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(Museum for Sepulchral Culture Kassel) Die Bestattung als Event

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Published in: Neue Züricher Zeitung


 
Eine Designausstellung in Kassel

Nicht nur die «documenta» findet in Kassel statt. Die Stadt kann auch mit bedeutenden Museen aufwarten, darunter – als einziges seiner Art – das Museum für Sepulkralkultur. Diese merkwürdige Institution, die sich mit der Trauerkultur aus aller Welt befasst, hat immer wieder mit spektakulären Ausstellungen Aufmerksamkeit erregt. Erinnert sei an die Schau mit Särgen aus Ghana (1999) und an Ausstellungen mit Titeln wie «Last minute» (2000) oder «Schluss mit lustig» (2004). So kommt dem Museum das Verdienst zu, den Tod als Teil des Lebens wieder ins Bewusstsein zu rücken. Derzeit präsentiert das Museum unter dem leicht frivolen Motto «Dernier Cri» Bestattungszubehör, welches von 72 europäischen Designern entworfen wurde. Dabei wird das Konzept, an die Allgegenwart des Todes zu erinnern, wie wir es von Memento-mori-Darstellungen her kennen, nach einem «dual use»- Prinzip sehr drastisch umgesetzt: Zu sehen sind Bücherregale, eine lederbezogene Bank, ein Schreibtisch und ein rustikaler Schrank, die sich alle im Nu in Särge verwandeln lassen. Wohl kaum einer wird allen Ernstes auf dem eigenen Sarg am Computer sitzen, es sei denn ein Freund der Grufti-Szene. Doppelt verwendbar sind auch viele der ausgestellten Urnen – einige als Blumentopf, andere als Sektkübel. «Dernier Cri» nimmt bewusst Bezug auf die Mode und entspricht damit dem Trend zur exzessiven Selbstinszenierung, die sogar aus der Bestattung einen Event machen kann. Direktor Reiner Sörries und Kurator Gerold Eppler sehen das Museum als Vermittlungsinstanz und wollen die «abgeriegelte, selbstgenügsame Pietätsbranche» ansprechen, um die Trauerkultur zeitgemässer zu machen. Deshalb finden sich neben albernen oder prätentiösen Gestaltungen (Urne als Rakete) auch Entwürfe mit einer klaren Symbolik: etwa ein Sarg in der Form eines Samenkorns, das an das Werden und Vergehen erinnert (von Gisbert Baarmann). Wie schwierig es ist, unser Ende fasslich zu machen, kann diese anregende Ausstellung zeigen.

Burkhard Brunn Bis 18. Juni 2006 im Museum für Sepulkralkultur, Kassel.

Lucania is everywhere

Realism as the elaboration of a hidden reality.
To the 100th birthday of the painter and social romanticist Carlo Levi
 
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Published in: Frankfurter Rundschau


 
Realismus als Herausarbeitung einer verborgenen Wirklichkeit
Zum 100. Geburtstag des Malers und Sozialromantikers Carlo Levi

Mit gefesselten Händen kam er in Aliano an, einem abgelegenen Flecken in der Mondlandschaft Lukaniens. So steht es auf der ersten Seite seines in 37 Sprachen übersetzten Buches Christus kam nur bis Eboli, für das Jean Paul Sartre ein Vorwort geschrieben hatte.
Der Verbannte, der zeitlebens für Freiheit und Autonomie gestritten hat, war einer der Köpfe der antifaschistischen Untergrundorganisation Giustizia e Libertà. Der riesige Erfolg seines bewegenden Berichts über die archaischen Verhältnisse im Mezzogiorno, die er während seiner Konfinierung im Jahre 1935 erlebt und 1944 beschrieben hat, machte Carlo Levi nach dem Krieg derart berühmt, dass er seine Tätigkeit als Maler völlig verdunkelte. Als bedeutender Maler des Realismus ist der 1975 gestorbene Carlo Levi, der am 29. November einhundert Jahre alt wäre, in Deutschland nahezu unbekannt, obwohl er allein fünf mal auf der Kunst-Biennale von Venedig vertreten war. Geboren und aufgewachsen in einer bürgerlichen, gleichwohl sozialistisch eingestellten Familie in Turin, hatte Levi sich schon als Schüler gegen den Faschismus engagiert, der in Turin, dem industriellen und intellektuellen Zentrum Italiens in den 20er und 30er Jahren, schon vor den Sondergesetzen von 1926 Militanz zeigte.
Unabhängiger Senator
Viele der verratenen und inhaftierten Turiner Verschwörer waren jüdischer Herkunft, darunter Natalia Ginzburgs Mann Leone, ihr Bruder und ihr Vater, bei dem Carlo Levi als angehender Arzt Anatomie studiert hatte. Die damalige faschistische Presse schrieb von einem „jüdischen Komplott.“ Als kritischer Publizist, der 1958 das geteilte Deutschland bereiste, war Levi für die mit dem Wiederaufbau beschäftigten Deutschen wenig willkommen.
Besonders passte er als sozial engagierter realistischer Maler – neben Renato Guttuso der bedeutendste Italiens – nicht ins westliche Nachkriegsdeutschland. Denn der Realismus galt als eine durch die völkische Nazi-Malerei diskreditierte und längst überholte Position, da doch die ungegenständliche Malerei sich endlich durchgesetzt und Westdeutschland kulturell den Anschluss an die internationale Entwicklung gefunden hatte.
Der Realismus blieb der DDR überlassen, die ihn als Sozialistischen Realismus – mit der berüchtigten Widerspiegelungstheorie hinterfüttert – zum Dogma erhob. Levi sympathisierte mit der PCI immerhin so sehr, dass er sich – wie auch andere Intellektuelle von Rang – als unabhängiger Senator aufstellen ließ. Pia Vivarelli, die Präsidentin der Fondazione Carlo Levi, bezeichnet das politische Engagement als Kern von Levis malerischer Tätigkeit.
In der Auseinandersetzung zwischen den gegenständlichen und den ungegenständlichen Malern, die in Italien nach dem Kriege mit Leidenschaft ausgetragen wurde, polemisierte Levi gegen den „astrattism“, dem er Feigheit vor dem Leben vorwarf. „Abstrakt“ war für ihn der Ausdruck einer Schizophrenie der Moderne, nämlich des Auseinandertretens von Denken und Alltagswirklichkeit – einer Entfremdung. „In jenen Jahren,“ sagt Pia Vivarelli, „entschieden sich politisch engagierte Autoren natürlich für eine realistische Malerei. Das bedeutete auch die Entscheidung für Inhalte sozialer Art.“
Die Wiedererkennbarkeit, die natürliche, leicht nachvollziehbare Beziehung zwischen Kunst und sichtbarer Wirklichkeit, ist von je her die Basis politischer Kunst gewesen, die sich nicht an Eliten, sondern an alle richtet – wie einst für die mittelalterlichen Analphabeten die Darstellungen des Jüngsten Gerichts im Dom. Politisch sei Levis Malerei, sagt Vivarelli, „weil er sie nicht als Flucht, nicht als Augenschmaus verstanden hat, sondern immer als Werkzeug, um die äußere Realität bewusst zu machen.“
“Bewusst machen?“ Dazu erzählt Levi, dass, als er am Ort seiner Verbannung, von einem Haufen Kinder umgeben, einmal ein Bild malte, ein Bauer gekommen sei, das Bild genommen, es zu seinem Haus getragen und es draußen an die Hausmauer gehängt habe. „Sie erkannten auf dem Bild den nackten Hügel im Hintergrund, auf dem sie ein Leben lang gehackt hatten. Diese Orte hatten nun endlich einen Namen, eine existentielle Sicherheit, eine Form: sie waren zum ersten Mal real. In ihren Mienen stand das seltene Glück der Entdeckung, sowohl von sich selber wie von der Welt.“ So geschehen im Jahre 1935.
Der politische Künstler ist hier weder Aufklärer noch Agitator, aber er öffnet den in Selbstverständlichkeiten des Alltags ganz versunkenen Menschen die Augen. Er schafft ihnen die Möglichkeit, die Wirklichkeit neu und anders zu sehen. Realismus ist für Levi ausdrücklich keine Widerspiegelung des Gegebenen, sondern ganz im Gegenteil das Herausarbeiten einer noch ungeäußerten, verborgenen Realität, ein Ausdruck des Entstehenden. Sein Stil zeichnet sich durch flüssige Formen aus, als entsprächen sie einem bewegten, magmaartigen, vorzeitlichen Chaos. Ein Rezensent sprach vom „Brodeln des Werdens“.
Levi hat viele berühmte Leute porträtiert, darunter Leone Ginzburg, Anna Magnani, Italo Calvino, Frank Lloyd Wright, Pablo Neruda, der ihn eine Eule nannte, weil er bis in die Dämmerung weiter zu malen pflegte, wobei er – die „toscano“ zwischen den Zähnen – die Modelle in lange Gespräche verwickelte, die sie aus dem Status eine Objekts erlösten und den Porträts große Lebendigkeit verleihen.
Oft gleichen die mit breitem Pinsel und starken Farben gemalten Gesichter Landschaften – das andere große Thema des Malers, der in den 30er Jahren in Paris zwischen den Künstlern vom Montparnasse gelebt hatte.
In seinem Atelier in Rom wimmelte es in den 50er Jahren von Besuchern aus Lukanien, zwischen den Malmitteln sah man Öl, Wein und Käse. Seit seiner Verbannung trat Levi in Reportagen, als Kolumnist der Stampa und Parlamentarier für „seine“ armen Bauern ein, die ihn in Aliano als Wohltäter verehren. Levi erhoffte sich eine Erneuerung der Gesellschaft durch eine Bauernerhebung – als Fortsetzung der Resistenza, in der sich Intelligenz und Bauern näher gekommen waren.
Anhänger Rousseaus
Alberto Moravia hat Pasolini, weil er an das Gute sogar der kriminellen Subproletarier glaubte, als Anhänger Rousseaus bezeichnet. Gilt das auch für seinen von der Unverderbtheit der Bauern überzeugten Freund Levi? Zuletzt malte er Bäume: „Ich bin so veranlagt, dass ich alles Loslösen schmerzlich empfinde,“ schrieb er.
Die durch die sozialen Verhältnisse erzwungene Entwurzelung der armen Bauern und ihre Emigration prangerte Levi als das größte denkbare Unrecht an. Was immer man im Zeitalter der Globalisierung von seiner Position halten mag, Levis Ausspruch „Lukanien ist überall“ mit Bezug auf die so genannte Dritte Welt bleibt bedenkenswert.
Das Jüdische Museum in Frankfurt wird dem Maler voraussichtlich im Januar nächsten Jahres die erste größere Ausstellung in Deutschland ausrichten.

Salvatore A. Sanna

In German weather
Salvatore Sanna and his enthusiasm for the project to bring together German and Italian culture

 
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Published in: Frankfurter Rundschau


 

Im deutschen Wetter
Salvatore Sanna und seine Begeisterung für das Projekt, deutsche und italienische Kultur zusammen zu bringen

"Was willst du deutsch lernen, sagte mein Vater zu mir." Das war 1954. In Sardinien musste man damals nicht wissen, dass "deutsch" eine Zukunft hat. Salvatore Sanna spricht das Deutsche ohne Akzent. 1958, als man Italiener bei uns noch nicht mochte, versuchte er, mit einem Jahresstipendium der sardischen Regierung in Köln zu studieren. "Es war so kalt," sagt er, "dass ich mit Mantel und Mütze geschlafen habe." Deutsches Wetter eben. Dann vertrat er einen Sizilianer an der Berlitz-School. So wurde er zufällig Lehrer.
Das Klischee verlangt, dass Italiener Restaurants, Delikatessenläden und Modegeschäfte betreiben, aber dass sie erfolgreiche Intellektuelle sind, und das im Ausland, erwartet man nicht. Erfolgreich ist Sanna, weil er es verstanden hat, seine vielseitigen Interessen zu bündeln und finanziell zu fundieren. Im Jahre 1966 hat er mit seiner (verstorbenen) Freundin Trude Müller die Deutsch-Italienische Vereinigung gegründet, mit 4000 Mark, die er für seinen Ford bekommen hat.
Der Verein, der heute über 5oo Mitglieder und 16 Mitarbeiter zählt, lässt sich durchaus mit einem Goethe-Institut vergleichen, nur dass Italien dafür keine Lira locker machen muss. Es ist eine reine Privatinitiative, denn Sanna schätzt seine Unabhängigkeit.
Das Programm bietet Sprachkurse, Vorträge und eine Galerie – die Westendgalerie –, die vornehmlich italienische Künstler zeigt, darunter Größen wie Fontana, Dorazzio, Morandi, Vedova, Melotti, deren Werke auch in Sannas winzigen, mit Büchern und Katalogen vollgestellten Büro zu sehen sind.
Die hübsche kleine Villa in der Arndtstraße hat der Verein 1974 von der italophilen Eigentümerin kaufen können, nachdem Bundesbankpräsident Blessings Vize, der Sozialdemokrat Heinrich Tröger, nach einem Galeriebesuch einen Kredit vermittelte. Auch Glück, gewiss. "Wenn man Begeisterung hat, hat man auch Glück," sagt Sanna. Und von nirgendwo Unterstützung? Doch, von der Stadt Frankfurt, 3 400 Mark im Jahr. Im Jahr!
Gleichwohl sagt Sanna Gutes über die Stadt: "Frankfurt ist, verglichen mit anderen Städten, Ausländern gegenüber großzügiger. Neulich bin ich noch um 18 Uhr wählen gegangen. Die haben sich gefreut: ein Ausländer!" Und: "Die Art, wie man hier lebt, sprach mich an."
Außer den Verein hat Sanna die Zeitschrift Italienisch mitgegründet, die seit 1979 erscheint, zuletzt mit der Nr. 44. Sie ist – mit Ausnahme von Zibaldone – hier die einzige wissenschaftliche Zeitschrift über italienische Literatur. Außerdem war Sanna, der über die politische Satire Heinrich Heines in Cagliari promoviert hat, von 1962 bis 1998 Lektor und dann Studienrat im Hochschuldienst für Italienische Sprache und Literatur an der Frankfurter Universität. Nachdem er auf die Verfassung geschworen hatte, wurde er deutscher Beamter.
Und die Studentenunruhen? Einmal fanden zwei Studentinnen seine Lyrikvorlesungen unpolitisch und elitär. Sanna trickste sie aus: "Wissen Sie, wer der größte Lyriker ist? Mao Tse Tung."
Und endlich ist er außerdem ein Poet, 1996 ausgezeichnet mit dem Premio Pannunzio – mit einer Laudatio von Luigi Malerba. Er hat fünf zweisprachige Gedichtbände veröffentlicht. Der gemeinsame Nenner all dieser Aktivitäten ist für ihn "das Bestreben, die italienische und deutsche Kultur zusammen zu bringen, die einander ergänzen".
Nachdem er vor dem drohenden Militärdienst 1961 den Carabinieri entwischt und nach Deutschland "emigriert" war, hat er sich zunächst als Sprachlehrer und Übersetzer von Werbetexten durchgeschlagen. Seine Distinguiertheit hielt ihn nicht ab, auch für die IG Metall zu arbeiten, an Notizie, der Zeitung für italienische Arbeitnehmer. Er hat auch die Gewerkschaftssatzung übersetzt. Alle Aktivitäten des zart, aber fest wirkenden Mannes basieren auf der Sprache, die er beherrscht, die er liebt und mit deren Ambiguitäten er spielt, als Dichter. Wenn man Brücken zwischen den Kulturen schlagen will, welches Medium eignet sich dazu besser?
Und die Message? Sanna zögert nicht: "Sich für etwas begeistern". Der Mann ist 67 und er hat Feuer! Aber er sorgt sich. Wie soll er für den Posten eines – ehrenamtlichen – Geschäftsführers ("Ich kriege nichts") einen Nachfolger finden, bei einem Acht-Stunden-Tag? Wenn Salvatore Sanna einmal aufhört, wird dann alles zusammenfallen, was er aufgebaut hat?

Frankfurter Rundschau vom 25.04.2001, S. 28, Ausgabe: R Region

Schnecken Sex

Snail Sex

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Mach mir die Schnecke
Zeit für neue Vorbilder: Bei der Weinbergschnecke geht es drunter und drüber, drauf – und das mit Muße

Kürzlich brach Medientheoretiker Peter Weibel eine Lanze für den Cybersex. Masturbierende Monaden, das hält er nicht nur für unausweichlich, sondern für wünschenswert. "Pornofilme gucken oder sich vorm Internet einen runterholen", ist für Kultautor Michel Houellebecq der Normalfall des neuen Jahrhunderts. "Wir möchten einander von ferne nahe sein, darin sehen Avantgardisten die Beziehungsform der Zukunft", schreibt Anette Meyhöfer im SpiegeL Lust? Hat man dabei Lust? Meyhöfer spricht von "prothetischem Sex, bei dem sich Erektionen und Orgasmen künstlich herstellen lassen."
Alles cool und clean. Hat das feuchte Modell Casanova also ausgedient? Keineswegs. Es lebt fort und fort und wird uns für bessere Zeiten Vorbild sein. Allerdings: Es ist die Schnecke, welche die Utopie wach hält.
Die Weinbergschnecke (helix pomatia) hatte Tiervater Brehm 1878 noch zu den "niederen Thieren" gerechnet: "Ein Thier, mehr Bauch als Kopf, mühsam auf platter Sohle kriechend." Damit stand sie in der Hierarchie der Lebewesen mit Muschelwächter, Schamkrabbe, Bärenkrebs, Küstenhüpfer, Wunderauge, Walfischlaus, Kiemenfuß, Rüsselrädchen, Spritzwurm, Pfriemenschwanz, Wasserkalb, Doppelloch, Dreimund Grubenkopf und anderen auf einer Stufe.
Heute nun, in der Postpostmoderne, haben wir eine Sprachregelung gefunden, welche die Diskriminierung vermeidet. Wir sagen: Die Weinbergschnecke ist nicht ein "niederes Tier", sondern ein "anderes Wesen". Brehm hatte sich gegenüber der Weinbergschnecke bis zur politischen Diskriminierung verstiegen, wenn er von Schnecken mit linksgewundenem Gehäuse behauptete, dass diese "von Geburt an alle verkehrt gewunden waren, alle links, Revolutionisten vom Eie an". "Ein böses Spiel mit Vorurteilen" nannten die französischen Biologen Claude Nuridsany und Marie Perennou, deren sensationeller Film Mikrokosmos 1996 mit Starrding Ovations gefeiert wurde, solch herablassende, homo-zentrische Eingruppierung. Und dies nicht nur aus prinzipiellen Gründen, denn die Schnecken bewahren uns die Utopie einer sexJ eilen Vereinigung, bei der man so nah beieinander ist wie irgend möglich.

(Peter Roehr)

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Published in: taz - die Tageszeitung


 

Die Anarchie der Wiederholung

Als in den 60ern alles poppig wurde, zog der Frankfurter Künstler Peter Roehr die Monotonie industrieller Objekte und Abbildungen vor. 1968 starb er mit 24. Jetzt werden Arbeiten aus der Sammlung Paul Maenz in Weimar gezeigt
Die Registriertaste so lange drücken, bis die Papierrolle alle ist: 11111111111111111111usw. Das war 1962 die erste der seriellen Arbeiten des Frankfurter Künstlers. „Monotonie ist schön“, sagte er zu einer Freundin, die ihn in ihrem futuristischen Citroën DS über die niederländischen Polder chauffierte. Als das Leben aufregender und vielfältiger war als je in der Nachkriegszeit, freuten sich die beiden an den eintönig vorbeigleitenden Vertikalen der Telegrafenmasten und den endlosen Horizontalen der flachen, menschenleeren Landschaft.
Peter Roehr hatte zu Lebzeiten nur ein paar Ausstellungen. Erst nach seinem frühen Tode im Jahr 1968, gerade 24 Jahre alt, wurde er als einer der bedeutendsten Künstler nach dem Kriege anerkannt. Harald Szeemann zeigte ihn 1972 auf der legendären documenta 5, Rudi Fuchs 1977 in der Kunsthalle Tübingen und Jean-Christophe Ammann 1991 im MMK Frankfurt. Nun ist Roehr im Neuen Museum Weimar mit 72 zum Teil unbekannten Werken aus der Dauerleihgabe Paul Maenz zu sehen – von den frühen Arbeiten unter dem Eindruck der Zero-Künstler über Filmmontagen bis zu seinem Hauptwerk, den „Schwarzen Tafeln“, die mit einer seriellen Bodenarbeit von Carl Andréund Sol LeWitts „First Modular Structure“ eindrucksvoll konfrontiert sind.
Keiner sonst hat das Prinzip der Reihung unterschiedslos gleicher Elemente zum einzigen Thema seiner Arbeit gemacht. Warhols serielle Marilyns etwa leben von der Differenzierung. Als der Mao-Look schick war (eine Milliarde gleicher Chinesen!) und den Künstlern daran lag, nicht mehr am Rande der Gesellschaft als entfaltete Subjekte zu posieren, sondern mitten im Leben zu arbeiten, entdeckten sie die Welt der industriell produzierten Konsumartikel und die Massenmedien als objektive Voraussetzung ihrer Arbeit. Deren Serialität richtete sich gegen die damals vorherrschende gestische Malerei, gegen subjektive Gewichtungen der Komposition überhaupt und affirmierte dabei ganz bewusst Gleichheit, Massenhaftigkeit und Wiederholung – die Standardisierungen der Warenwelt. Denn viele Künstler – auch Roehr – bewunderten die Technik, deren Leistungen die von einzelnen Individuen so augenfällig zu übersteigen scienen.
Massenproduktion und Massenkonsum waren in jenen Jahren Bezugspunkte der Avantgarde. Roehr hatte mit seinen Montagen ein standardisiertes Verfahren gefunden, das subjektive Eingriffe des Künstlers soweit wie irgend möglich ausschließt. Er montierte identische, industriell produzierte Objekte, Kaufhausartikel oder Fotos, reihenweise hinter- und untereinander zu rechteckigen, tendenziell quadratischen Tafeln. Das Material, industrielle Readymades, bleibt gänzlich unverändert und bringt dadurch den Alltag pur in die Kunst. Leere Milchdosen holte sich Roehr, der arm war, von den Verkäuferinnen der Stehcafés und Fotos von den Frankfurter Werbeagenturen.
Die einzigen Entscheidungen, die er als Künstler noch traf, waren die über Art und Anzahl der Objekte. Dabei rekurriert die Auswahl eines alltäglichen Gegenstands und seine Verpflanzung in die Kunst auf den epochalen Akt Marcel Duchamps. Auch jeder andere hätte nach telefonischer Angabe dieser beiden Bestimmungen leicht einen „Roehr“ herstellen können.
Nach den vertikalen Reihungen auf der Registrierkassenrolle entschied sich Roehr für eine symmetrische Anordnung und bestimmte damit, dass die Objekte als Elemente eines Ganzen fungieren, das als Quadrat oder tendenzielles Quadrat keine horizontale oder vertikale Richtung hat. Kritischer Bezugspunkt dieser ruhigen Gleichförmigkeit ist die herkömmliche Dramatik der Komposition. Bei den Fotomontagen – meist aus Werbematerial mit starkem Zeitbezug – gehen die Fotos als Elemente mit ihresgleichen produktive Beziehungen ein. Es entstehen unkalkulierte, zum Teil verblüffende dynamische Strukturen. „Die Mitte zwischen noch erfahrbarem Gegenstand und schon selbstständiger ästhetischer Struktur wird in der Montage fixiert“, schrieb der Künstler.
Die Inhaltlichkeit des einzelnen Fotos verweist auf die kunstexterne Welt, doch kunstintern fungiert das Foto zugleich als Struktur bildend. Dieses Changieren zwischen Abbild und Strukturelement befriedigte Roehr bald nicht mehr. Die letzten Arbeiten waren identische Tafeln aus identischen schwarzen Teilen (Etiketten). Weiter konnte er nicht gehen. So gab er die Kunst auf.

Sein Name ist Hase

His name is Hase. About Symbols, Works of Art, Anarchy and Resurrection
 
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Published in: Frankfurter Rundschau


 
Über Sinnbilder, Kunstwerke, Anarchie und Auferstehung

Joseph Beuys, unter den deutschen Künstlern der große Zauberer, der Alchemist, der alles in alles verwandelte, liebte den Hasen als Symbol so sehr, dass er sich selber einen Hasen nannte und den Hasen sogar als Kühlerfigur auf seinen Bentley setzte. Für ihn, der eine Partei der Tiere gründete, zu deren Mitgliedern außer den Hasen und Elefanten auch Engel gehörten, war der Hase das Symbol der Umwandlung und des Neubeginns. Beuys war sich der Fruchtbarkeitssymbolik, welche den Hasen zum Osterhasen macht, sehr wohl bewusst. So behauptete er etwa vieldeutig, "ein toter Hase könne mehr für die Umwandlung der Gesellschaft bewirken als eine Theorie". Gemeint war die Marxsche Theorie, welche in den 60er und 70er Jahren von den Studenten auf alles und jedes angewandt wurde; Marx passte immer.

Warum Osterhase? Warum nicht Osterfuchs? Kein Witz, im Hannoverschen brachte einst der Fuchs die Eier; sie hießen Vosseier. Und in der Rhön und Thüringen der Storch, der ja die Wickelkinder bringt. Woanders der Kuckuck. In Tirol das Huhn. Weil diese Alpenbewohner unverbesserliche Realisten sind. Und was ist mit den Ostereiern? Überall in der Welt wurde das Ei als Keimzelle des Lebens erkannt: Es ist ein Fruchtbarkeitssymbol, das jeder versteht. Darum die Sitte, dass die Verliebten sich mit Eiern beschenkten. An Ostern feiert die Christenheit die Auferstehung Jesu. Der Kirchenlehrer Ephram bezieht das Ei auf die Auferstehung: "Gleich einem Ei springt das Grab auf", Ostern ist der Sieg des Lebens über den Tod. Es ist das christliche Frühlingsfest, das die Kirche den vorchristlichen Frühlingsfesten angepasst hat.
Ja, und der Hase? In England gilt der Märzhase - und Ostern fällt ja dann und wann in den März - als Inbegriff der Liebestollheit. Er ist für die Insulaner das Urbild aller Verrücktheit, weshalb sie sagen, jemand sei "mad as a marchhare". Aber auch im Deutschen hat der Hase einen kleinen Klaps. Im berühmten Wörterbuch der Gebrüder Grimm findet man unter "Hasenpfeil": "Pfeile, die zum verliebten Thoren machen", "Hasenfuszig", "hasenhaftig" und "hasierlich" bedeuten allesamt "närrisch". Im 16. Jahrhundert gab es Sprüche folgender Art: "es ist aber haserei ein solch gebrechen, der zu entspringen pflegt fürnemlich im hirn." Und: "sobald er einen trunk empfeht (empfängt), hasieret er und lacht."
Johann Friedrich von Flemming hat 1749 ein unter Kennern hoch geschätztes Buch "Der vollkommene teutsche Jäger" verfasst, in welchem er über den Hasen das Folgende zu berichten weiß - hier in der urigen Schreibweise: "Dieses wohlbekannte Thierlein hat GOTT sonderlich gesegnet, dass es sich des Jahres vielmahl vermehret, weil es sonst die vielerleyen undenklichen Nachstellungen derer Menschen, Raub-Tiere und Raub-Vögel schon längst ausgerottet hätten." (Es muss hier gesagt sein: der lepus vulgaris ist nach den neuesten Berichten inzwischen tatsächlich vom Aussterben bedroht.) Und weiter: "Wann es sein Leben lassen muss, kann es sehr kläglich schreyen und erbärmlich um Huelfe ruffen. Ist ein furchtsames trauriges Thierlein, bekommt auch zuzeiten die Pocken, ja offt von grosser Geilheit (hört! hört!) die von ihm so offte getrieben wird, wohl gar die Franzosen." Im Ernst? Die "französische Krankheit", die den armen Casanova so oft geplagt hat? "Im Frühjahr so es halbwege Wetter ist, lauffen die Hasen nach der Häsin etliche Meilweges herum, suchen die Häsin und riechen ihr nach, rammeln mit grosser Begierde, dass offt hinter einer Häsin drey bis vier Rammler lauffen... Die Häsin ist eine untreue Mutter, lässet ihre Jungen nicht über sechs Tage saugen, dann verläst sie dieselben und läufft aus grosser Geylheit (sieh an!) dem Rammler wieder nach, welcher die Jungen, wann er sie frisch findet, auffrist, damit er die Häsin wiederumb zur Geylheit brauchen möge."
Das also sind die Familienverhältnisse des Hasen. Und auch des Osterhasen! Tiervater Brehm bestätigt von Flemmings Feststellungen mit etwas dezenteren Worten: Die Häsin verlasse ihre Kinder nach wenigen Tagen "neuer Genüsse halber". Den prüden Christen des Mittelalters war der Hase das Sinnbild von Liebesgier und Laster. Goethes Christiane schrieb an ihren Liebsten: "Aus lauter Hasigkeit" möchte sie "ein Wägelchen nehmen und mit dem Bübechen zu Dir fahren." Honny soit qui mal y pense. Sagt man(n) nicht auch heute: "Ich bin verrückt nach ihr?"
Der Hase ist also wie das Ei ein Fruchtbarkeitssymbol, und zwar in vielen Kulturen. Da der Hase in allen geografischen Breiten und unter allen Klimaten lebt - oder besser lebte - und seine Hasigkeit gerade um Ostern herum in aller Öffentlichkeit am wildesten austobt, liegt es nahe, dass er irgendwann mit den Ostereiern zusammengebracht wurde. Der Osterhase mit dem Korb voller Ostereier ist ein Symbolkonzentrat. Die Fastenzeit hört auf, und alle bekommen zu Recht Frühlingsgefühle. Übrigens lebt die Hasigkeit in den Ausdrücken Ski- und Betthäschen weiter. Und die Mädchen vom Playboy sind bekanntlich keine Miezen, sondern "Bunnys": Häschen. Dass die Osterhasen sehr anmutige, durchaus erotische Tiere sind, mag ein Bild aus dem "Hasenbuch" belegen, dem berühmten von Edmund von Freyhold illustrierten und von Christian Morgenstern mit Versen versehenen Kinderbuch aus den 20er Jahren. Joseph Beuys, unter den deutschen Künstlern der große Zauberer, der Alchemist, der alles in alles verwandelte, liebte den Hasen als Symbol so sehr, dass er sich selber einen Hasen nannte und den Hasen sogar als Kühlerfigur auf seinen Bentley setzte. Für ihn, der eine Partei der Tiere gründete, zu deren Mitgliedern außer den Hasen und Elefanten auch Engel gehörten, war der Hase das Symbol der Umwandlung und des Neubeginns. Beuys war sich der Fruchtbarkeitssymbolik, welche den Hasen zum Osterhasen macht, sehr wohl bewusst. So behauptete er etwa vieldeutig, "ein toter Hase könne mehr für die Umwandlung der Gesellschaft bewirken als eine Theorie". Gemeint war die Marxsche Theorie, welche in den 60er und 70er Jahren von den Studenten auf alles und jedes angewandt wurde; Marx passte immer.
Doch auch Beuys ging es um Umwandlung der erstarrten gesellschaftlichen Verhältnisse und des in zweckrationalistischen Begriffen gefangenen Denkens. Er wollte das verschüttete kreative Potenzial freisetzen. ("Jeder Mensch ein Künstler.") Am 26. November 1965 konnte das Publikum durch ein Fenster der Düsseldorfer Galerie Schmela, deren Eingang verschlossen war, Joseph Beuys dabei zusehen, wie er einem toten Hasen die Bilder erklärte. Er kehrte dem Publikum den Rücken zu und hielt den Hasen so im Arm, dass man glaubte, der sei lebendig. Dann stand Beuys auf, ging mit dem Hasen zu den Bildern, zeigte sie ihm und ließ ihn die Bilder mit der Pfote berühren. Allein der Hase durfte die Bilder sehen, das Publikum musste draußen bleiben. Hin und wieder hielt er den Hasen zum Publikum gewendet.
Die Aktion dauerte zwei bis drei Stunden. Beuys sagte später: "Ich erklärte sie (die Bilder) ihm, weil ich sie nicht den Leuten erklären mag. Ein Hase versteht mehr als viele menschliche Wesen mit ihrem sturen Rationalismus." Im Zusammenhang mit einer anderen Hasen-Aktion ("Eurasia", 1966) sagte Beuys: "Der Hase ist das Element der Bewegung, der Aktion, die den starren Kunstbegriff ändert." Beuys sah im schnellen Hasen "ein Überbrückungszeichen durch Bewegung".
Der Künstler, Anhänger des Anthroposophen Rudolf Steiner, bemühte sich in der Zeit der Ost-West-Konfrontation, die Welt als ein Ganzes zu sehen. Wie Steiner hielt er den "Ost-Menschen" für intuitiv und der Sinnenwelt verbunden - man erinnert sich, dass der Künstler im Krieg als Flieger abgestürzt war und ihm die Tataren das Leben gerettet hatten - und den "West-Menschen" für eher intellektuell. Beuys stellte sich eine gegenseitige geistige Befruchtung vor, die auch zu einer politischen Befriedung führen sollte. Der hin und her sausende Hase, der ja keine Grenzen kennt und überall zu Hause ist, war das Symbol der Bewegung und Überbrückung und auch des Friedens. Denn der Hase gilt als ein harmloses und friedliches Tier.
Einen Hasen, der einem winzigen Schützen gegenübersitzt, nannte Beuys "Der Unbesiegbare". Der Künstler gab eine Erläuterung: "Wenn der Hase nicht so anständig wäre, würde er sogar den Aggressor überwinden können. Aber der Hase ist viel zu anständig, das zu wollen. Er will lediglich weiterleben." Hier steht der Hase für das friedliche Leben, das, so die Hoffnung des Künstlers, letztlich unbesiegbar sei. Unbesiegbar? Ja, weil der Hase so fruchtbar ist.
Am 30. Juni 1982 hatte Beuys eine Zarenkrone, das Symbol der Macht, in einen Hasen umgeschmolzen. Es war eine spektakuläre Aktion anlässlich der documenta VII. Helmut Mattner, der Besitzer des Düsseldorfer Nobelrestaurants "Datscha", hatte sich 1961 von dem Juwelier Rene Kern eine Nachbildung der Zarenkrone Iwan des Schrecklichen aus dem 16. Jahrhundert anfertigen lassen: als Trinkgefäß für erlesene Gäste. (Es wurde daraus zuzeiten Krimsekt getrunken.) Dazu hatte er sich eigens eine Genehmigung von Nikita Chruschtschow besorgt.
Beuys gelang es, Mattner dazu zu bewegen, dass er ihm die 1850 Gramm Gold schwere, mit 76 Perlen und vielen Edelsteinen besetzte Krone überließ. (Der Kneipier: "Er hat mich nächtelang bearbeitet.") Der Künstler wollte die Krone nun von einem Kasseler Juwelier einschmelzen lassen. Dieser weigerte sich jedoch aus "berufsethischen Gründen". Daraufhin holte sich Beuys seine Krone mit den Worten ab: "Dann schlage ich die Krone eben selbst mit dem Hammer kaputt." Ungeachtet einer Unterschriftensammlung Kasseler Bürger zur Rettung der Krone erschien Beuys - wie in der von Veit Loers herausgegebenen Dokumentation berichtet - an besagtem Tag mit seinem Assistenten Johannes Stüttgen auf dem Kasseler Friedrichsplatz. Er packte die Krone aus einer Plastiktüte und hielt sie mit den Worten in die Höhe: "Es geht jetzt los! Es wird also jetzt die Krone Iwans des Schrecklichen eingeschmolzen. Ich zeige sie euch noch mal!"
Während Beuys dann eigenhändig begann, auf dem überdachten Holzpodest die Edelsteine mit einer Nagelschere aus der Krone zu polken, ließen die Zuschauer Protestrufe hören und warfen mit Eiern. Ungerührt schraubte Beuys das Kreuz von der Kronenspitze und tat es mit den Steinen in ein Einmachglas. Dann zerlegte er die Goldschale in sechs Teile, rollte diese trichterförmig zusammen, schlug sie mit einem Hammer platt und steckte sie in einen aus Ziegelsteinen gemauerten Ofen. Während das Gold erhitzt wurde, rief Beuys durch ein Megaphon: "Agrippa von Nettesheim!, Paracelsus!, Athanasius Kircher!" - die Namen großer Alchemisten - und zeigte das Einmachglas herum. Als das Gold geschmolzen war, wurde es in Hasenform gegossen.
Die Umwandlung durch Wärme ist im Beuysschen plastischen Denken eine zentrale Kategorie. "Unser Denken muss wärmer werden", forderte er. Beuys präsentierte dem Publikum dann einen goldenen Hasen in der Form eines Schokoladenosterhasen, wie man ihn überall kaufen kann. Zum Ende der documenta wurde das Werk für 777 000 Mark verkauft. Der "Friedenshase" befindet sich heute als Dauerleihgabe in der Staatsgalerie Stuttgart - eingemauert hinter Panzerglas. In einem Interview bemerkte Beuys zu der Hasenform, die sei ja nicht von ihm erfunden, er habe einen "anonymen Osterhasen" gegossen, das sei sozusagen "Volkskunst".
Um was es dabei ging, ist klar: Beuys hatte in einem quasi-alchemistischen Prozess symbolisch Macht in Fruchtbarkeit und Frieden verwandelt. Plastiktüte, Nagelschere und Einmachglas sind dabei Requisiten, welche die Nichtachtung der Macht und ihre Umwandlung mit den gewöhnlichsten Haushaltsmitteln deutlich zum Ausdruck bringen und in Verbindung mit der Bemerkung "Volkskunst" etwa besagen, dass das Volk zur tatsächlichen Umwandlung der gesellschaftlichen Machtstrukturen in friedliche Verhältnisse keiner besonderen Mittel bedarf. Und die Fruchtbarkeit des Osterhasen heißt für Beuys die Lebendigkeit der von Unterdrückung befreiten Kreativität: Leben. Beuys: "Ich glaube an den Menschen." Beuys, der auch an den berühmten Fluxus-Veranstaltungen teilgenommen hat, glaubte wie viele Künstler an eine fließende Kreativität, an permanente Umwandlungsprozesse. Eine der schönsten Plastiken von Barry Flanagan ist ein Hase, der mit seinen riesigen Füßen auf einem Helm steht. Die 1988 entstandene übermannshohe Bronzefigur gehört zu einer Reihe von Riesenhasen, darunter boxende, trommelnde, tanzende, springende, turnende, mit Stock und Teleskop wandernde. Und einer grübelt vor sich hin wie der "Denker" von Rodin. Aber es gibt auch eine Hasen-Plastik, die nach dem Vorbild mittelalterlicher Domskulpturen die Tugend darstellt. Die Großbronzen sehen aus wie geknetet, was ihnen viel Spontaneität verleiht. Die Hasen haben riesig lange Ohren, die ausdrucksvoll in verschiedene Richtungen zeigen, und ihre Köpfe sind manchmal ein wenig eselig.
Der 1941 in Wales geborene Künstler, Student und dann Professor an der renommierten St. Martin's School of Art in London, hatte als Bildhauer nicht-figürlicher Objekte schon in den 60er Jahren einen guten Namen, bevor er am 10. Februar 1978 in den Hügeln von Sussex einen Hasen sah, der - wie es in einem Katalog heißt - fröhlich von Osten nach Westen sprang. Ein Buch mit dem Titel "Der springende Hase" (Evans/Thomson, ed. Faber & Faber, 1972) festigte seinen Entschluss, große Hasen zu modellieren.
Der erste Hase entstand 1979 und wurde, mit goldenem Laub bekränzt, beim ersten Mondeslicht in einer kalten Januarnacht aufgestellt. Flanagan hatte mit dem Hasen eine Figur gefunden, die es erlaubte, den Menschen auf liebenswürdige Weise zu parodieren. Denn seine Hasen sind unverkennbar anthropomorph. Alle Figuren muten archetypisch an und wie in unvordenklicher Zeit entstanden. Keiner, der hinschaut, kann sich ihrer frechen Grazie entziehen. Flanagan hat ein Symbol für die Unbezähmbarkeit kreiert, für die Freiheit. Wie könnte anarchische Freiheit unprätentiöser und anmutiger dargestellt werden als durch einen übermütig tanzenden Hasen, die Freiheit, deren künstlerische Darstellung gewöhnlich nie ohne das schwerfälligste Pathos abging? Flanagans bezaubernde Hasen stehen überall in der Welt, sehr oft in Parks.
Für Beuys war der Hase Symbol der Bewegung, der Veränderung und des Friedens, bei Flanagan symbolisiert er die kreatürliche Freiheit, zu der natürlich die nicht unterdrückte Sexualität gehört. Die Nähe beider Auffassungen ist deutlich. Flanagans Hasen haben noch viel von der "Hasigkeit", der Liebestollheit, die ihnen immer nachgesagt wurde. Das alte Fruchtbarkeitssymbol lässt sich umstandslos als Zeichen für überschäumende Kreativität verstehen. Jeder Mensch sei ein Künstler, hatte Beuys gesagt. Um sich zu befreien, muss der Mensch über die Mächte triumphieren, die ihn gefangen halten: Flanagans Hase auf dem Helm und Beuys' aus einer Krone umgeschmolzener Friedenshase bringen das zum Ausdruck.
Diese Befreiung aus verkrusteten gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnissen ist - emphatisch betrachtet - durchaus eine Auferstehung von den Toten, ein Sieg des Lebens über den Tod, der zu Ostern von den Christen gefeiert wird. Flanagans Hasen in einer Kirche aufzustellen, wäre keineswegs blasphemisch: von der feierlichen Trauer über das Leiden und den Tod - am Karfreitag wird die Kreuzigung betrauert - würde der Akzent hoffnungsvoll auf die Freude über das Leben verschoben.
Aus Hoffmanns berühmtem Struwwelpeter kennen wir "Die Geschichte vom wilden Jäger". Dort kann man lesen: "Es zog der wilde Jägersmann sein grasgrün neues Röcklein an; nahm Ranzen, Pulverhorn und Flint und lief hinaus ins Feld geschwind. Er trug die Brille auf der Nas und wollte schießen tot den Has. Das Häschen sitzt im Blätterhaus und lacht den wilden Jäger aus."
Es fällt nun nicht schwer, die kleine Geschichte im Kontext der Bemerkungen zu Beuys, Flanagan und der Auferstehung zu erläutern. Der Jäger repräsentiert die tödliche Macht, der kleine Hase das Leben. Die Macht ist entschlossen, das Leben auszulöschen. Aber der Hase lacht wie "Der Unbesiegbare", der Beuyssche Hase, der so anständig ist, dem kleinen Schützen nicht eine runterzuhauen. Doch es bedarf der List. Das Häslein klaut dem schnarchenden Jäger die Brille und das Gewehr. Der kann nun nichts mehr sehen und nicht mehr schießen. Dem Hasen genügt die Hilflosigkeit des Mächtigen freilich nicht. Er vertraut nicht auf ein partnerschaftliches Nebeneinander von Leben und Macht. Er setzt des Jägers Brille auf und legt an, ist offenbar etwas welterfahrener als der Beuys-Hase. Der Jäger springt schreiend davon. Doch als der Hase tatsächlich schießt, allerdings daneben, denn er hat nur die Kaffeetasse der Jägersfrau getroffen, ist er offenbar zu weit gegangen. Weil: Seinem Kind, dem kleinen Has, "floss der Kaffee auf die Nas. Er schrie: ,Wer hat mich da verbrannt?' und hielt den Löffel in der Hand." Wohl wahr, wenn man sich so rabiat gegen die Unterdrückung wehrt, muss man auch an die Folgen für die eigenen Kinder denken.
Ob die Macht umgeschmolzen wird, ob man auf ihrem Helm herumtanzt, ob sie mit dem Gewehr vertrieben wird oder ob wir Ostern feiern: Die Grundtendenz ist dieselbe. Darum, liebe "Hasomanen" (Beuys): "Es lebe der Osterhase!"