Charlotte Posenenske – Ausstellung im Kröller-Müller Museum in Otterlo

Dieser Text wurde ursprünglich als Vortrag in Englisch gehalten.


 

Meine Damen und Herren, als Verwalter von Charlotte Posenenskes Nachlass möchte ich zuerst meinen Dank an alle ausdrücken, die diese Ausstellung ermöglicht haben – besonders an Susanne Wallinga und Eloise Sweetman, die fähigen und sorgsamen Kuratorinnen, die die Idee hatten, Charlotte Posenenske hier an diesem wunderbaren Ort auszustellen. Und natürlich vielen Dank an die geschickten Techniker für ihre Hilfe.
Außerdem ist es eine große Freude für mich, so viele Freunde von Charlotte Posenenske Kunst hier zu sehen, die nicht gezögert haben, von Deutschland, sogar von Australien und den Vereinigten Staaten herzukommen, um an unserer Ausstellung teilzuhaben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt eine kurze Einführung in Charlotte Posenenskes Werk geben und entschuldigen Sie bitte mein beschränktes Englisch. Ich nenne die Künstlerin „Charlotte“, da ich das Glück hatte, mit ihr verheiratet zu sein.
Ich werde nur einen einzigen Aspekt ihres Werkes hervorheben: Bewegung. Bewegung ist der überzeugendste Ausdruck von Lebendigkeit. Was sich nicht bewegen kann, ist tot. Sogar die Steine waren einst flüssig.
Sie werden zustimmen, dass  Bewegung die hauptsächliche Dimension nicht nur der Natur, sondern auch der modernen Gesellschaft ist. Seit der Erfindung der Eisenbahn, des Autos, des Telegraphen und der schnellen Tänze der frühen 20.Jahrhunderts wurden sich die Menschen dessen bewusst – auch die Künstler. Wir nennen unsere moderne Gesellschaft „dynamisch“ und vertrauen auf den technischen „Fortschritt“ , der sich schneller und schneller entwickelt. So fühlen wir Geschwindigkeit und Beschleunigung überall. Fast food und viele andere schnelle Dienstleistungen sind normal geworden. Die Chefs fordern von den Angestellten Mobilität. Die Migration von den ärmeren zu den reicheren Ländern ist ein wichtiges Merkmal der Globalisierung. Soweit ein paar kurze Bemerkungen über die gesellschaftliche Bedeutung der Bewegung.
Und nun zur Kunst:
Einige von Charlottes Bildern von ungefähr 1958 zeigen fließende Strukturen, die als ein Hinweis auf Bewegung verstanden werden können.  Aber Bewegung, meine Damen und Herren, kann in der Malerei und der Bildhauerei nicht wirklich ausgedrückt werden – der Film kann es – in Malerei und Bildhauerei kann Bewegung nur indiziert werden. Das heißt dass Bewegung in Ihrer Vorstellung stattfindet.
Was die Bewegung betrifft, so ist Charlottes Werk auf einer berühmten Kunsttradition gegründet:
Cézanne war der erste, der auf einem Gemälde gleichzeitig 2 Perspektiven zeigte, was bedeutet, dass der Maler seinen Standpunkt gewechselt haben muss – er hat sich bewegt. Die Kubisten (Picasso, Braque, Gris) folgten auf dieser Spur von mehreren gleichzeitigen Perspektiven. Und die italienischen Futuristen (Marinetti, Boccioni) erkannten, dass Geschwindigkeit die Hauptdimension der modernen Gesellschaft ist. Und erinnern Sie sich an den Streit zwischen den beiden Vertretern der Niederländischen De Stijl-Bewegung Mondrian und van Doesburg: van Doesburg hatte die Diagonale in die Komposition eingeführt. Mondrian jedoch arbeitete nur mit den 2 Parametern der Architektur: der Horizontale und der Vertikale. Die Diagonale ist seit dem Barock der Indikator von Bewegung, als Bewegung zum ersten Mal thematisiert wurde. (Denken Sie an Gemälde von Rubens, die Skulpturen von Bernini und die Architektur von Borromini.) So bezieht sich Charlottes Arbeit einerseits auf Gesellschaft und ist andererseits in einer berühmten Kunstgeschichte verwurzelt.
1966 gab Charlotte die Malerei auf und begann Objekte herzustellen, die sich entweder zu bewegen scheinen oder sich tatsächlich bewegen. Anstelle der statischen Struktur eines Bildes in einem Rahmen wollte sie Dinge herstellen, die sich bewegen können – und derart  eine Dimension des realen Lebens ausdrücken.
Das erste von Charlottes Objekten ist die graue Diagonale Faltung (1) dort drüben. Erinnern Sie sich: eine Faltung indiziert immer eine vergangene Bewegung – denken Sie an die Falten der Gewänder der klassischen Griechischen Marmorstatuen.
1967 produzierte Charlotte Reliefs (2), die man arrangieren kann wie man will. Draußen, in der Nähe des Museumseingangs sehen Sie ein Arrangement von gelben Reliefs in einer Folge à la Fibonacci, die wie eine Progression aussieht – es handelt sich nicht um eine wirkliche Bewegung, sondern um eine Bewegung in Ihrer Vorstellung. (Nebenbei: Fibonacci war ein berühmter Italienischer Mathematiker im frühen Mittelalter, der herausgefunden hatte, dass eine bestimmte progressive Folge einer Art des Wachstums in der Natur entspricht. Zum Beispiel vermehren die Kaninchen ihre Familien in einer Folge á la Fibonacci.)
Die Vierkantrohre aus Stahlblech (3) und die Vierkantrohre aus Wellpappe (4) können auf unter-schiedlichste Weise installiert werden. Charlotte übergab die finale Installation anderen, dem Kurator, dem Sammler, sogar dem Publikum, was  wirklich radikal war.  Die Teilhabe anderer war ihr ungewöhnlicher Weg, ihre Kunstproduktion zu demokratisieren. So war das Publikum nicht nur mental, sondern auch physisch eingebunden. Damit gab sie einen höchst wichtigen Teil ihrer Autorenschaft ab. Sie wollte keine einzigartigen Originale schaffen. Darum wird ihre Kunst in einer Fabrik produziert wie jede andere Ware. Und sie signierte ihre Werke nicht.
Eine der wichtigsten Dimensionen von Charlottes Kunst ist die Veränderbarkeit. Das heißt, dass die Vierkantrohre da drüben auf sehr verschiedene Weise installiert werden können. Und Veränderbarkeit ist natürlich eine besondere Art von Bewegung.
Eine andere wichtige Dimension ist die Fortsetzbarkeit. Denn die Installationen sind als Fragmente zu verstehen, was heißt, dass sie fortsetzbar sind. Die Installation ist nicht mehr ein perfektes, vollständiges Ganzes wie das traditionelle Kunstwerk. Auch Fortsetzbarkeit ist ein bestimmter Aspekt von Bewegung.
1967 trennte sich Charlotte von der Idee der vorgestellten Bewegung und begann Objekte herzustellen, die sich wirklich bewegen lassen.
Sie begann mit dem kleinen Drehflügel (5), dessen „Türen“ sich vom Publikum bewegen lassen. Wenig später produzierte sie den großen Drehflügel (6), den Sie betreten, durchschreiten und verlassen können. Es handelt sich damit um einen Transitraum. Das Objekt ist beweglich und auch ein Stück Architektur.
In der Installation der Vierkantrohre aus Stahlblech da drüben – aber auch  in der Installation aus Wellpappe – sehen Sie eine Lücke. Man kann durch das Kunstwerk hindurchgehen wie durch die Drehflügel. Es ist eine andere Art von Partizipation. Anstatt vor dem Kunstwerk draußen zu stehen, ist man drinnen. So wird es zugänglicher, auch physisch.
Die 4 türähnlichen mobilen Flächen (7) bilden, wenn sie geschlossen sind, eine Barriere und man kann die „Türen“ öffnen, um die Ausstellung zu betreten oder zu verlassen.
Das letzte Objekt – die Beweglichen Wände (8) – wurde zu Charlottes Lebzeiten nicht realisiert, weil es noch kein Material gab, das leicht genug war. Nun sind sie mit einem Wabenkern und einer harten Oberfläche konstruiert worden (auf Deutsch: ein Wabenmaterial). Die beiden Wände können bewegt werden, bis sie mit der Raumecke einen Würfel bilden, oder sie können geöffnet werden, bis sie in der Wand des Museum  visuell – verschwinden, vorausgesetzt die Mobilen Wände und die Wände des Raumes haben dieselbe Farbe. Es ist eine Art Raum, halb Kunst und halb Architektur. Charlotte wollte, dass man in dem Raum sitzen, lesen, schreiben oder sich unterhalten kann. Derart folgte sie der Idee des Russischen Konstruktivisten El Lissitzky, für den Architektur, in der man lebt und arbeitet, die Krönung der Kunst darstellte.

Bezogen auf Gesellschaft lassen alle diese Kunstobjekte an Integration denken – ein sehr aktuelles Problem: entweder man ist drin oder draußen, entweder man gehört zu denen, die drin sind oder nicht.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss die Hauptaspekte von Charlottes Kunst zusammenfassen:

1. Ihre Vorliebe für Bewegung als die dominante Dimension der modernen Gesellschaft und der Natur

2. Die Installationen sind Fragmente, die verändert und fortgesetzt werden können.

3. Charlotte machte ihren Weg von der Fläche des Bildes in den Raum, von einem Wandobjekt zur Architektur.

4. Normalerweise steht man vor einem Kunstwerk oder man geht um es herum. Charlotte jedoch wollte, dass die Leute sich auch in einem Kunstwerk aufhalten. Das war ihre Idee, in der Kunst zu leben wie im richtigen Leben.

5. Der demokratische Aspekt der Partizipation: ihre Übergabe der finalen Installation ihrer Kunst an andere.

6. Ihre Objekte werden in einer Werkstatt hergestellt wie jede andere Ware. Sie werden nicht signiert und können auch nach dem Tode der Künstlerin reproduziert werden. Alle existierende Produkte sind Reproduktionen – nur die ersten Produkte nennen wir Prototypen.

7. Ihre Produkte werden in Serien hergestellte und oft auch in Serien ausgestellt.

8. Ihre Produkte sollen zu den Kosten der Produktion, des Transports und der Galeriearbeit möglichst billig verkauft werden, so dass Leute wie Sie und ich sie kaufen können. Daher verwendete Charlotte Stahlblech und Wellpappe, sehr billige Materialien.

9. Sie wollte kein Werk für die Ewigkeit schaffen, die billigen Materialien sollten verrotten und verschwinden wie ein Lebewesen. Diese dunklen Elemente aus Stahlblech da drüben sind bald 60 Jahre alt. Sie sind ein Geschenk der berühmten Avantgarde Galerie „art & project“ in Amsterdam an das Kröller-Müller Museum. Die unterschiedlichen Oberflächen der Elemente weisen auf ihre Geschichte hin: einige sind vor 30 Jahren produziert worden, andere 2016.

10. Charlotte wollte ihre Kunst zugänglicher machen, mental durch die geometrische Formgebung und die Partizipation, physisch, indem sie die Menschen das Kunstwerk durchschreiten und im Kunstwerk sich aufhalten ließ.

Meine Damen und Herren, die Kunstszene war verblüfft, als Charlotte 1968 die Kunst aufgab und Soziologie studierte. Sie war überzeugt, dass die Herstellung von Kunst in diesen gefährlichen Zeiten ohne soziale Konsequenzen wäre. (denken Sie an den Eisernen Vorgang, an die Raketen auf deutschem Boden, an die Notstandsgesetze (die Gesetze für den Notfall, an den Krieg in Vietnam) Charlotte argumentierte, dass Kunst nicht das richtige Instrument sei, um die verknöcherte, mehr und mehr autoritäre Gesellschaft zu verändern – wie  einige Künstler jedoch dachten, die sich entschieden, politische Kunst zu machen. Charlotte Kunst ist politisch nur insoweit sie demokratisch (d.h. zugänglich) durch Partizipation und niedrige Preise ist.

Ihr Konzept und ihre Gründe, die Kunst aufzugeben sind in dem so genannten Manifest zusammengefasst, das Sie da drüben an der Wand lesen können.
Charlottes Arbeiten wurden in den besten Museen in der ganzen Welt ausgestellt, im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt/M, im Museum Ludwig in Köln, im MUHKA in Antwerpen, im Pompidou in Paris, in Tate Modern in London, im MUMOK in Wien, im Louisiana Museum in Kopenhagen, im Museu Serralves in Porto, im MOMA in New York und jetzt in der DIA Foundation in Beacon, in der National Gallery   in Singapur und bald im M+ in Hong Kong und im MACBA in Barcelona und im MUDAM in Luxemburg. Und jetzt im Kröller-Müller Museum in Otterlo. Das macht mich glücklich.
Ich danke Ihnen, dass Sie so geduldig zugehört haben. Und falls Sie irgendeine Frage haben, zögern Sie nicht, ich werde versuchen sie zu beantworten, insoweit ich das in einer fremden Sprache kann.