewusst.
Am 30. Juni 1982 kam es während der documenta VII in Kassel zu einer höchst spektakulären Aktion. Helmut Mattner, der Besitzer des Düsseldorfer Nobelrestaurants „Datscha“, hatte sich 1961 von dem Juwelier René Kern eine Nachbildung der Zarenkrone Iwans des Schrecklichen aus dem 16. Jahrhundert anfertigen lassen: als Trinkgefäß für erlesene Gäste. Es wurde daraus zuzeiten Krimsekt getrunken. Dazu hatte sich der Edelkneipier eigens die Genehmigung von Nikita Chruschtschow besorgt.
Beuys war es gelungen, in nächtelangen Gesprächen Mattner zu bewegen, dass er ihm die 1.850 Gramm Gold schwere, mit 76 Perlen und vielen Edelsteinen besetzte Krone – zu einem unbekannten Preis – überließ. An dem besagten Junitag erschien der Künstler mit seinem Assistenten Johannes Stüttgen auf dem Kasseler Friedrichsplatz. Er packte die Krone aus einer Plastiktüte und hielt sie mit den Worten in die Höhe: „Es wird also jetzt die Krone Iwans des Schrecklichen eingeschmolzen. Ich zeige sie euch noch mal!“
Während Beuys dann eigenhändig begann, auf dem überdachten Holzpodest die Edelsteine mit einer Nagelschere aus der Krone zu polken, ließen die Kasseler Bürger, die bereits eine Unterschriftensammlung zur Rettung der falschen Zarenkrone gemacht hatten, Protestrufe hören, einige warfen zudem auch mit Eiern.
Ungerührt schraubte Beuys das Kreuz von der Kronenspitze und tat es mit den Edelsteinen in ein Einmachglas. Dann zerlegte er die Goldschale in sechs Teile, rollte sie trichterförmig zusammen, schlug sie mit einem Hammer platt und steckte sie in einen aus Ziegelsteinen gemauerten Ofen. Während das Gold erhitzt wurde, rief Beuys durch ein Megaphon: „Agrippa von Nettesheim! Paracelsus! Athanasius Kircher!“ die Namen der großen Alchemisten und zeigte unterdessen das Einmachglas hoch erhoben herum. Als das Gold geschmolzen war, wurde es in eine Form gegossen.
Nach einer kleinen Weile präsentierte Beuys dem Publikum einen kleinen goldenen Hasen, der wie einer der Schokoladenhasen aussah, wie man sie vor Ostern überall kaufen kann. Der so genannte „Friedenshase“ befindet sich heute als Dauerleihgabe in der Neuen Staatsgalerie Stuttgart – eingemauert hinter Panzerglas. In einem Interview bemerkte Beuys zu der Hasenform, dass sie ja nicht von ihm erfunden sei – er habe lediglich einen „anonymen Osterhasen“ gegossen, das sei sozusagen „Volkskunst“.
Um was es dabei ging, ist klar. Beuys hatte in einem quasi alchimistischen Prozess das Symbol der Macht in ein Symbol der Fruchtbarkeit und des Friedens verwandelt. Plastiktüte, Nagelschere und Einmachglas sind dabei keineswegs zufällige Requisiten: Sie besagen in aller Respektlosigkeit, dass die Umwandlung mit gewöhnlichen Haushaltsmitteln möglich ist. In Verbindung mit der Bemerkung „Volkskunst“ heißt das etwa, dass das Volk zur Umwandlung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse in friedliche und fruchtbare Verhältnisse keiner besonderen Mittel bedürfte.
Ähnlich wie die Auferstehung Jesu – als Sieg des Lebens über den Tod – zugleich den Frühling ankündigt, kündigte Beuys, der die Bibel gut kannte, eine neue Zeit dadurch an, dass er die tote, verkrustete Macht symbolisch in Frieden und Fruchtbarkeit verwandelte, worunter er Kreativität verstand. Bekanntlich hat er ja gesagt, jeder Mensch sei ein Künstler. Beuys glaubte daran, dass in jedem Menschen große schöpferische Kräfte schlummern, an deren Entfaltung ihn die versteinerten gesellschaftlichen Verhältnisse hinderten. Er, der heute als der größte deutsche Künstler jener Zeit gilt, zählte alle, die guten Willens sind, zu den „Hasomanen“. In diesem Sinne also, liebe Hasomanen: „Es lebe der Osterhase!“

(The mosquito)

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Aus einem Vampirleben
Die Mücke will immer nur das eine und wartet im Dunkeln auf die passende Gelegenheit. Dann senkt sie ihren Stechrüssel in die zartesten Stellen des Körpers: Der zivilisierte Europäer vergisst sich – und geht auf Mückenjagd

Die Fliege erscheint uns tölpelhaft, weil sie mit dem Kopf gegen die Scheibe rennt, schmutzig, weil sie wahrscheinlich gerade wo gesessen hat, und naiv, wenn sie mit ihresgleichen Nachlauf um die Lampe spielt. Trotzdem tut man ungern einer Fliege was zu Leide, seitdem die Wissenschaft festgestellt hat, dass die Anzahl der Gene bei Mensch und Fliege so unterschiedlich gar nicht ist.
Die Mücke ist anders. Sie will immer nur das eine und erwartet die passende Gelegenheit im Dunkeln. Sie sucht sich bestimmte zarte Stellen des Körpers aus, in die sie ihren Stechrüssel senkt. Der Puls am inneren Handgelenk. Die Knöchel. Ja, auch mitten ins Gesicht. Ihr zielstrebiger Charakter erscheint uns darum finster und hinterhältig. Das nervende Sirren des Nachts, das sich kreisend nähert, die plötzliche Stille mit dem Verdacht, dass sie schon irgendwo saugt, verscheucht den Schlaf nachhaltig. Und wie beschämend dann, sich selbst aufs Ohr gehauen zu haben, wo man den Angreifer – fälschlich – vermutet hat.
Unerwünschtes Eindringen in den eigenen Körper wird als aggressiver Akt empfunden. Die Mücke überschreitet eine Grenze, wenn sie die Haut durchbohrt. Diese Penetration ist etwas anderes als der ehrliche Biss eines Krokodils, das brutal und dumm nach allem schnappt, was sich bewegt. Die vampiristische Culex pipiens will Blut, den Lebenssaft. Blut, Mark und Herz gelten als Sinnbilder der inneren Identität – des Kerns – was Redewendungen belegen: jemand wird bis aufs Blut gepiesackt, einem anderen das Mark aus den Knochen gesogen und wieder einem anderen schießt man ins Herz.
Die Haut empfinden wir als Begrenzung unseres Ich. Daher werden wir empfindlich, wenn uns einer „zu nahe tritt“. Der Hass auf die Mücke sitzt darum tief. Daran ändert auch der Film „Mikrokosmos“ nichts, der die Geburt einer zarten Mücke aus dem Sumpf zeigt, so schön, so voller natürlichem Pathos, dass man an die Geburt von Botticellis schaumgeborener Venus denken muss.
Ein zivilisierter Europäer wird jedenfalls selten den Kampf zwischen Mensch und Tier suchen – außer bei der Mückenjagd. Etwa in einem Hotel in Pisa, an dessen vier Meter hohen Zimmerdecken die Arno-Stecher warten. Dort sind sie auch von einem Stuhl aus nicht erreichbar. Man muss das Kopfkissen flach an die Decke werfen. Das ergibt mitunter eine Strecke von drei Mücken pro Wurf, aber Flecken auf dem Kopfkissen. Für den Hausgebrauch empfiehlt sich dagegen eine andere Liquidationsmethode, die zwar weniger befriedigend, dafür aber sauber ist. Sitzt der Feind morgens volltrunken an der Wand, startet man den Staubsauger.
Inzwischen gibt es übrigens einen kleinen elektrischen Apparat, den man in die Steckdose drückt. Er erzeugt einen sehr hohen, für uns kaum hörbaren Ton. Schon Thiervater Brehm bemerkte: „Beim Klange der Note a soll eine Zuckung einen ganzen Mückenschwarm durchbeben.“ A oder nicht a, die Mücken halten sich jedenfalls die Ohren zu. Sie zittern und zucken unter dem paralysierenden Ton und taumeln auf einknickenden Beinen zu ihren Sümpfen zurück, hoffnungslos den blutleeren Rüssel schlenkernd.