Kategoriearchive: Text in der Neuen Züricher Zeitung

Die Bestattung als Event (Museum für Sepulkralkultur Kassel)

Eine Designausstellung in Kassel

Nicht nur die «documenta» findet in Kassel statt. Die Stadt kann auch mit bedeutenden Museen aufwarten, darunter – als einziges seiner Art – das Museum für Sepulkralkultur. Diese merkwürdige Institution, die sich mit der Trauerkultur aus aller Welt befasst, hat immer wieder mit spektakulären Ausstellungen Aufmerksamkeit erregt. Erinnert sei an die Schau mit Särgen aus Ghana (1999) und an Ausstellungen mit Titeln wie «Last minute» (2000) oder «Schluss mit lustig» (2004). So kommt dem Museum das Verdienst zu, den Tod als Teil des Lebens wieder ins Bewusstsein zu rücken. Derzeit präsentiert das Museum unter dem leicht frivolen Motto «Dernier Cri» Bestattungszubehör, welches von 72 europäischen Designern entworfen wurde. Dabei wird das Konzept, an die Allgegenwart des Todes zu erinnern, wie wir es von Memento-mori-Darstellungen her kennen, nach einem «dual use»- Prinzip sehr drastisch umgesetzt: Zu sehen sind Bücherregale, eine lederbezogene Bank, ein Schreibtisch und ein rustikaler Schrank, die sich alle im Nu in Särge verwandeln lassen. Wohl kaum einer wird allen Ernstes auf dem eigenen Sarg am Computer sitzen, es sei denn ein Freund der Grufti-Szene. Doppelt verwendbar sind auch viele der ausgestellten Urnen – einige als Blumentopf, andere als Sektkübel. «Dernier Cri» nimmt bewusst Bezug auf die Mode und entspricht damit dem Trend zur exzessiven Selbstinszenierung, die sogar aus der Bestattung einen Event machen kann. Direktor Reiner Sörries und Kurator Gerold Eppler sehen das Museum als Vermittlungsinstanz und wollen die «abgeriegelte, selbstgenügsame Pietätsbranche» ansprechen, um die Trauerkultur zeitgemässer zu machen. Deshalb finden sich neben albernen oder prätentiösen Gestaltungen (Urne als Rakete) auch Entwürfe mit einer klaren Symbolik: etwa ein Sarg in der Form eines Samenkorns, das an das Werden und Vergehen erinnert (von Gisbert Baarmann). Wie schwierig es ist, unser Ende fasslich zu machen, kann diese anregende Ausstellung zeigen.

Burkhard Brunn Bis 18. Juni 2006 im Museum für Sepulkralkultur, Kassel.

Floraler Zauber (Emile Gallé)

Zum 100.Todestag des Glaskünstlers Emile Gallé

Der bekenntnishafte Satz «Ma racine est au fond des bois» zierte den Eingang der Fabrikationsstätte von Emile Galle´ , dem neben Rene´ Lalique wohl grössten Glaskünstler des Art nouveau. Fast unbezahlbar sind heute seine Träume aus Glas – die manchmal auch Albträume sind. Die von der romantischen Literatur inspirierten Arbeiten, darunter auch Keramiken und elegante Möbel, Unikate und Serienware höchster Qualität, trugen Titel wie «Die Seele des Wassers» oder – als Hommage an Baudelaire – «Les fleurs du mal». Die Glasformen wirken verschwimmend weich und molluskenartig, die Ätz- und Überfangtechniken sind von grösstem Raffinement, die Farben delikat bis morbid. «Man suchte nicht mehr die Klarheit – das oberste Ziel der Glasmacher von einst, auch nicht die Facettierung.
Das Glas ist weder ein Übertragungsmedium wie das Fensterglas noch ein blosses Echo wie der Spiegel. Es hat selber etwas zu sagen, und das ist das schwere oder zarte Lied der Farbe.» Diese Bemerkung eines französischen Zeitgenossen von Galle´ hebt den Stil der Jahrhundertwende gegen das klassische Bedürfnis nach Klarheit und Transparenz ab. In der Belle Epoque beginnt mit dem Impressionismus die Emanzipation der Farbe, die – als Lichterscheinung erkannt – aufhört, als blosse Lokalfarbe betrachtet zu werden. Galle´ , der Rodin und Sarah Bernhardt zu seinen Bewunderern zählen konnte, gehörte zu den Symbolisten, und sein – auch vom Japonismus beeinflusster – Stil entsprach dem Zeitgefühl einer melancholischen Dekadenz. Man liebte Sumpfpflanzen, schillernde Libellen, Orchideen, Lilien und schwere Düfte. Der am 23.September 1904 mit 58 Jahren recht jung gestorbene Künstler war ein leidenschaftlicher Botaniker, welcher der Vielfalt der Naturformen eine schwärmerische Bewunderung entgegenbrachte. «Ich träume», schrieb er, «wie köstlich ein Pflanzenleben wäre: aus einer Knospe zu entspringen, sich in acht Tagen einen Meter zu strecken, grün ins Himmelsblau zu drängen.» Die Vielfalt der Natur war für den gläubigen Protestanten Ausdruck der göttlichen Unendlichkeit. Da er der Ansicht war, dass Schönheit die in der Natur dargebotene Wahrheit sei, unterliess er es, die Motive, die er in der Welt der Pflanzen, Insekten und der Steine fand, zu stilisieren. Dieser poetische Naturalismus unterscheidet ihn vom deutschen Jugendstil, dessen Pflanzenmotive abstrakter sind.
Gallé, der auf seinen Reisen durch Europa viele botanische Gärten besucht hatte, bevorzugte allerdings die heimischen Pflanzen – auch aus politischen Gründen. Er scheute sich nicht, seine Werke für patriotische Botschaften zu nutzen: Die eingravierte Distel ist das stachlige Wahrzeichen von Nancy, wo der erfolgreiche Unternehmer einen Betrieb von 300 Mitarbeitern unterhielt. Das Lothringerkreuz, das er dem Firmenlogo beifügte, war das Zeichen des Widerstands gegen die preussische Annexion seiner Heimat. Bismarck stellte er als Dogge dar. Als überzeugter Dreyfus-Anhänger und Pazifist gehörte er zu den Gründern der Liga für Menschenrechte und wurde Präsident des Republikanischen Bundes. Galle´ war ein weltoffener, fortschrittlicher Mann: Beeindruckt von William Morris, dem Begründer der englischen Arts-&- Crafts-Bewegung, vermied er in seinem Betrieb die in der damaligen Manufaktur übliche Arbeitsteilung, um mechanische Tätigkeiten zu vermeiden. Er war wie Morris der Ansicht, dass nur ein zufriedener Arbeiter ein guter Arbeiter sein könne. Diese merkwürdige Mischung aus Fortschrittlichkeit und ästhetischer Morbidezza ist nicht untypisch für jene Zeit. Drei Jahre vor seinem frühen Tod gründete Galle´ die «Ecole de Nancy», die in der weiteren Entwicklung des Art nouveau eine zentrale Rolle spielen sollte.

König Birne und Ritter Maus (Grandville)

Zum 200. Geburtstag von Grandville

Es wurde beschuldigt und beleidigt, bis die Fetzen flogen. Mit der Sache zauste man auch die Person («ad hominem»), und danach duellierte man sich wegen Ehrabschneiderei. Mit Polemik und Satire trat die bürgerliche Öffentlichkeit auf den Plan, die sich im 18.Jahrhundert in den Buchhandlungen, Theatern, Klubs und Kaffeehäusern vorbereitet hatte. Es war die Zeit, in der die Zeitungen entstanden. Journalist, das war der aufregendste Beruf. Um à jour arbeiten zu können, benutzte die Zeitung die Lithographie, die rasch vervielfältigt werden konnte. Die saftigen Karikaturen zogen auch das breite Publikum an, und die spottlustigen Pariser hatten ihren Spass. Die Zeiten, da man bei Nacht Pamphlete an die Hausmauern klebte, waren vorbei. Rede- und Versammlungsfreiheit waren durchgesetzt. Aber es blieb die Zensur.
Kurz nachdem der Bürgerkönig Louis Philippe 1830 durch Revolution an die Macht gekommen war, gründete der umtriebige Republikaner Charles Philipon die satirische Zeitung «La caricature» und gewann Grandville neben Daumier und Paul Gavarni als Karikaturisten. Grandville – vor 200 Jahren am 15.September 1803 als Jean Ignace Isidore Gérard in Nancy geboren – war ausgebildeter Miniaturenmaler und arbeitete auch an der 1832 gegründeten Zeitschrift «Charivari» (Katzenmusik) mit. Er war es, der den Bürgerkönig als Birne («Roipoire») karikierte, die man dann später zur Verspottung von Bundeskanzler Helmut Kohl wiederentdeckte. Man fragte nicht: «Haben Sie schon die neueste ‹Charivari› gelesen? », sondern: «Haben Sie schon die neueste Birne gesehen?» Immer wieder wurden die Blätter verboten. Schliesslich knebelten die Septembergesetze von 1835 die freche Presse so sehr, dass Grandville sich zurückzog.
Grandville illustrierte Swifts «Gulliver», La Fontaines Fabeln und Defoes «Robinson Crusoe». Er gilt neben Doré als Erneuerer der französischen Buchillustration. Dann kehrte er zur «Hommes-bêtes»-Karikatur zurück, in der er unübertroffen blieb. 1842 erschien das «Staats- und Familienleben der Tiere» – ein verkapptes Sittenbild des neubürgerlichen Lebens, welches die «Metamorphoses du Jour» von 1829 fortsetzte. Er verspottete darin das «juste milieu», indem er den Vertretern des bürgerlichen Lebens Tierköpfe aufsetzte: die Offiziere mit Heuschreckenköpfen, die Gendarmen als Mistkäfer, die neureichen Schlemmer als Krokodile, die Damen als Vögel, Windhunde, Giraffen und Katzen, die Kavaliere als Gockel und die Ärzte als Blutegel sind so meisterlich gezeichnet, dass auch Typen, die man heute nicht mehr kennt, sicher getroffen scheinen. Soetwa der Volkstribun, ein herrlicher Stier, der an Gérard Depardieu in der Rolle des Danton erinnert. Zu den Tieren als Menschen lieferten berühmte Autoren wie A. und P.Musset, Balzac und George Sand die Texte – anonym. Aber Grandville entwarf auch in seinem unglaublich detailreichen Stil die dämonischsten Mischwesen. Seine phantastischen Metamorphosen bezeichnete Baudelaire als «illegitime Kreuzungen» und den Zeichner selber als «ein krankhaftes literarisches Gehirn» – durchaus nicht ohne Bewunderung. Die aberwitzigen Erfindungen in «Autre Monde» sind denen von Hieronymus Bosch, Breughel, Max Ernst und Dali verwandt. Nach dem Tod seiner Frau und seiner drei Kinder starb der Künstler 1847 im Wahnsinn. Neben Daumier war er der berühmteste Karikaturist jener Zeit. Seine Heimatstadt Nancy ehrt ihn mit einer Ausstellung im Museé des Beaux-Arts (bis 29.September), wo sich der Grossteil seines Œuvres befindet.

Schmetterlinge fliegen lassen (Jean Dubuffet)

Auf den Spuren von Jean Dubuffet

In Reden und brillanten Essays polemisierte Jean Dubuffet gegen den Professionalismus in der «kulturellen Kunst». Er hatte erkannt, dass «Millionen von Ausdrucksmöglichkeiten existieren abseits der bekannten Hauptstrasse der Kultur». Er wollte beim Betrachter «eine Erneuerung seiner Sehgewohnheiten bewirken» und glaubte, dass es über das Sehen auch zu einer Erneuerung des Denkens kommen könne. Eine Spurensuche – nicht nur in Paris.

Strichmännchen. «Und was ist das?», frage ich. Das Zünglein im Mundwinkel, malt sie mit Buntstiften eifrig an einem merkwürdigen Gebilde. «Das ist ein Schiff.» Ein Schiff? Wir befinden uns im Zug nach Lausanne. Die junge Mutter hängt mit geschlossenen Augen am Walkman. – «Jeder Mensch kann malen, wie jeder Mensch sprechen kann.» Der provokative Satz ist Programm. In Reden und brillanten Essays polemisierte Jean Dubuffet gegen den Professionalismus in der «kulturellen Kunst». «Typisch für die Kultur ist, dass sie Schmetterlinge nicht fliegen lassen kann. Sie ruht nicht eher, als bis sie aufgespiesst und etikettiert sind. Das ursprüngliche, massenhafte Gewimmel, der fruchtbare Humus, auf dem tausend Blumen wachsen können, wird von der Kulturpropaganda nicht gepflegt.» «Aufspiessen», damit meinte er das Registrieren, Analysieren, Klassifizieren, Hierarchisieren, Evaluieren, d.h. das Zuschnappen der kulturellen Begriffssysteme, das dafür sorgt, dass die «kulturelle Kunst» bloss tote Schmetterlinge hervorbringt. «Ich bin eher für das Durcheinander», schrieb Dubuffet. Warum? Eben weil für ihn «die unendliche, horizontal ausgebreitete Vielfalt unterschiedlicher Dinge» das Leben selber ausmacht. In der ihm eigenen luziden und anmutigen Ausdrucksweise schrieb er einmal, man dürfe «den Wind nicht vom Baum trennen». Lebendige Realität war für ihn nur das «gleichzeitige Nebeneinander der Vielfalt». Es ist in allen Werkphasen die durchgehende Dimension. Heterogenität gegen Homogenität – gegen die Reinheit, die in vielerlei Hinsicht eine unrühmliche Geschichte hat. Längst berühmt, verstand Jean Dubuffet sich doch so sehr als Amateur, dass er es ablehnte, zwischen «Berufskünstlern» auszustellen. Und im Museum schon gar nicht. Zu Vernissagen erschien er nicht. Ehrungen lehnte er ab. Seine Bilder verkaufte er ungern. Er wollte Outsider bleiben, nicht integriert in den Kulturbetrieb. «Fixierung des Denkens, Blei an den Flügeln, das ist der Kulturapparat», schrieb er. 1945 erfand Dubuffet für die nicht angepasste Kunst den Namen «Art brut».

FREI SEIN VON NORMEN
Im Chˆateau Beaulieu, einem hübschen Gebäude aus dem 18.Jahrhundert, ist das «Antimuseum » untergebracht. Jean Dubuffet hat seine «Collection de l‘Art Brut» der Stadt Lausanne vermacht, denn viele Art-brut-Künstler stammten aus der Schweiz. Aber wohl auch, weil der Pariser Stadtrat sich für die sonderbare Sammlung nicht interessierte. Was sind das für Künstler? Museumsdirektorin Lucienne Peiry: «Das sind Autodidakten, die den kulturellen und sozialen Mechanismen entkommen sind, d.h. Einzelgänger, Nichtangepasste, Anstalts- und Gefängnisinsassen, Medien, d.h. Menschen, die Verbindungen zu Geistern und den Toten unterhalten, exzentrische Personen, alles Menschen, die als ‹deviant› bezeichnet werden.» Das «Antimuseum » ist gut besucht. Bei meinem ersten Rundgang durch das dreistöckige, durch Galerien offen strukturierte Haus notiere ich mir – von aufgeregten Kindern umflüstert – aus den Lebensläufen der Künstler: «Einweisung in die psychiatrische Anstalt», «blind», «taub», «als zurückgeblieben eingestuft», «autistisch», «Waise», «Heim», «Vater Säufer, Mutter tot». Einer wurde eingewiesen, weil er einen Zug entgleisen liess. Unangepasst, weil kreativ? Oder kreativ, weil unangepasst? Dubuffet hatte, durch Hans Prinzhorns «Bildnerei der Geisteskranken» beeindruckt, schon 1924 erkannt, dass «Millionen von Ausdrucksmöglichkeiten existieren abseits der bekannten Hauptstrasse der Kultur». Er stand seitdem mit Psychiatern in Verbindung, die ihm Werke der abseitigen Kreativen vermittelten. Unter den erstaunlichen Bildern und Objekten fällt mir besonders ein vogelnestartig fein verstrebtes Gebilde aus dünn geschabten Rinderknochen auf, das mich an ein Gefängnis denken lässt: «Le nouveau monde» des Carabiniere Francesco Toris (1863 bis 1918), Insasse der Turiner Irrenanstalt. Mögen die Künstler der Art brut, denke ich, vielleicht frei sein von den Normen der bürgerlichen Welt, so scheint es mir doch, als wären sie dafür oft in den Grenzen ihres isolierten Bewusstseins gefangen. Mit naiver Kunst hat Art brut jedenfalls nichts zutun, denn jene sucht sich mit dem Charme ihrer geringen Mittel der Welt anzupassen. Art brut dagegen bleibt unbeugsam. Auf die oft gestellte Frage, ob er, Jean Dubuffet, selber Art brut mache: «Diesen Anspruch wage ich nicht. Ich fürchte, so weit bin ich nicht gekommen.» Und er nennt die «Heroen der Art brut» seine «Vorbilder». Der Künstler, der heute neben Picasso und Giacometti zu den Grossen der europäischen Kunst zählt, mochte damit meinen, dass es ihm nicht gelungen war – und als einem hochgebildeten, vielsprachigen Menschen auch nicht gelingen konnte –, sich ganz von den Konditionierungen der offiziellen Kultur frei zu machen.
Als Dubuffet 1944 seine Existenz als Weingrosshändler endgültig aufgegeben hatte und – schon 43 Jahre alt – zum ersten Mal in der Pariser Galerie Drouin ausstellte, machten seine Strichmännchen einen derartigen Skandal, dass sie von der Polizei bewacht werden mussten. Anlässlich einer Ausstellung in New York meinte ein boshafter Kritiker: «Kinderzeichnungen haben Charme. Zeichnungen eines alten Kindes amüsieren nicht mehr.» Doch hat nicht Picasso gesagt, er habe ein ganzes Leben gebraucht, um wie ein Kind malen zukönnen? Es geht den Grossen der Kunst darum, die Unschuld und die Freiheit zurückzugewinnen, ein Terrain, das noch nicht von sozialen Werten und Normen kontaminiert ist. «Ich will die Dinge an ihren Ausgangspunkt zurückversetzen, an ihren Nullpunkt, bevor sie Vokabular geworden sind.» Das heisst: bevor der analytische Geist der Sprache die Schmetterlinge «aufge spiesst» hat.

HERVORRAGENDER MANAGER
Seine «Collection de l‘Art Brut» hatte Dubuffet zuvor in der Rue de Se` vres Nr. 137 untergebracht. In dem mitten in Paris hinter einem kleinen, jasminduftenden Garten verborgenen Haus befindet sich jetzt die «Fondation Jean Dubuffet», die gerade eine repräsentative Übersicht seiner Arbeiten zeigt. Der Künstler hat dafür gesorgt, dass sein Werk auch nach seinem Tode unabhängig vom kommerziellen Betrieb der Öffentlichkeit zugänglich bleibt. Die Fondation besitzt über 1000 Arbeiten aus allen Werkphasen. Die vorausschauende Sicherung seiner Hinterlassenschaft und die Organisation seiner Grossprojekte aus dem L‘Hourloupe-Zyklus – jene puzzleartigen zellularen Zusammenhänge, die zuerst auf einer Serviette, dann auf Leinwänden, auf Wänden, schliesslich als begehbare Architektur («Villa Falbala») und sogar als bewegliches Theater («CoucouBazar») sich zueinem eigenen Kosmos ausweiten, in welchem das Publikum die Orientierung verliert – mögen der Bemerkung von Kurt Wyss Recht geben. Dubuffets Photograph sagte mir in Basel: «Er war auch ein hervorragender Manager.» Anders als der gleichaltrige Giacometti, der mit seinem Bruder Diego in einem Loch hauste, verstand es Dubuffet, seine Arbeit und sein Leben zu organisieren. Ja, auch sein Leben. Der «Vertreter der Unordnung» (J.D.) war ein ordentlicher Mensch. Ich sehe in der Rue Lhomond, wo der Künstler von 1935 bis 1944 wohnte und arbeitete, zum Atelierfenster hinauf. Dort muss es gewesen sein, dass er Le Corbusier ein Bild schenkte, weil das Verkaufen ihm unanständig erschien. Er wohnte in der Nr. 34 und arbeitete in der Nr. 35. Die alten, kleinstädtisch wirkenden Häuser stehen einander dicht gegenüber. Um zur geliebten Lilli zukommen, brauchte er nur über die Strasse zu springen. «War es ein glückliches Verhältnis?», frage ich Madame Armande de Trentinian- Ponge, Dubuffets engste Mitarbeiterin und lange Direktorin der Fondation: «Ja, sehr!», sagt sie lächelnd. Übrigens hat Dubuffet seine Bilder immer wieder als ein «Fest» bezeichnet. Er wollte, dass nicht nur er, sondern auch die anderen sich freuten. In Madame de Trentinians Wohnung steht auf einer Staffelei ein Bild aus der letzten Serie der «Non-lieux». Der Hintergrund ist schwarz, und mit der Fröhlichkeit ist es vorbei. 1984, kurz vor seinem Tode, bezeichnete sich Dubuffet oft als Nihilisten, der die etablierte Wirklichkeit als illusionär betrachtete und die Unterscheidung zwischen Sein und Nichtsein nicht mehr gelten liess. Vor dem Haus in der Rue de Vaugirard 114bis, in dem er die längste Zeit wohnte und 1985 gestorben ist, treffe ich auf einen Geschäftsmann aus dem Viertel, der sich an Dubuffet erinnert: «Ein grosser Künstler, ein grosser Mann!» Er sagt mir, dass die Ateliers im hinteren Haus heute nicht mehr existieren. Es war dort nach dem Kriege so kalt, dass Dubuffet mit Lilli in die Sahara floh und sich für die Spuren im Wüstensand begeisterte. Als ich die neuen Pariser Papierkörbe sehe: grüne durchsichtige Säcke mit der Aufschrift «Vigilance Proprete´ », fällt mir der kleine Film ein: Dubuffet verlässt in Hut und Regenmantel – er ging stets sehr korrekt gekleidet – sein Haus in Vence (bei Nizza), lüftet den Deckel einer Mülltonne, sucht wie selbstverständlich darin herum und lässt etwas in die Tasche seines Trenchcoats gleiten. Er hat etwas für seine Assemblagen gefunden. Denn für ihn waren Collage und Assemblage die adäquaten Methoden, ungewohnte Zusammenhänge herzustellen. «Ich glaube, das Unpassende ist ein wirksames Mittel. » «Kakaismus!», heulte die Kritik angesichts seiner ersten Materialbilder, als er in den «hautes pˆates» Ölfarbe mit Dreck gemischt hatte. Die dichotomischen Unterscheidungen hässlich und schön, gut und böse, wahr und falsch erklärte er zureiner Konvention, die er nicht anerkannte. Die «Corps de Dames» sind denn auch grotesk anmutende Frauenkörper, die eher wie schrundige Landschaften aussehen. Ein Kritiker meinte, Dubuffet habe die Pariserinnen platt gemacht wie Crˆepes. ALLES IST SCHÖN Der Körper der Frau, war er nicht in der abendländischen Kultur zum Schönen schlechthin stilisiert worden? Alles ist schön, meinte der Künstler, alles. Was er wollte, ist, «beim Betrachter eine Erneuerung seiner Sehgewohnheiten [zu] bewirken». Und da Sehen und Denken eng miteinander verflochten sind, würde es, wie er glaubte, über das Sehen auch zu einer Erneuerung des Denkens kommen können. Aber er lebte und kleidete sich wie ein Bourgeois. Andreas Franzke, dem wir die Herausgabe einer Auswahl aus Dubuffets umfangreichen Schriften verdanken, erzählte mir über den Freund: «Bei Dubuffet waren das Private und das Professionelle sehr getrennt. Man wurde nur ausnahmsweise in den Salon gebeten, und bei Tisch wurde über Kunst nicht gesprochen.» Er hatte in seiner Vaterstadt Le Havre, wo er in gutbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen war, das humanistische Gymnasium besucht – zusammen mit dem mit ihm befreundeten Sprachkünstler Raymond Queneau. Franzke erinnert sich, dass er «Lateinisch sprach wie unsereiner Englisch». Dubuffet war stets der Beste, erinnern sich alte Freunde. Später sprach er nicht nur viele Sprachen, sondern interessierte sich besonders für die Umgangssprache und verfasste mehrere kleine Werke in phonetischer Schrift, d.h., auch hier suchte er, den Regeln zuentkommen und am sinnlich Unmittelbaren zubeginnen. Er hatte Orgelspielen gelernt, machte aber zusammen mit dem Maler Asger Jorn eine Musik, die aus Geräuschen bestand. Geräusche waren für ihn ein Stück Leben, Musik aus Tönen dagegen eine Abstraktion. Bevor er den realitätsabgehobenen Kosmos L‘Hourloupe entwickelte, war es stets das Alltägliche, Unbeachtete, das ihn anzog: Graffiti, Kinderzeichnungen, Marktbudenschilder, die Oberflächen von Mauern und Strassen. Mit Freunden im Auto unterwegs, hielt er fortwährend an, um irgendein kleines Ensemble von Steinchen, Gräsern und Überbleibseln zu untersuchen, stets das, was als nebensächlich gilt. Um aus dem System L‘Hourloupe sein totales Theater «Coucou Bazar» zu entwickeln, das seine Bilder beweglich machte – die durch Wyss‘ Vermittlung von Basler Fasnachtskünstlern kostümierten Tänzer unterschieden sich von den Kulissen nur dadurch, dass sie sich bewegten –, musste er riesige Hallen anmieten, z.B. die Cartoucherie im Park von Vincennes. Man fährt dorthin mit der Metro Linie 1, diesem wunderbaren, nicht in Waggons abgeteilten Zug, der eine 250 Meter lange Durchsicht erlaubt. So geschieht es, dass ein weit entfernter Musette-Walzer langsam näherkommend sich zuletzt konkretisiert: Ein junger Russe spielt auf seiner Ziehharmonika. In der Cartoucherie liess Dubuffet die Maquetten seiner Projekte mit Hilfe eines Pantographen vergrössern und in Puzzlestücke umsetzen, die mit einem glühenden Draht aus Polyester herausgeschnitten wurden. Ich wollte den Ort sehen, wo er mit wechselnden, bis zu20 Mann starken Equipen von Handwerkern, Technikern und Künstlern gearbeitet hat. Nach «Coucou Bazar», der nach einem Desaster im Grand Palais erst 1978 in Turin zu Dubuffets Zufriedenheit aufgeführt worden war, befinden sich dort heute diverse Theater, darunter das «the´ aˆ tre de soleil». Kostümierte Schauspieler sitzen an ihren Wohnwagen und lesen ihre Rollen zwischen spielenden Kindern.

WIDERSPRÜCHLICHKEITEN
Dubuffet hatte seine Arbeiten in den renommiertesten Kunsttempeln gezeigt: im MoMA, im Guggenheim, auf der Documenta und der venezianischen Biennale. Der Kulturapparat hat inzwischen auch sein Werk ergriffen und beginnt es zuverdau en. Als ich Madame de Trentinian frage, ob ihn die Anerkennung verdross, meint sie: «Ja und nein.» Für Dubuffet war die Anerkennung der Beweis, dass er sich vom Gewohnten noch nicht völlig frei gemacht hatte. Erntete er dagegen Ablehnung, «fühle ich mich», wie er schrieb, «in jeder Hinsicht bestätigt, aber gleichzeitig verbittert durch die öffentliche Missachtung». Mit dieser Widersprüchlichkeit lebte er. Dubuffet wusste, dass auch seine widerborstigen Werke irgendwann der «kulturellen Kunst» angehören würden. «Ich weiss zwar, dass wir uns niemals vollständig von der Konditionierung und der Bezugnahme auf die Kultur befreien können. Aber dass wir es nicht restlos können, hindert uns nicht, dass wir es bis zueinem gewissen Grade versuchen.» Er wusste um die Unmöglichkeit und tat es trotzdem. Heroismus? Anspruchsvolle Bescheidenheit? Es geht um die Freiheit. «Jeder Mensch ist ein Künstler» – das Joseph Beuys zugeschriebene Wort stammt ursprünglich von Dubuffet.

Die Revolution des Impressionismus (Émile Zola)

Wegbereiter der Moderne: Zola als Kunstkritiker

Malen, was man sieht, nicht, was man weiss: Émile Zola, der über lange Zeit hinweg die alljährliche Pariser Ausstellung im Salon – Gegenwartskunst des damaligen Frankreich – kunstkritisch begleitete, verteidigte gegen die überkommene Tradition den Neuansatz der Impressionisten, denen er massgeblich zum Erfolg verhalf.

Wer heute an einem Gemälde von Manet oder Monet sein Wohlgefallen hat, ist sich selten bewusst, dass diese beliebt gewordene Malerei einmal skandalös gewesen ist, dem Inhalte nach wie auch durch die «peinture». Manets «Olympia» machte Skandal, weil das Modell offensichtlich eine Hure ist, das «Frühstück im Grünen» wurde abgewiesen und im Salon des Refuse´ s verhöhnt, denn zwischen zwei bekleideten Männern blickt dem Betrachter selbstbewusst eine nackte Frau ins Gesicht.
Es war Émile Zola, den wir als grossen naturalistischen Romancier verehren, der die Impressionisten massgeblich durchgesetzt hat. Er schrieb dreissig Jahre lang – von 1866 bis 1896 – scharfzüngige Berichte über die alljährliche Ausstellung im Pariser Salon, zu welchem die Künstler ganz Frankreichs bis zu 5000 Bilder einschickten. Es war die grösste Kunstmesse der Welt. Als Kunstkritiker polemisierte Zola sowohl gegen den etablierten Kunstbetrieb mit der Cliquenwirtschaft der Jury wie auch gegen die opportunistischen Salonmaler des zweiten Kaiserreichs. In seinem Roman «L‘OEuvre» stellt er in der Figur des Claude Lantier den genialischen, revolutionären, von Selbstzweifeln gequälten Maler dar, der sowohl Ähnlichkeit mit Manet als auch mit Cézanne hat. Der kündigte deshalb seinem alten Jugendfreund die Freundschaft auf.

SEHEN ODER WISSEN
Die Schilderung des Kunstbetriebs erinnert in vielem an heute. Obwohl man behauptet hat, in seinem Kunstverständnis sei Zola beim Realismus Courbets stehen geblieben, den er in der Tat sehr bewundert hat, zeigt die genaue Lektüre der Salonberichte jedoch, dass er das Revolutionäre des Impressionismus sehr wohl verstanden hat, wenngleich er Cézanne Bruch mit der Perspektive ebenso wenig begriff wie andere. Treffsicher kritisiert der Naturalist die altmeisterliche Feinmalerei, bei welcher der Maler nicht male, was er sehe, sondern was er wisse: die kulinarische Kunst mit «Figuren aus Vanillepudding», die Anekdotenillustrationen und Idealisierungen der Historienmaler, welche für die Gebildeten nach kunstfremden Ideen anspielungsreiche Phantasiegebilde schufen, die Genre-Bilder «zur Möblierung», die Hierarchie der Malerei, in welcher die erfindungsreichen Historienmaler den obersten, die Landschaftsmaler dagegen – als blosse «Nachahmer» der Natur – einen unteren Rang einnahmen, und er kritisiert den alten, aber noch immer geltenden klassizistischen Massstab des «absolut Schönen», dem auch der moderne Künstler nahe kommen müsse.
Zola vertrat im Gegenteil die Ansicht, der Maler müsse alles erworbene Wissen ausschlagen und das malen, was er tatsächlich sehe. «Die ganze Persönlichkeit des Malers besteht in der Organisationsweise seines Auges», schrieb er. Im Widerspruch zum deterministischen Konzept seiner Romane billigt Zola einem Maler wie Manet Genie zu, das sich von allen hemmenden Konventionen befreien kann. Malerschulen lehnte er darum ab. Gegen Proudhon, der von der realistischen Kunst verlangte, sie solle eine Sittenkritik sein, und sie damit unter den Primat sozialen Nutzens stellt, verteidigt Zola die Freiheit der Kunst: «Meine Kunst dagegen ist eine Verneinung der Gesellschaft, eine Bejahung des Individuums, ausserhalb der Regeln und sozialen Notwendigkeiten.» Zola war, wie Tschechow, davon überzeugt, das Publikum sei fähig, aus einer Beschreibung, wenn sie wahr ist, seine Schlüsse zu ziehen. Moralisieren lag ihm fern. Zolas Leitstern war allein die Wahrheit. Erstaunlich bleibt, wie weit er – als «Naturalist» – den von den Impressionisten und Cézanne vollzogenen Paradigmenwechsel mitträgt. Über seine Malerfreunde schreibt er: «Für sie ist das Sujet ein Vorwand zum Malen.»

WAS ODER WIE
Den Keim der modernen Malerei hat Zola damit klar erfasst: die Lösung vom Sujet und die Hinwendung zur «peinture». Es geht nicht mehr um das Was, sondern um das Wie. Es beginnt die Befreiung vom Dienst der Abbildung, die man der aufkommenden Photographie überliess. Zola, Vorkämpfer des Naturalismus – welcher sich nach gängiger Auffassung vom Realismus durch seinen wissenschaftlichen Anspruch abhebt –, versteht die Impressionisten als Naturalisten, insofern sie das Licht analytisch zerlegen und die Ursachen und Wirkungen erforschen. «Das Licht wird die Seele des Werkes.» Damit erkennt Zola das Licht als die Essenz der Malerei. Diese tiefe Einsicht ist etwas anderes als das Konzept objektivistischer Widerspiegelung der Aussenwelt. Anders als Proudhon, der – wie «politische» Kunst meist – auf der erkennbaren Wiedergabe der sichtbaren Realität besteht, hat Zola begriffen, dass die revolutionäre Kraft der Kunst darin liegt, mit den alten Sehgewohnheiten zu brechen und so die Welt auf eine neue Weise wahrzunehmen. Das Licht spielt über die Malerei hinaus in Frankreich als Metapher der Aufklärung – dem Siècle des lumières – eine wichtige Rolle. Die Vorstellung, Licht in alle Winkel der Welt zu tragen, wo Elend, Laster und dunkle Machenschaften nisten, hat Zola geteilt. Um Licht in die Dreyfus-Affäre zu bringen, riskierte der Romancier sogar das Exil. Sein furioser Artikel «J‘accuse» ist ein Musterbeispiel für das in Frankreich typische politische Engagement von Künstlern und Intellektuellen. – Zola starb an einer Rauchvergiftung. Ein «Patriot», der den couragierten Bürger als «Judenfreund» hasste, soll nachts den Kamin verstopft haben. Man erklärte den Mann für verwirrt.