Das Stillleben

Europäischer Minimalismus und Emanzipation der Malerei am Beispiel des Stilllebens.

Ich spreche über das Stillleben nicht überhaupt, sondern nur über 2 mir wichtige Aspekte.
Erstens: Ich interessiere mich für das Stillleben, weil es dabei um die Emanzipation der Wahrnehmung geht, die eine Voraussetzung unseres Denkens ist. Einige Emanzipationsschritte möchte ich an Beispielen belegen. Ich betrachte die skizzierten Befreiungsakte zwar als Schritte in einer Entwicklung, jedoch nicht als Ausdruck eines Fortschritts. Tatsächlich evoziert in der Kunst die eine Richtung meist eine gegensätzliche. So ergibt sich immer ein hin und her. Der Begriff „avantgardistisch“ (militärisch: die Vorhut) gehört der Fortschrittsideologie des 19. und 20. Jahrhunderts an.
Zweitens: Als Nachlassverwalter der minimalistischen Konzeptkünstlerin Charlotte Posenenske interessiere ich mich für die lange Wurzel des europäischen Minimalismus, der sich am Stillleben gut belegen lässt.
Ich zitiere ausschließlich aus dem ausgezeichneten Buch „Die Geschichte des Stilllebens“ von Sybille Ebert-Schifferer, die ich Gelegenheit hatte, selber kennen zu lernen.

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Ein Tafelbild ist als ein rechteckiges Stück Holz oder als gespannte Leinwand eine Fläche. Galeristen sprechen von Flachware. Mit der Entdeckung der Perspektive im 14. Jahrhundert wird es möglich, auf dieser Fläche Gegenstände und Menschen räumlich darzustellen. Auf der Fläche lassen sich also Räume illusionieren, d.h. Augentäuschungen veranstalten. Die ganze Malerei vom 14. bis zum 20. Jahrhundert ist, soweit sie die Welt abbildet, eine Augentäuschung, eine Illusion.
Um auf den Zusammenhang von Wahrnehmung, Täuschung und Denken hinzuweisen, noch eine Bemerkung: Descartes (1596–1650), der große französische Philosoph, fand in dem berühmten Satz „cogito ergo sum“ die Gewissheit, dass er existiert – erst, nachdem er festgestellt hatte, dass alle Sinne ihn täuschen können.

Die Abbildung der Welt, die sog. Mimesis, war im Mittelalter kein Thema, denn die Welt galt nur als ein Durchgang, eine Art schmutziger Korridor ins Jenseits. Erst in der Renaissance, also ab dem 15. und 16. Jahrhundert, entwickelte sich mit der Wiederentdeckung der vergessenen Errungenschaften der Antike das Individuum, das seine Umgebung aus der selbstgewählten Perspektive von seinem eigenen Standpunkt aus betrachtet. Exemplarisch für den neuen Menschen ist der Maler der Renaissance: um 1300 Giotto, um 1400 Masaccio, Bruneleschi, Donatello, Ucello, Piero della Francesaca. Der Künstler ist ein Individuum, das einen Standpunkt wählt, von dem aus er die Ausschnitte der Welt, die für ihn interessant sind, perspektivisch wiedergibt. Interesse, Standpunkt, Wahl, selektive Perspektive und auch Illusion sind Attribute des Menschen als Individuum. Was uns heute so selbstverständlich erscheint, ist es im Grunde nicht: im Mittelalter – und heute noch bei vielen Völkern – war und ist es nicht möglich, einen eigenen Standpunkt zu wählen und von dort die Welt im eigenen Interesse unter einer eigenen Perspektive zu betrachten, zu ordnen oder gar zu verändern. Die Kirche hatte – wie heutzutage die Ideologien autoritärer Regime – alles vorformuliert. Insofern herrschte ein Konformismus, der Eigenwilligkeit nicht zuließ. (Bei einer Diskussion wurden als Begründung eines Arguments wechselweise die Kirchenväter zitiert.)
Der mit der Abbildung der Welt auf einer Fläche notwendig einhergehende Illusionismus erreicht die ultimative Perfektion mit der quasi-fotografischen Augentäuschung – das so genannte Trompe-l’oeil -, das dem Betrachter den Eindruck vermittelt, der gemalte Gegenstand habe dingliche Realität. Man ist allgemein der Auffassung, dass Caravaggios berühmte Früchteschale (1593) (Caravaggio, 1571–1610) den Anfang der Stillebenmalerei bildet. Viele Stillebenmaler lassen die Gegenstände aus dem Bild in den Raum hineinragen – wie der Korb in diesem Bild. „Die Malerei versucht, sich selbst zu verleugnen und die Grenze zum Objekt aufzuheben.“ (S. 164) „Das oft als rein technisches Kunststück abgewertete Trompe-l’oeil birgt somit das innovative Potential zur Aufhebung der klassischen Malerei in sich.“ (S. 166) Im frühen 16. Jahrhundert erscheint damit eine Tendenz, die erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zur Entfaltung kommt: nämlich aus der Malfläche in den Realraum vorzustoßen (Fontana, Stella, Rauschenberg, Posenenske.) Zudem: ein Gegenstand, z.B. eine Vase, die im Bild zu kippen droht, deutet eine Bewegung an, mithin einen Zeitbezug. Und Bewegung wird eine Hauptdimension der modernen Malerei seit 1900, als die Eisenbahn, dann das Auto, dann das Flugzeug sich durchsetzen. Das umgestürzte Glas oder die kippende Vase implizieren Bewegung und nehmen insofern ein Hauptthema der Moderne vorweg.
Bei den (Betriegertje) „Betrügerchen“ des Stillebenmalers Samuel van Hoogstraten handelt es sich oft um so realistisch in Originalgröße gemalte Steckbretter (Van Hoogstraaten 1627–1678) (Steckbrettbilder heißen „quodlibet“, S. 170), an denen die Leute damals ihre Schlüssel, Briefchen, Zettel usw. hängten, sodass der Betrachter versucht ist, in das Bild zu fassen. (S. 164) Je perfekter die Stilllebenmaler das Handwerk der detaillierten Abbildung beherrschten, desto mehr bemühten sie sich, den Betrachter zu nasführen. Besonders in Leiden blühte in der Hochzeit der Stillebenmalerei im 17. Jahrhundert die so genannte „gladde manier“, die Feinmalerei, (Gerrit Dou, 1613–75 ) „deren oberstes Ziel es ist, die Maltechnik vergessen zu lassen.“ (S. 170) „Keine Spur der Malerhand“ sollte mehr zu erkennen sein (S. 170) Diese quasi-fotografische Malerei von Gerrit Dou und seinen Schülern (Metsu und Mieris) steht im krassen Gegensatz zu den kühnen Pinselstrichen des Haarlemer Meisters Frans Hals (1580–1666), bei dem – wie auch bei Pieter Claesz (1597–1661 )das WIE wichtiger wird als das WAS, die Malweise wichtiger als der abgebildete Gegenstand.
Personen werden mit Gegenständen umgeben, die symbolisch auf deren Sozialstatus, Beruf oder Heiligkeit hinweisen (Nicolaes Gillis, 1595–1632) Diese Symbole waren für jedermann lesbar. So bedeuteten etwa Kirschen und Birnen einen Hinweis aufs Paradies, die Erdbeeren auf die Erlösung, die roten Johannisbeeren auf die Menschwerdung Christi, die Stachelbeeren auf sein Leiden, die Wallnüsse auf seinen Tod am Kreuz. (S. 90) Die Raupe, die sich in einen Schmetterling verwandelt, deutet auf die Auferstehung hin. (S. 104/5) Doch ist die Symbolik komplex, d.h. moralische, religiöse und alltagspraktische Sinnschichten überlagern einander.
Das autonome Stillleben entsteht sukzessive durch bestimmte Akte der Emanzipation: der erste Schritt [1] ist die Herauslösung dieser symbolischen Gegenstände aus den frühen Markt- und Küchenbildern von Pieter Aertsen und Joachim Beuckelaer, (1530–75 ), auf denen auch Personen abgebildet sind. Oder die Gegenstände werden aus Darstellungen einer gottgefälligen, christlichen Haushaltsführung (1498–1574) herausgelöst.

Das autonome Stillleben enthält dann keine Darstellung von Personen mehr. Man sieht nur noch Gegenstände. Warum? Die Erklärung ist zunächst einfach: weil die dargestellten Gegenstände Symbole sind, die ja auf Personen und deren Merkmale verweisen. Man zeigt also nicht direkt einen bestimmten Heiligen, sondern indirekt – durch die Darstellung der auf ihn verweisenden Symbole. „Die Dinge ersetzen hier den Menschen“ (S. 166) Ein anderer Grund ist die Ächtung der Heiligenbilder im protestantischen Norden der Niederlande nach dem so genannten Bildersturm, in dem die Calvinisten gegen die katholische Fetischisierung der Heiligen vorgingen, weil diese Bilder den Betrachter angeblich vom Wort der Bibel ablenkten. (S. 93) Diese Indirektheit setzt voraus, dass die Betrachter die Symbole lesen konnten, d.h. die Symbole gehörten einem ikonografischen Symbolsystem an. (Über die Ikonographie gibt es dicke Bücher) Die Indirektheit erfordert Kenntnisse und die Fähigkeit zur Schlussfolgerung und sogar der Interpretation, wenn die symbolischen Gegenstände sich zu Allegorien zusammenschließen. Verglichen mit dem direkten Hinweis 
lässt die Indirektheit oft einen Interpretationsspielraum und ist insofern kultiviert, insoweit Freiheit ein Hauptkriterium von Kultur darstellt.

Die Merkwürdigkeit, dass das Stillleben von der akademischen Theorie geringgeschätzt wurde (S. 202, 224), in der Wertschätzung den untersten Rang einnahm und entsprechend schlecht bezahlt wurde, die Historienbilder dagegen den obersten Rang, erklärt sich durch die thematische Beschränkung auf Gegenstände, meist Alltagsgegenstände. Die Stilllebenmaler wurden verspottet, weil sie Küchengerätschaften malten, niederes Zeug, während die Historienmaler Heilige und Herrscher in biblischen Situationen oder Schlachten darstellten. Der Sinn für das Heroische und Erhabene geht den Stillebenmalern ab. Aber gerade sie sind es, die die Malerei als Malerei auf das höchste Niveau führten.
Im Gefolge des Humanismus (Erasmus von Rotterdam, das Lob der Torheit, 1509) entsteht das Interesse an der Betrachtung der Natur – jenseits theologischer Spekulationen. Aus naturwissenschaftlichen Illustrationen entwickeln sich Blumenbilder, auf denen auch solche Blumen zusammen dargestellt wurden, die zu verschiedenen Jahreszeiten blühen. (Bosschaert, 1573–1621) Das Blumenbild ersetzte den Blumenstrauß. Denn Blumen waren im 17.Jahrhundert unglaublich teuer, besonders die Tulpe. Ein gemalter Blumenstrauß bedeutet nicht nur Luxus, sondern auch einen warnenden Hinweis auf die Vergänglichkeit. Das Leben des Menschen wird mit einer Blume verglichen: von der Knospe bis zum Verwelken. Das Interesse an der Naturforschung lässt Sammlungen entstehen, die sich die reichen Sammler malen ließen, die sogenannten Galeriebilder (z.B. allerlei exotische Muscheln nebeneinander) (Frans Franken II, 1581–1642 )
In Zusammenhang mit der naturwissenschaftlichen Forschung entdeckt man das Naturschöne. Am Prager Hof des Habsburger Kaisers Rudolph II schreibt der Hofphysicus Oswald Croll: „Alle Kräuter, Blumen, Bäume und anderes, was aus der Erde kommt, sind Bücher und magische Zeichen, die von der unendlichen Barmherzigkeit Gottes übermittelt wurden.“ Die Natur wird als göttliche Botschaft aufgefasst, als Sprache. Man muss versuchen, in der Natur zu lesen. Forschung ist Entzifferung.
Als die Humanisten argumentierten, das Göttliche manifestiere sich auch in den kleinsten Dingen der Natur, tauchten in den Stillleben auch wunderbar gemalte Insekten auf. Lebensmittel aller Art stellen die fromme Haushaltsführung, den blühenden Handel oder den Reichtum des Auftraggebers dar. (Osias Beert d.Ä. 1580–162) Auch bei opulenten Bildern fehlt selten die versteckte biblische Warnung, die irdischen Güter nicht über zu bewerten. Man stellte geistige Speise (Buch) der leiblichen Speise (Fleisch ) einander gegenüber (Hulsdonck, 1582–1647), oder die Fastenspeise (Fisch) der normalen Speise (Schinken). Die Bilder waren lesbar, wenn die Bedeutung auch oft zweideutig war. So hatten alle Obst – und Gemüsesorten und besonders Austern als Aphrodisiaka eine erotische bis obszöne Nebenbedeutung.
Auf vielen Stillleben findet man Vanitasdarstellungen, die auf die Nichtigkeit (vanitas) allen Seins als einen vorübergehenden Zustand verweisen: die häufigsten Symbole sind der Totenschädel, eine verlöschende Kerze, eine alte Pfeife, zerfledderte Papiere, Musikinstrumente, verwelkende Blumen, faulendes Obst, Gewürm, das die irdische Schönheit auffrisst, die Fliege als Symbol des Teufels (Pieter Steenwijck, 1615–1656) (An der Fassade des Straßburger Münsters befindet sich die Statue der Vanitas: die Vorderseite zeigt eine blühende junge Frau, die Rückseite den von Würmern zerfressenen Körper.) Diese Symbole waren für das Publikum einfach zu verstehen. Beliebtes Sinnbild der Vergänglichkeit ist auch die Seifenblase, in der sich die Insignien weltlicher Macht spiegeln, manchmal aber auch der Maler selber.

Um die Symbole demonstrativ zu halten, vermeidet der Maler zunächst Überschneidungen der Gegenstände (Heemskerck). Folglich tritt die Symbolik bei Gegenständen, die einander z.T. verdecken – wie es ja in der Realität oft vorkommt – zurück. Die Gegenstände wurden nebeneinander liegend dargestellt, während sie später kompositorisch nach ästhetischen Kriterien oder szenisch nach alltagspraktischen Kriterien angeordnet werden.
Wirkliche Autonomie erlangt das Stillleben erst, als es sich von der symbolischen Bedeutung der dargestellten Gegenstände emanzipiert und diese als solche behandelt. [2] Das heißt, die Gegenstände fungieren nicht mehr als Symbole, nicht mehr als Botschaften des Malers, sondern werden frei für die Bedeutungszuschreibungen des Betrachters.
Ein weiterer Schritt dieser Emanzipation besteht darin, die Gegenstände nur als Anlass zur Demonstration der Malweise zu verwenden. (Pieter Claesz) [3] Es kommt dann immer weniger darauf an, was gemalt ist, sondern wie es gemalt ist.

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Als Nachlassverwalter von Charlotte Posenenske interessiere ich mich besonders für die minimalistische Version des Stilllebens. Ich habe bei Sybille Ebert-Schifferer dazu drei Hinweise gefunden. „Gerade die in Mailand gepflegte pauperistische (vgl. arte poverea) Richtung gegen-reformatorischer Theologie forderte, die Größe Gottes auch in seinen niedrigsten Geschöpfen zu erkennen und zu preisen.“ (S. 76) Angesichts der Erstarrung der Malerei im elitären Manierismus sei eine Forderung der Gegenreformation „Allgemeinverständlichkeit“ und „Einfachheit“ gewesen (S. 75) (Der Manierismus in der Spätphase der Renaissance schwelgte in Verrätselungen und nicht allgemein verständlichen, elitären philosophischen Anspielungen) In der ersten Reformphase nach dem Konzil von Trient (1545–1563, das die Gegenreformation in Gang setzte) wendet sich die Kirche um 1600 den Benachteiligten und „den geringsten Teilen der Schöpfung“ zu. (S. 80) Gemalt werden überschaubar zusammengestellte Alltagsgegenstände.

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Es lassen sich nun zwei Tendenzen voneinander unterscheiden: zum einen das dekorative opulente Stillleben, auf dem Früchte, Wildbret, Fische, Porzellan und Glas kunstvoll arrangiert werden. Diese Kostbarkeiten entsprachen dem Geschmack des katholischen Adels Flanderns, also des heutigen Belgiens. Antwerpen war die Stadt, in dem der berühmte Blumenmaler Brueghel, sein Freund Rubens und Frans Snyders wirkten, letzterer der richtunggebende Vertreter dieses flämischen Stils.
Diese Richtung, die in so genannten Prunkbildern (de Heem) und Jagdbildern für den Adel seinen Höhepunkt findet, werde ich nun vernachlässigen und mich den Künstlern des protestantischen Nordens, besonders der Haarlemer Schule zuwenden, die Stillleben malten, die ich minimalistisch nennen möchte. Begründer dieser Richtung ist in Holland Pieter Claesz

Der kulturelle Minimalismus hat in Europa eine lange Tradition: Die ersten Spuren findet man in Lakonien, der altgriechische Gegend, in der die Spartaner wohnten, die für ihre kurz angebundene Redeweise berühmt waren. Daher das Fremdwort „lakonisch“. Die lakonische Redeweise, die alles Wichtige so kurz wie möglich zusammenfasst, entsteht im Gegensatz zur blumigen Ausdrucksweise des Orients. Besonders durch Cicero wird die Griechische Kultur der altrömischen Oberschicht zugänglich. Man spricht in Rom Griechisch so wie man in Deutschland im 18. Jahrhundert französisch sprach. Der kulturelle Minimalismus zeigt sich hier in der Vorliebe für Sentenzen von der Art „Veni, vidi, vici“ (Caesar), „Vae, deus fio“ (Vespasian) „Wenn das Volk doch nur einen einziges Hals hätte“ (Caligula) usw. Diese Haltung, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und Details zu vernachlässigen, findet sich in der abendländischen Geschichte in Kunst, Literatur, Design (etwa Biedermeier) und Architektur (moderne Architektur der 20er und 30er Jahre) immer wieder. In den späten 60er Jahren des 20.Jahrhunderts wird der Minimalismus in den USA explizit zu einer wichtigen Kunstrichtung, der Minimal Art. In Europa ist, wie gesagt, der Minimalismus lang angelegt. Die minimalistischen Arbeiten von Charlotte Posenenske (Diagonale Faltung)sind keine Übernahmen aus der amerikanischen Minimal Art, sondern stehen nachweislich in der europäischen Tradition. Wenn ich mich also für die minimalistische Ausprägung des Stilllebens interessiere, so um weiter die Einflüsse zu suchen, denen Charlotte Posenenske folgte, die in der alten Kunst sehr bewandert war und mit mir zusammen viele Museen Europas besucht hat.

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Wichtig für die Herausbildung des minimalistischen Stilllebens ist sicher der Protestantismus, der in der Lebensführung Bescheidenheit und Sparsamkeit propagierte. Die Abnehmer dieser Stillleben waren die wohlhabenden Bürger, die diese Gemälde als Erbauungsbilder schätzten. Im Unterschied zum Adel, der Verschwendung und Willkür als Ausdruck seiner gesellschaftlichen Potenz betrieb, hegte das frühe Bürgertum die Sparsamkeit als rationale ökonomische Haltung. Es galt ein Produkt mit möglichst geringem Aufwand an Arbeitskraft, Zeit, Raum, Energie und Material herzustellen. Dieser ökonomischen Grundhaltung entspricht die Ästhetik des minimalistischen Stilllebens. Das sparsamste Gemälde ist das von Pieter Claesz: es zeigt nicht mehr als einen Hering, ein Glas Bier und ein Stück Brot. 
Die Symbolik ist hier nicht mehr theologisch. Es handelt sich bei diesen Gegenständen um die Grundnahrungsmittel der niederländischen Bürger und gleichzeitig um die Haupterwerbszweige. Das kleine, programmatische Bild hängt im Museum Boijmans van Beuningen in Rotterdam. Pieter Claesz gibt dem Stillleben mit der Erfindung des monochrome banketje einen minimalistischen Akzent: Er „reduziert die Bildelemente und das Kolorit bis hin zu einer um 1630 erreichten Vereinheitlichung in Grau – und Brauntönen.“ (S. 123) Die tonige Malweise, d.h. die weitgehende Abkehr von den Lokalfarben, stellen einen nächsten Schritt der Emanzipation dar. [4]
Ebert-Schifferer spricht von einer „atmosphärischen Vereinheitlichung des tonigen Kolorits.“ (S. 123) „Hier dominiert zum erstmals in der Geschichte der niederländischen Stilllebenmalerei deutlich das malerische WIE über das inhaltliche WAS.“ (S. 123)
Bei dem monochrome banketje (Abb. 22, Pieter Claesz) waren die Gegenstände so inszeniert, als würden sie benutzt. Im Prunkstilleben werden sie dagegen dekorativ arrangiert (de Heem) An der „demonstrativen Künstlichkeit der Komposition in einem unnatürlichen Raum“ fand das Publikum ein sinnlich-intellektuelles Vergnügen. (S. 186)
„Minimalistisch“ würde ich auch Francisco de Zurbaran’s berühmtestes Stillleben nennen (S. 183). Die Gegenstände sind in äußerster Strenge auf einer Horizontalen angeordnet. Das Auge kann nicht – wie in flämischen Barockstilleben – flanieren, „es wird zur aktiven Konzentration gezwungen.“ (S. 106) Besonders die spanischen Stillleben konzentrieren sich auf Weniges. Der hervorragende Meister ist Juan Sanchez Cotan dessen Kompositionen oft einem mathematischen Kalkül zu folgen scheinen. Man nimmt an, dass die besonders in Mailand gepflegte pauperistische Richtung der gegenreformatorischen Theologie durch wandernde Künstler nach Spanien gelangte, denn Mailand war damals habsburgisch, d.h. in spanischer Hand.
In Frankreich entwickelt sich das Stillleben später. Es steht unter dem Einfluss der niederländischen Malerei und zeichnet sich in der Frühphase durch „die Reduktion auf wenige Objekte und strenge Ordnung“ aus (S. 229). „Der undurchdringliche Bildraum zwingt das Auge zur genauen Betrachtung der wenigen dargebotenen Objekte, die ihrem alltäglichen Gebrauchskontext feierlich enthoben sind wie auf den frühen spanischen Stillleben. Es ist eine Kunst der Beschränkung, die auf bedeutsame Weise die Stille zum Klingen bringt, den Betrachter einlädt, aber zugleich Distanz zu ihm wahrt.“ (S. 229) 
Ebert-Schifferer beschreibt hier das, was ich unter minimalistisch verstehe: Reduktion, strenge Ordnung, Beschränkung, Stille, Distanz. Doch unter Ludwig XIV konzentriert sich die Malerei auf fürstliche Luxusgegenstände, „denn die Augen sehen mit Abscheu auf Dinge, welche die Hände nicht berühren möchten“ schreibt ein Kunsttheoretiker (S. 236) Dem Absolutismus ging es um Dekoration. (S. 242) Der größte Stillebenmaler Frankreichs war zur Zeit des Übergangs vom Barock zum Rokoko Jean-Paptiste Oudry, der bereits wusste, wie ein und dieselbe Farbe sich je nach Beleuchtung verändert (S. 244), ein Sachverhalt, der im 20. Jahrhundert die Minimal Art interessieren sollte. Nach dem Tode des Sonnenkönigs wendet sich die Stillebenmalerei wieder der unter ihm verpönten holländischen Malerei mit ihren intimen bürgerlichen Alltagsszenen zu. (S. 235) Unter dem Einfluss Rousseaus und der Aufklärung wurde Naturnähe ein positives Kriterium. Der erste Stillebenmaler, der als Vorläufer der Impressionisten gilt, weil er nicht malt, was er weiß, sondern was er sieht, ist Chardin. Er entdeckt, dass die Farbe eines Gegenstands sich durch die ihres benachbarten Gegenstands verändert. (Wunderbare Spiegelungen wurden auch schon früher thematisiert. Chardin zeigt, dass die Lokalfarbigkeit nicht absolut, sondern relativ ist. Die Farbe ist situativ. (Das ist ein nächster Schritt der Emanzipation.) [5] (Das thematisiert 1915 auch Felix Valloton, vgl. S. 351) Der Gegenstand bildet für die Malerei nur den Anlass. (S. 250). Die Malweise ist es, die dominiert (S. 256). Chardins Bilder sind „auf irritierende Weise unscharf“. (S. 250) Konservative Kritiker, an die quasi – fotografische Feinmalerei der beliebten Augentäuschung gewöhnt, haben ihm das vorgeworfen. Die minimalistische Malerei erreicht mit Chardin einen Höhepunkt. Ein Bewunderer seiner Malweise war Jean-Etienne Liotard.

Im klassischen Stillleben fehlen die Personen, ursprünglich, weil die dargestellten Gegenstände auf die abwesende Person verweisen, auf ihren Beruf, ihren sozialen Status usw. Einige Stillleben verfolgen nun aber die Strategie, die abwesende Person präsent zu machen: ein umgefallenes Weinglas etwa bezeugt, dass eine Person vor kurzem noch da war und gerade weggegangen ist. Oft sieht man das an den Resten, Speisereste (eine angebrochene Pastete,)Tabakreste. Pieter Claesz löst „die feierliche, archaische Schautafel ab durch Gebrauchsspuren und einen impliziten Handlungsablauf.“ (S. 123) Ich halte dies für einen weiteren Schritt der Emanzipation [6], da es so gelingt, das Stillleben lebendig zu machen. Durch die implizierte Zeitlichkeit, mithin Bewegung, die ein umgestürztes Glas ausdrückt, verliert das Stillleben seine Statik.

Der berühmteste amerikanische Stilllebenmaler William Michael Harnett (19.Jh.) sagt, sein Ziel sei, „die Komposition eine Geschichte erzählen zu lassen.“ (S. 272) Ebert-Schiffferer spricht hier von den dargestellten Gegenständen von einer „materiellen Konkretisierung des Individuums“. Die „Spiegelung einer Persönlichkeit in ihren Besitztümern“ sei ein „typisch bürgerliches Phänomen“, das heute als „Dingfetischismus“ bezeichnet werde. (S. 274) Dieser Aspekt ließe sich vertiefen. Ich bezweifle, ob es sich um ein „typisch bürgerliches Phänomen“ handelt, denn gerade der Adel stellte sich gern durch seine dinglichen Besitztümer dar.
In den USA entwickelt sich im 19.Jahrhundert eine Stillebenmalerei nach holländischem Vorbild. Die Gegenstände sind oft Trödel mit einer nostalgischen Note. (S. 275) . Das Trompe-l’oeil erfreut sich großer Beliebtheit. Die in Originalgröße gemalten Gegenstände trachten, die Grenze zwischen Abbild und realem Objekt zu verwischen (S. 269) und werden so zu Vorläufern der Arbeiten von Jasper Johns Abbild der amerikanischen Flagge 1955. Zur Einbeziehung realer Gegenstände in das Bild ist es dann nicht mehr weit.

Im Unterschied zu Landschaftsbildern, aber auch zur Darstellung von Interieurs handelt es sich bei Stillleben um Darstellungen der Gegenstände aus großer Nähe. Die alltäglichen Gegenstände werden dadurch hervorgehoben und oft geradezu zelebriert oder auratisiert, wobei die nähebedingte Intimität gewiss eine Rolle spielt. Sie sehen aus, als seien sie geheimnisvoll. Hinter dieser Wirkung steht die Vorstellung, Kunst müsse die selbstverständlich gewordene Alltagswelt wieder nicht-selbstverständlich machen: es geht darum, sie neu zu sehen. Dies ist ein grundsätzliches Anliegen nicht-dekorativer Kunst: die Wahrnehmung und damit unser Denken zu verändern.
Der Wohlstand der niederländischen Großbürger – im Goldenen Zeitalter, dem 17.Jahrhundert waren sie die reichsten Europas – gründet bald weniger auf Fischfang, Brauerei und Getreidehandel, als auf dem Welthandel, durch den viele exotische Waren nach Holland kamen, die auf den Stillleben abgebildet sind. Stillleben, die die bürgerlichen Mahlzeiten abbilden, werden durch Prunkstillleben abgelöst, auf denen fremdländische und kostbare Gegenstände wirkungsvoll inszeniert werden. Überragender Meister ist Willem Kalf, der seine Malweise an Vermeer und Rembrandt geschult hat (S. 134). Auch für ihn gilt, dass die auratisierende Malweise (das WIE) wichtiger wird als die dargestellten Gegenstände, das WAS. (Nebenbei: Die oft in der Bildmitte demonstrierte Zitrone war damals – wie die Tulpe – eine große Kostbarkeit.)
Die Universitätsstadt Leiden (S. 140) war das Zentrum einer Stilllebenmalerei – besonders von Vanitas-stillleben-, die für die Gebildeten alle möglichen Hinweise (Folianten, Papiere, Pläne, Briefe) auf die Philosophie enthielten. Jedermann konnte lesen, da der Protestantismus im Unterschied zum Katholizismus vorschreibt, dass auch die Laien die Bibel lesen können. Die Symbole werden komplexer, dadurch schwerer verständlich, die Bilder geben Anlass zur Diskussion. Das erinnert an den etwa gleichzeitigen italienischen Manierismus. In Leiden entsteht auch die quasi-fotografische Feinmalerei, die perfekte Augentäuschungen ermöglicht.
Im Stillleben des 18. Jahrhunderts hat man es nach dem Tode Ludwig XIV und dem Ableben des formalisierten Hofzeremoniells, dem das Prunkstillleben entsprach, und der Hinwendung zum einfachen Landleben der Schäferidylle, nur noch mit Gegenständen zu tun, meist Alltagsgegen-ständen, die auch keine Symbole mehr sind (Melendez S.222) Von minimalistischer Konzentration sind Goyas berühmte „Lachsschnitten“, wo er das rohe Fleisch „außerhalb eines kulinarischen Kontexts“ zeigt (S. 221) „Seine hingeschlachteten Puter, Hammel und Fische ordnete er genauso an wie die gefolterten Leichname.“(S. 222) Das Gemälde ist bis zum Äußersten minimalistisch.

Die maßgeblichen Einflüsse für eine Emanzipation des Stilllebens von der Leidener Feinmalerei kamen aus Frankreich, wo Delacroix und Gericault, die Romantiker, gegen den sterilen Klassizismus von Ingre und David angehen. Das Hässliche und Abstoßende wird aufgewertet „als Inbegriff des Romantisch-Sublimen“ (S. 287) (vgl. den Ausdruck „schrecklich-schön“) Auch der Realist Courbet malt Stillleben von „niedrigen Dingen“ mit pastosem Farbauftrag, die darzustellen als skandalös galt. (Darstellung rohen Fleisches, geschlachteter Tiere (S. 290) Courbet hatte großen Einfluss auf die deutsche Malerei (Scholderer, Eysen, Leibl, Schuch, Thoma, Trübner ) Sie sind auf der Suche nach dem „Reinmalerischen“ (S. 292) Das ist eine Absage an den akademischen Primat von Kontur und Linie und damit an die Grundlagen des Illusionismus, (S. 292) Trübner: „je einfacher der Gegenstand, desto interessanter und vollendeter kann ich ihn malerisch und koloristisch darstellen.“ Das WIE dominiert zunehmend das WAS. Der Gegenstand wird auch für Liebermann nur noch zur Gelegenheit, die Malerei zu demonstrieren. (S. 292) Auf das Sujet kommt es kaum noch an. Die frühen Bilder Liebermanns von Kücheninterieur galt als „Schmutzmalerei“ . Darauf der Künstler: „die gut gemalte Rübe sei besser als die schlecht gemalte Madonna“ (S. 292)
Wie der Ausdruck selber ja sagt, ist mit dem Anspruch des Reinmalerischen die Loslösung der Malerei vom Sujet, d.h. ihre Selbständigkeit fast erreicht. [7]
Die Stillebenmalerei hört um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf, das Genre von Spezialisten zu sein. (292) Mit Manets Spargelbild lange im Besitz von Liebermann, „wurde das Stillleben zum Synonym des Malerischen schlechthin.“ (S. 296) Ein französischer Kritiker prophezeite: „Sollte die akademische Ordnung eines Tages zusammenbrechen, dann wird das an den Stilllebenmalern liegen“ (S. 296) Das Stillleben war ihr Experimentierfeld. (vgl. Zola gegen die – bürgerlichen – Salonmaler) Besonders Corinth orientiert sich an der freien Malweise der Franzosen. (286) Er gelangt – wie Monet mit seinen späten Seerosenbildern – fast bis an die Abstraktion. Die Gattungsgrenzen sind endgültig gefallen.
Der Japonismus bietet den Pariser Malern eine Alternative zur Perspektive. Denn die japanischen Farbdrucke sind flächig und stellen Entfernungen übereinander gelagert dar. (Caillebotte) Die Perspektive wird als Korsett empfunden, das den Illusionismus ermöglicht. Ein Bild ist aber zu allererst ein Stück Leinwand, eine Fläche. Das Bekenntnis zur tatsächlichen Flächigkeit eines Bildes ist ein entscheidender Schritt zur Emanzipation. [8]
Das Aufkommen der Fotografie in der Mitte des 19.Jahrhunderts befreit die Malerei endgültig vom Bedürfnis, die äußere Welt detailgetreu abzubilden mit der Folge, dass die Malweise – das WIE – den Gegenstand – das WAS – dominiert. Da die Fotografie die Welt technisch objektiv abbilden kann, entwickelt die Malerei nun ihre ganz eigenen Sichtweisen. Die Impressionisten malen nicht mehr, was man weiß, sondern was sie sehen. (Apfelkorb, Monet, Venedig, Fleisch)
Eine neue Qualität erreicht das Stillleben mit Cézanne. Auf einigen Bildern lässt er die unbehandelte Leinwand stehen, deren Farbe in das Bild integriert ist. Man hat das als einen starken Hinweis auf die tatsächliche Flächigkeit des Bildes betrachtet. Seine „ständig erneuerten Versuchsanordnungen aus immer weniger Gegenständen – mit Vorliebe Äpfel – untersuchen die Bedingungen des Sehens selbst.“ Er studiert die „Veränderungen, welche die Farbe durch Absorption von Licht erfährt“. Sein vielleicht einflussreichstes Stillleben lässt erkennen, dass die Gegenstände unter zwei Perspektiven dargestellt sind. Das impliziert, dass der Maler seine Position verändert oder sogar aufgestanden ist, d.h. er hat sich bewegt. Die Bewegung kann in der Malerei nicht dargestellt werden, obwohl das immer wieder versucht worden ist. Die Bewegung, die wichtigste Dimension der Moderne seit Ende des 19. Jahrhunderts, ist bei Cézannes Bild ein Implikat. Von hier entwickelt sich der Kubismus,(Picasso, Braque und Gris) der im selben Bild immer mehrere Perspektiven zeigt, wodurch der Eindruck der Zersplitterung entsteht. Cézanne gibt den klassischen Anspruch der Abbildung auf. [9] Er bildet die Natur nicht mehr ab, sondern schafft sie unter den Bedingungen des Sehens anhand einfacher Objekte nach. Die Stillleben sind sorgsam arrangiert, haben mit der Zubereitung einer Mahlzeit aber nichts mehr zu tun. (S. 311) „An die Stelle des gegenstandsabbildenden tritt ein gegenstandshervorbringendes Malen“ sagt Max Imdahl. (S. 314) Ein dunkles Stillleben von van Gogh wird auch als Chiffre für ein bestimmtes soziales Milieu gelesen, das Nahrungsmittel der verarmten Bauern und Industriearbeiter. Später – ein nächster Schritt der Emanzipation [10] – wird van Gogh von den Lokalfarben eines Gegenstands weitgehend absehen und die leuchtenden Farben nach subjektiven Kriterien der psychischen Befindlichkeit setzen.
Die Kubisten integrierten in ihre Bilder Holzteile, Papier und Nägel. Die Augentäuschung erübrigte sich, wenn man Originalmaterial ins Bild montiert. Es handelt sich um Materialcollagen. Auch dies ist ein Schritt der Emanzipation vom Illusionismus des Tafelbildes. [11] Duchamp, der zunächst dem Kubismus nahestand, bringt diesen Prozess mit dem ersten Readymade zu Ende, indem er von der Materialcollage zur Dreidimensionalität fortschreitet. „Das Stillleben verlässt die Malerei damit in zwei Richtungen: zur modernen Plastik hin und zweitens zur Objektkunst mit ihrer undefinierten Stellung zwischen Skulptur und Stillleben.“ (S. 339)

Entwicklung des Stilllebens als Emanzipation, d.h. als zunehmende Befreiung
[1] Herauslösung der Gegenstände aus christlichen Mahlzeiten und Marktbildern mit Personen. (Aertsen + Beukelaer)
[2] Die Gegenstände verlieren ihre feste Symbolik. Sie sind keine moralischen oder christlichen Botschaften mehr und werden frei, sodass nun der Betrachter die Bedeutung attribuieren kann.
[3] Gegenstände werden zur Demonstration der Malerei verwendet. Das Wie dominiert zunehmend das WAS.
[4] Tonige Malweise. Eine Atmosphäre überlagert die Lokalfarben (Claesz). Damit Abkehr von der quasi-fotografischen Leidener Feinmalerei.
[5] Situative Farbgebung (Chardin)
[6] Verlebendigung des statischen Stilllebens durch implizite Handlungen abwesender Personen (Claesz)
[7] Weitere Loslösung der Malerei vom Sujet (das „Reinmalerische“ der deutschen Maler nach Courbet)
[8] Distanzierung von der Perspektive unter dem Einfluss der japanischen Farbdrucke (Caillebotte)
[9] Flächigkeit und doppelte Perspektive bei Cézanne als Ausgangspunkt des Kubismus
[10] Van Gogh: subjektive Farbgebung
[11] Integration von Materialien (Picasso)

Der Minimalismus schließlich ist in den Stillleben der großen Meister offenkundig.

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Zwischen den zwei Weltkriegen entsteht in der Anfangszeit des italienischen Faschismus die Pittura metafisica, „eine stilistische Hinwendung zur Vergangenheit“ mit dem Ziel, sich auf den italienischen Geist zurück zu besinnen. De Chirico polemisiert gegen den Kubismus. Als der größte Stillebenmaler des 20. Jahrhunderts (S. 346) gilt Morandi, der sozusagen – orientiert an Cezanne – aus der inneren Emigration malte. „Seine Stillleben sind Produkte einer asketischen, die Materie des Dargestellten vernachlässigenden Meditation über Form und Farbe.“ Es geht nur noch um Malerei an sich. Sein Werk minimalistisch zu nennen, ist gewiss nicht falsch. In Zusammenhang mit der mit der Pittura metafisica und gegen den Expressionismus und den Surrealismus gerichtet entsteht in Deutschland die Neue Sachlichkeit, eine Richtung die eine neue, nicht klassische Gegenständlichkeit vertritt. Hier ist besonders Alexander Kanoldt zu nennen, auf dessen Stillleben oft ein Gummibaum oder ein Kaktus zu sehen ist, von neusachlichen Malern besonders wegen ihrer rationalen, kristallinen Form geschätzt. (S. 352) Kakteen, schrieb ein Kritiker, seien „pflanzliche Kristalle, lebendige Architektur. Wir sind des Schweifenden und Launenhaften müde. Wir wollen das Gesetz.“ (Interessante Parallele zu heute) Man bevorzugt simple, häufig vom Gebrauch zerschlissene Gegenstände. Aus den Bildern spricht Trostlosigkeit und Vereinsamung. „Der Begriff des Sparens ist zum künstlerischen Stil geworden.“ (S. 352) Auch hier ist die minimalistische Tendenz unübersehbar. Die Rückkehr zum Handwerklichen und zur Feinmalerei (S. 358), befördert durch die Fotografie, verbindet sich mit einem Rückgriff auf die Vanitasthematik des 17. Jahrhunderts. Die Hyperpräsenz der dargestellten Objekte (S. 359) kennzeichnet die Neue Sachlichkeit und den als Magischen Realismus. (S. 358) (Dick Ket, Den Haag, 1902–1940)

Das Stillleben bekommt in den 50er Jahren in der amerikanischen Pop Art als Darstellung von Konsumartikeln wie aus dem Kaufhausregal eine neue Qualität: die Darstellung von Massenartikeln wie in der Werbung kommentiert den american way of life als Warenwelt.(Tom Wesselmann, 1962) In der Tradition des Trompe-l’euil stehen die Combine paintings auf der Grenze zwischen Bild und Objekt. (S. 386)