Kategoriearchive: Text in der Frankfurter Rundschau

Begegnung mit einem einbeinigen Stern

Mondfamilie. Oder: Begegnung mit einem einbeinigen Stern

Die Besprechung war früher zu Ende. Was macht man am Stuttgarter Hauptbahnhof mit einem Stückchen Zeit? Gegenüber gibt es einen Geschenkartikelladen. Sonne-Mond-und-Sterne stehen im Schaufenster auf einem kleinen grünen Podest. Die Sonne mit dem runden Gesicht einer vergnügten Bauersfrau hat große rote Pampuschen an und tut, als wolle sie sich gleich eines der Sternchen fassen, um es zu Bett zu bringen. Es sind vier Sternchen im Hemd, mit roten Backen und Kußmäulchen. Der Halbmond, in nachtblauem Sternenmantel, stützt sich auf einen Stab, offenbar ist er schon älter. In der Linken hält er merkwürdigerweise einen roten Becher. Vielleicht eine Sammelbüchse? Denn alle sechs sehen auf dem grünen Podest ein wenig wie Schausteller aus, die Sonne, Mond und Sterne bloß spielen.
Es sind Figürchen aus dem Erzgebirge. Sie erinnern mich an die Engelskapelle früher unterm Weihnachtsbaum. Ich würde Sonne-Mond-und-Sterne gern kaufen. Aber das größte der vier Sternchen hat nur ein Bein.
"Der hat nur ein Bein."
"Chefin, der Stern hier hat nur ein Bein."
"Das tut mir leid. Mit einem Bein können wir Ihnen die Gruppe nicht verkaufen, die geht retour. Ein Produktionsfehler. Wir haben noch andere schöne Figurengruppen aus dem Erzgebirge."
Währenddessen schaue ich dem Stern unter den Rock. Kein zweites Bein ist da abgebrochen! Der hat nie mehr als ein einziges Bein gehabt. Ich bekomme den Stern, ich kaufe die Gruppe. Warum nur ein Bein? Wieviele Beine haben Sterne denn eigentlich? Wenn das so ungeklärt ist, kann man nicht ausschließen, daß es auch einbeinige Sterne gibt, oder?
Die Gestirne als Kleinfamilie setzen für die Kinder das unfaßbar Große ins faßbar Kleine um, ganz so, wie es auch die Metapher vom "Himmelszelt" tut. Aber egal wie distanziert wir später den Mond als Hausvater betrachten mögen: Er und "Frau Sonne" gehören nun mal in den kindlichen Horizont, an dessen wohlige Beschränktheit wir uns gern erinnern. Sollten sich Kinder damit zufriedengeben, daß auch Sterne zur vertrauten Familie der Zweibeiner gehören, so wird man doch für die auffallende Einbeinigkeit eine plausible Erklärung finden müssen. Sagt man die nackte Wahrheit, ist die Luft raus aus der gemütlichen Metapher der "Mondfamilie", und man hat die ganze Astronomie am Hals. Mit feinem Witz deutet das einbeinige Sternchen uns das Illusionäre der Kinderwelt an. Die "Mondfamilie" ist nicht naiv, sondern stellt Naivität dar (es sind Schausteller!) und ironisiert sie zugleich. Das ist reflektiert und amüsant. Volkskunst dieser Art mag sonst wohl niedlich oder lustig sein, geistreich ist sie selten.
Die erzgebirgischen Holzfigürchen sind von grundsätzlich anderer Art als etwa die Typen von Disney-World, die mit rollenden Augen und gummiartigen Gliedern stets wie von der Tarantel gestochen in einer Welt herumsausen, wo sogar Toaströster auf zwei Beinen laufen. Dagegen haben die hölzernen Erzgebirgler eine bodenständige Ruhe. Sie vermitteln eine statische Welt, wo alles an seinem Platz bleibt. Die Holzfigürchen gewinnen ihre Würde durch die Symmetrie ihres gedrechselten Körpers. Während zu Anfang unseres Jahrhunderts Kunst und Literatur die Geschwindigkeit zum Thema machten, die seit der Erfindung der Eisenbahn, des Autos, des Flugzeugs, des Telegraphen und des Films zu einer dominierenden Dimension des modernen Lebens geworden ist (eine Dimension der Gewalt, wie der französische Philosoph Paul Virilio ausgeführt hat), bleibt die erzgebirgische Volkskunst fest in den Fugen.
Die Würde der Englein und der Sternchen liegt weniger in ihrem Status als in der konservativen Unangepasstheit an das Tempo der zeitökonomisch trainierten Moderne. Während die Comic-Figuren, gestikulierend und Grimassen schneidend, neben dem technischen Fortschritt einherhecheln, der alles um- und umwälzt, scheint die kindliche Welt der Holzfigürchen Bestand zu haben. Diese rührende Beharrlichkeit suggeriert uns tröstlichen Stillstand und eine Überschaubarkeit, die wir in der Realität niemals haben. Alwin Seifert, einst Direktor der "Spielwarenschule Grünhainichen", war sich des Sachverhalts wohl bewußt, als er 1922 die Spielzeugmode der "Brettertiere" kritisierte, "wo beinahe kein Teil des Tieres in Ruhestellung bleibt. Es zappeln beim Pferde die Beine, der Kopf, der Schwanz und beim Reiter gar noch der Zylinderhut. Alles zappelt und bewegt sich". Und wird dadurch lächerlich.
Einen Betrieb, der die Beschaulichkeit seiner Produkte mit subversivem Witz garniert, wollte ich gern kennenlernen. Auf der Frankfurter Messe hat keiner im Hauptquartier der ostdeutschen Geschäftsleute Sonne-Mond-und-Sterne im Sortiment, aber einer verrät mir den Namen des Herstellers. Ich beschließe, ins Erzgebirge zu fahren. Dort, im sogenannten Weihnachtsland, stelle ich mir vor, sitzen die braven Dreher und Schnitzer in ihren niedrigen Hütten und halten die Zeit auf.

Der unbekannte Sprayer

Es tut mir (nicht) leid

Das Wort "Entschuldigung" auf einem Steinsockel vor der Frankfurter Universitätsbibliothek ist doch mal was anderes als "Bullenschweine!", "Kapitalistensäue!", "Sie haben Heike umgelegt!" oder "Olga kommt gut", "Ich liebe dich, Andy!". Es unterscheidet sich aber auch von Fäusten, die wie sowjetische Tanks aus dem bunten Graffiti-Gezack drohend auf dich zurasen.
Kein Aufschrei erboster Kämpfer, keine Powergeste ungeliebter Teenies, keine überlebensgroße Botschaft aus der Intimsphäre, sondern im Gegenteil: "Entschuldigung". Bitte um Vergebung. Für was? Was hat der Typ getan? Woher soll ich das wissen.
Nein, der Witzbold entschuldigt sich nicht für etwas, das wir nicht wissen können, sondern dafür, daß er auf den Sockel "Entschuldigung" geschrieben hat. Das Sprayen selber ist die Tat, für die er sich entschuldigt. Von "Selbstbezüglichkeit" sprechen die Kunsttheoretiker, wenn ein Bild ausschließlich auf sich selbst verweist und nicht darstellend oder symbolisierend auf etwas, das außerhalb seines Rahmens liegt.
So bleibt das Kunstwerk ganz bei sich, es dient nicht zur Illustration von etwas anderem, es ist autonom.
Ähnlich selbstbezüglich ist das Graffito "Entschuldigung", aber eben nicht ganz. Denn anders als das autonome Bild redet "Entschuldigung!" den Lesenden an und tritt als Sprechakt, der immer etwas außerhalb seiner selbst bedeutet, ausdrücklich aus der Geschlossenheit des Selbstbezugs hinaus.
"Entschuldigung!" schafft einen Kontakt, indem es das Publikum zu einer Handlung auffordert, zur Entschuldigung des hingeschmierten Wortes "Entschuldigung" nämlich. Ich kann mich nun entscheiden, ob ich die verbotene Tat verzeihe oder nicht. Doch, ich verzeihe großzügig, denn die Sache ist, nun ja, geistreich eben. Etwas Seltenes.
Der Witz der "Botschaft" besteht nicht nur in ihrer Selbstbezüglichkeit, sondern in der Vorsätzlichkeit der Entschuldigung. Wer begeht schon eine Tat, um sich für sie entschuldigen zu können? Man entschuldigt sich nachträglich und nicht dadurch, daß man die Tat begeht.
Gewiß, es gibt Leute, die aus der Entschuldigung eine Lebenshaltung machen: Tut mir leid, daß ich geboren bin, denn bei jeder Handlung lade ich Schuld auf mich und wenn ich nicht handle, leider auch. Das wäre das Gegenteil von Graffiti-Power. Aber zu denen gehört unser Sprayer nicht. Denn das Entschuldigen macht dieser heilen Seele Spaß.

Volterra

Maßkleid für die Spröde
Volterra steht am Scheideweg – Ein Zukunftsentwurf

Die Touring-Reisebusse biegen nach San Gimignano ab. Meist fällt den Touristen sogleich der Vergleich mit Manhattan ein, und die merkwürdigen Türme werden schon vom Bus aus ins Video gezogen. San Gimignano ist die einzige toskanische Stadt, in der die im Mittelalter allgemein verbreiteten Geschlechtertürme noch erhalten sind. Das Städtchen hat es geschafft: Es verkauft sich als Perle der Toskana. Boutiquen, Keramikläden und die mit Hilfe der UNESCO restaurierten Häuser geben der noch in den 70er Jahren hinfällig anmutenden Bergstadt den Charme Schweizer Saturiertheit. Liebhaber malerischer Morbidezza finden es hier zu säuberlich. Aber wer kann etwas dagegen haben, daß es den Einwohnern nun besser geht? Doch sind es noch die alten Bewohner? Wenige. Viele leben am Rande der Stadt und vermieten ihre Wohnungen im Zentrum an Feriengäste. Wo würden sie hier noch bekommen können, was man zum täglichen Leben braucht?
Ein paar Kilometer weiter in die Berge hinauf wird der Ausblick weiter und großartiger. Hinter den gestaffelten Silhouetten karger Hügel glänzt manchmal das Meer. Dort oben liegt Volterra, die mauerumschlossene "Stadt des Windes und des Steins". Der erste Eindruck, von San Gimignano aus, ist die vorspringende und langhingezogene Fortezza, welche die Häuser verdeckt. Die abschreckende Wirkung der gewaltigen Festungsanlage galt nicht nur dem äußeren Feind. Die Medici hatten den riesigen Bau als Zwingburg angelegt, um den aufständischen Volterranern das Kreuz zu brechen. Es ging um Alaun.
Die Niederwerfung ließen sie 1472 durch jenen berühmten Federigo da Montefeltro besorgen, der sich in Urbino einen Musterstaat errichtet hatte, zu dessen Verschönerung er Volterras Kirchen plünderte. (Piero della Francescas Gemälde in den Uffizien zeigt das merkwürdige Profil des kunstliebenden Condottiero, der sich die Nasenwurzel hatte heraus schneiden lassen, um mit dem linken noch verbliebenen Auge auch die Feinde auf der rechten Seite erkennen zu können.) Die Fortezza, in welche die Medici dann ihre politischen Konkurrenten aus der Pazzi-Familie verbannten, gilt auch heute als sicheres Zuchthaus. Hier saßen bis vor kurzem die Terroristen der "Brigate Rosse" neben den Mafiosi ein.

Gefangenenwärter ist ein begehrter Arbeitsplatz, seitdem als Folge eines Reformgesetzes die über 5000 Patienten zählenden Psychiatrischen Anstalten in· den 70er Jahren aufgelöst wurden. Sie waren bis dahin der größte Arbeitgeber der Stadt. Der Alabaster, der wie Carrara- Marmor und Murano-Glas einst zu den edlen Einrichtungsmaterialien kultivierter Bürgerhäuser gehörte, hat noch in jüngster Zeit 1500 Menschen Arbeit gegeben. Heute sind es 200. In den Romanen des 19. Jahrhunderts war das nebelfarbene, geäderte Material eine geläufige Metapher, um die zarten Schultern vornehmer Damen zu beschreiben. Alabaster gilt heute als altmodisch. Die Kleinstadt hat 12 500 Einwohner und viele Arbeitslose. Die Jugend geht fort.

Während sich das benachbarte San Gimignano herausputzte und dem Massentourismus in die Arme warf, geschah in Volterra wenig. Die traditionell von den Kommunisten verwaltete Stadt blieb wie sie war, solange die Leute Arbeit in den beiden Anstalten und den Alabasterwerkstätten hatten. Die Stadt ist im Wortsinne intakt: Vom Eisenwarenladen bis zum Schuster sind noch alle Voraussetzungen des kleinstädtischen Alltags erhalten. Treffpunkt der Bürger ist die Kreuzung der Via Gramsei und der Via Giacomo Matteoti, nicht die Piazza.
Geographisch gesehen liegt Volterra in der Mitte der Toskana, doch ist es über die Bergstraßen umständlich zu erreichen. Die Unberührtheit und Abgelegenheit in einer Landschaft, deren Herbheit sich von der kultivierten Anmut der übrigen Toskana unterscheidet, haben der verschlossenen Stadt feste Freunde geschaffen: Freunde des Spröden, die bekanntlich zu den anspruchsvolleren Liebhabern gehören. Darunter eine nicht geringe Zahl Deutscher, die sich für immer um Volterra niedergelassen haben. Im Juli 1995 hat der neue Bürgermeister die ansässigen Ausländer zum Gespräch eingeladen. Er wollte auch sie in seine Pläne einbinden. Was kann man tun, um der alten Stadt aufzuhelfen, ohne daß sie ihren Charakter verliert? Zunächst muß man verstehen, daß Städte von der Art Volterras wirkliche Individuen sind, einzigartig, unverwechselbar und sehr verletzlich.
Ivo Gabellien von der Partita Democratico della Sinistra (PDS), der reform-kommunistischen Partei mit dem Emblem der grünen Eiche, hat 1995 die Kommunalwahl gegen Grüne und Berlusconis Forza Italia mit 67 Prozent der Stimmen gewonnen. Sein Konzept zur Erhaltung der Identität der Stadt gefiel den Volterranern, die Veränderungen skeptisch gegenüberstehen. "Unser größter Reichtum ist die Geschichte", sagt der Bürgermeister. Er weiß, daß Volterra heute am Scheidewege steht, und er hat das Glück, aus den Fehlern anderer Kommunen lernen zu können. Angesichts der Verheerungen, die der Massentourismus anrichtet, sieht er die Überlebenschance Volterras in einem "turismo di qualita". Anstelle der Eintagstouristen, die nach dem Besuch des berühmten Etruskischen Museums zu den Bussen eilen, wünscht er sich Gäste, die länger bleiben - und wiederkommen. Engagierte Unterstützung erhält der neue Bürgermeister von der "Villa Palagione", einem Kultur- und Bildungszentrum von Deutschen und Italienern, die wenige Kilometer vor Volterra das Centro Interculturale aufgebaut haben. Durch ihre Verbindung zu deutschen Volkshochschulen und mit Unterstützung des eigens gegründeten Vereins Dialoge International ist es den entschlossenen Europäern gelungen, Bildungstouristen nach Volterra zu ziehen und als Stammgäste zu gewinnen. Ein alter Landsitz der Medici, brombeerüberwuchert und bis zum Schafstall heruntergekommen, wurde zu Unterrichts- und Übernachtungsräumen ausgebaut und mitsamt der verspielten Fresken liebevoll restauriert. Die Sprachschüler blicken weit über das karge Hügelland. Ein Autofenster blitzt in der Sonne auf. Im Mittelalter hätte man Alarm gegeben: ein Aufblitzen in der Ferne, das wären die Lanzen und Schilde des anrückenden Feindes gewesen.

"Zweck des Bildungszentrums ist die Förderung und Pflege von internationalen, insbesondere europäischen Begegnungen, der Völkerverständigung, der Jugend- und Erwachsenenbildung im interkulturellen Bereich", heißt es in der Vereinssatzung. "70 Prozent der Teilnehmer an den vom Centro angebotenen Kursen und Exkursionen kehren wieder", sagt Antonella Stillitano, die Sprecherirr des Bildungszentrums. Die resolute Italienerin hat in Frankfurt unterrichtet und spricht das Deutsche so fließend wie ihre Muttersprache.
Seit einiger Zeit schon suchen die Leute von der "Villa Palagione" nach Wegen, um sich an der Gestaltung der Kommune aktiv zu beteiligen. Sie haben langjährige Erfahrung mit dem vom Bürgermeister gewünschten "turismo di qualita" und bieten sich der Kommune als kompetente Partner an. Eines Tages im Herbst 1993 kam man an der kleinen Theke des "Salone", wo die Gäste sich abends einfinden, um ihren Amaro zu nehmen, auf die merkwürdige Piazza Volterras zu sprechen. Warum sie keine typische italienische Piazza ist, auf der man sich trifft, darüber gab es mancherlei Vermutungen. Jemand behauptete, auf dem Platz habe einstmals der Galgen gestanden.
Aus dem Thekengespräch ergab sich eher beiläufig ein Kontakt zum Fachbereich Architektur und Städtebau der Gesamthochschule/Universität Siegen. Die Mitarbeiter der "Villa Palagione" waren auf erfahrene Praktiker gestoßen, die professionelle Analysen und Vorschläge machen könnten. Sie erkannten die Chance einer praktischen Zusammenarbeit und luden Diedrich Praeckel (Partner im Frankfurter Architekturbüro Speer + Partner), dessen Mitarbeiter und zwölf Studenten ein, in ihrem Palazzo an der Flanke des Monte Voltraio über Volterras Probleme ein städtebauliches Seminar abzuhalten, im besonderen über Eigenart und Funktion der Piazza.
Die Studenten kamen im Oktober des folgenden Jahres nicht unvorbereitet. Um Kriterien zur Lösung des Ausgangsproblems zu gewinnen, hatten sie Plätze anderer italienischer Städte studiert und in einheitlicher Darstellung und gleichem Maßstab gezeichnet: Plätze in Florenz, Rom, Siena, Bergamo, Pienza, Verona, San Gimignano dienten zum Vergleich. Um über die problematische "Piazza dei Priori" ein Urteil zu gewinnen, wollte man die Stadtstruktur untersuchen. Alle Plätze Volterras sollten zu verschiedenen Tageszeiten beobachtet werden. Bald sahen die Volterraner überall Studenten mit Zeichenblöcken und Fotoapparaten sitzen. Das Programm dieser behutsamen Annäherung wurde in zehn Tagen intensiver Arbeit in die Tat umgesetzt. Die Kommune hatte für das Seminar die ebenerdige, verglaste Loggia des bischöflichen Palastes zur Verfügung gestellt, der direkt an der "Piazza dei Priori" liegt. Unter den Augen von Einheimischen und Touristen baute die Studiengruppe ihrE Modelle und arbeitet e ihre Veränderungsvorschläge aus, bei denen es sich selbstverständlich nur um sehr vorsichtige Eingriffe handeln konnte.

Leonardo Benevolo sagt, wir verdankten unsere Vorstellung, daß eine Stadt ein individuelles Gebilde mit eigenem Leben sei und ein geographischer und sozialer Ort, an dem sich unsere Erfahrung bildet, der im Mittelalter gewachsenen Urbanität. Diese Feststellung wurde in einem einleitenden Seminarvortrag dahingehend interpretiert, daß Städte wie Volterra ihre Identität als unverwechselbare, einzigartige Orte sozialer Erfahrung wiederzugewinnen und zu verteidigen haben: gegen den Trend nivellierender Standardisierungen und gegen den Einbruch der Geschwindigkeit in die Stadt. Es geht um die Verteidigung des Raums gegen die Zeit. Der Automobilismus hat auch in Volterra das soziale Leben, soweit es sich auf der Piazza noch zeigte, zerstört. Die Piazza war zum Parkplatz verkommen, sichtbarer Ausdruck des Niedergangs der "vita communis".
"Die Piazza dei Piori ist in einer Woche autofrei", wird der Bürgermeister später der Siegener Projektgruppe verkünden. Die Parkplätze würden vor die Stadtmauem gelegt. Gabellieri, der mit der Parole "Der Bürgermeister für die Bürger" gegen die "Forza ltalia" angetreten war, die sich eine Schnellstraße wünscht, um Volterra aus dem Abseits zu holen, möchte für sein Konzept "turismo di qualita" nur das vorhandene Straßennetz ausgebessert haben. Die italienischen Kommunisten waren übrigens überall die ersten, die den Autoverkehr aus dem "centro storico" hinausdrängten. Was ihre Städte anging, waren sie immer konservativ. Ihre Stadtplanung etwa in Bologna oder Siena gilt als vorbildlich.

Die Präsentation der studentischen Bestandsaufnahme wurde zu einem unerwartet großen Erfolg, einem richtigen Fest. Wohl weit über fünfhundert Volterraner begutachteten die ausgestellten Zeichnungen und Modelle mit großem Wohlwollen. Aber auch kritisch: So kommentierte eine alte Volterranerin den harmlosen Vorschlag, die Docciola-Treppe mit Oleanderbüschen zu schmücken, mit den bitteren Worten: "Hier waren nie Blumen, hier sollen auch keine Blumen sein." Man erkennt, daß kleinste Veränderungen für die Einwohner sehr problematisch sein werden. "Es geht darum, daß wir unsere Identität bewahren", sagte der Bürgermeister. Würde es gelingen, den Kontakt zwischen Volterra und Siegen zu verankern? Als sich die Stadtväter von der Ernsthaftigkeit des Engagements und dem großen Interesse der Bevölkerung überzeugt hatten, übernahmen sie über das Seminar die Schirmherrschaft und drückten offiziell den Wunsch aus, mit der Universität Siegen weiter zusammenzuarbeiten.
Man begann vorsichtig, von einer "Sommerakademie" in Volterra zu träumen. Es wurden Pläne geschmiedet: Warum sollte man nicht auch Seminare für Archäologen, Kunsthistoriker, Stadtsoziologen und Studenten des sogenannten 3. Lebensalters veranstalten? Wie könnte der nächste Schritt dazu aussehen? Da luden die Mitarbeiter der "Villa Palagione" den Volterraner Bürgermeister und seinen Stadtplaner kurzerhand nach Deutschland, speziell nach Siegen, zum weiteren Gespräch ein. Als der Kleinbus mit den Volterranern sich durch die engen. Tore des "Oberen Schlosses" zwängt, winken die Siegener Herren schon von weitem freundlich durch den ortsüblichen Regen: der Bürgermeister, der Pro-Rektor, der Chef des Akademischen Auslandsdienstes, die Professoren des Fachbereichs, die Studenten und die Presse. Der kleinen Rede des Bürgermeisters der Stadt Siegen (unter anderem über Bergbau und Kartoffeln) folgt eine kleine Rede des Bürgermeisters von Volterra (unter anderem über Salz und Alabaster). Geschenke werden ausgetauscht: Foto-Bücher über die beiden Städte. Und Signore Gabellien überreicht eine kleine Skulptur: einen Bronzeabguß der etruskischen Figur eines Mannes, "Ombra della sera", Abendschatten genannt, das heimliche Wahrzeichen der Stadt. Schließlich präsentiert Professor Praeckel die von den Studenten erarbeitete Dokumentation ihres Studienaufenthaltes "Progetto 1995 Volterra". Die Volterraner Stadtväter sind beeindruckt. Sie merken, daß es den Siegenern ernst ist. Und die Visionen werden konkret.
Der mit "Euro-Töpfen" erfahrene Chef des universitären Auslandsamtes erklärt, daß das Projekt "Sommerakademie" grundsätzlich Chancen habe, aus drei EUProgrammen Finanzierungshilfen zu bekommen: zum einen aus dem Wirtschaftsförderungsprogramm für benachteiligte Regionen, nach dessen Richtlinien Volterra unter die Kategorie "bedingt förderungswürdig" falle (aus diesem Fonds werden zum Beispiel Stadtkernsanierungen gefördert); zum zweiten aus dem 4. Europäischen Förderungsprogramm für Forschung (in einem der zahlreichen Unterprogramme ist auch die Substanzerhaltung von Baudenkmälern vorgesehen); zum dritten aus dem Studentenaustauschprogramm namens "Sokrates" (nach dessen Zielvorstellungen 10 Prozent der Studenten im europäischen Ausland studieren sollen). Doch größere Mittel zum Beispiel aus dem Wirtschaftsförderungsprogramm gebe es nur dann, wenn zur Begründung des Antrags schon etwas Akutes vorzuweisen sei. Da stellt der Bürgermeister von Volterra zur Überraschung der Siegener für die "Sommerakademie" Räumlichkeiten der ehemaligen Psychiatrie zur Verfügung. Die Siegener Professoren bieten ihrerseits die Bearbeitung der Baupläne an. Mitte Dezember wird man sich zur Ortsbesichtigung in Volterra teffen. Bildungseinrichtungen in die Stadt zu ziehen, aus der jetzt die Jugend fortläuft, liegt dem Bürgermeister sehr am Herzen. Vielleicht ließe sich auch die Bearbeitung des Alabasters, die noch immer in der kommunalen "Academia de l'Arte" gelehrt wird, wieder neu beleben. Mit der Universität Pisa hat er bereits ein Abkommen getroffen, Kurse aus dem Fachbereich Denkmalspflege in die Stadt auf den Hügeln zu holen. Die Siegener Uni bietet an, Studenten hinunterzuschicken, die im Rahmen eines Praktikums beim Umbau der künftigen Akademie helfen könnten. Der Einstieg in die praktische Zusammenarbeit ist mithin geschafft. "Wunderbar", sagt der weißhaarige, hellwache Bürgermeister. Und als die Siegener Professoren berichten, sie hätten außerdem bereits zarte Verbindungen zu der Universität Maastricht aufgenommen, fällt zum ersten Mal das große Wort "Internationale Universität von Volterra".
Diesen Namen trägt nun die Utopie, deren Konkretisierung Volterra mit neuem und interkulturellem Leben erfüllen könnte. Die Selbstdarstellung der ehrwürdigen alten Stadt würde sich nicht aufs historische Gemäuer beschränken, und sie hätte es nicht nötig, mit der Erfindung von Festivals um Touristen zu buhlen. Buona fortuna, Volterra!

Milchbar-Prinzessin mit Täschchen

New Yorks letzter Schrei
Plastic Handbags

"Plastic handbags", in den späten 40er und frühen 50er Jahren waren sie in den USA der letzte Schrei.
Die zuckrigen Deckelkörbchen, eine Promenadenmischung aus Schmuck- und Nähkästchen, wurden sowohl von Teenagern als auch von Hausfrauen und eleganten Ladies getragen. Jede Wette, dass auch M.M. mindestens ein Stück in der Kommode hatte.
Unabhängige Leute mit einer Nase für den Publikumsgeschmack stellten die Märchenschlösschen für Lippenstift, Puderdose und sonst noch was weitgehend in Handarbeit her.
Unter den bekannteren der kleinen Firmen in New York und Miami waren Llewellyn Inc., Myles Originals, Gilli Originals, Tyrolean Inc., Wilardy Originals, Rialto, Miami und Florida Handbags. Jeder Hersteller bemühte sich um ein eigenes Design. Es gab auch manches Missgebilde: Schneewittchensärge, Bienenkörbe, Laternen und Henkelmänner. Als die grossen Firmen ins Geschäft einstiegen, wurde schneller, billiger und schlechter produziert, und Ende der 50er war es aus.
Heute sind "plastic handbags" in gutem Zustand Sammlerstücke.
In New York sind sie mit viel Glück noch zu haben. Die sehr eleganten, aber oft auch kitschigen Schachteltäschchen, deren Ausgefallenheit wir heute mit freundlicher Ironie betrachten, standen in den frühen 50er Jahren, als sie "the Craze" waren, im Gegenteil für ein durch und durch positives amerikanisches Lebensgefühl.
Alles schien machbar. Besonders aus Plastik. Künstlichkeit war en vogue. Nach einigen frühen Anläufen vor dem 2. Weltkrieg setzte sich das Plastikzeitalter mit Macht durch. Kein Haushalt mehr ohne Plastik.
Es war die Zeit auch der wolkenartigen Strassenkreuzer (die Saul Steinberg immer wieder als aufgeblasene Brötchen karikiert hat), der katzigen Sonnenbrillen und der Frauen aus rosa Marzipan. Der Reiz der "plastic handbag" liegt für uns heute besonders im Anschein der Kostbarkeit.
Ohne tatsächlich luxuriös, d. h. auch teuer zu sein, bringen die Taschen doch Luxus zum Ausdruck. Das Falsche war wie immer zunächst Ersatz für das Echte, das man sich noch nicht leisten konnte. Mit Plastik waren nicht nur edle Stoffe imitierbar (Schildpatt, Marmor, Lapislazuli, Bernstein, Perlmutt), sondern es liessen sich auch neuartige Materialien mit filigranen Maserungen herstellen, die das kostbare Aussehen von Eisblumen, silbrigen Spinnweben, perlgrauen Splittern oder Goldgespinst haben. Manche Oberflächen sind buchstäblich zum Fressen schön: Sie erinnern an Honig, Krokant oder Speiseeis. Es entsteht der Eindruck von Süssigkeit, ohne dem Flair der Vornehmheit Abbruch zu tun.
Die schimmernden Plastikstoffe hatten sich von der Nachahmung emanzipiert und galten bald per se als hochelegant. (Italienische Stuckateure hatten bereits für die Fürsten des Barock die ihr aufgeschwollenes Selbst in unmässigen Kirchen- und Schlossbauten zu verewigen wünschten, kostensparende Marmorimitate erfunden.
Im 19. Jahrhundert wurde imitiert, was das Zeug hielt.
Um 1900 polemisierte dann Adolf Loos, Protagonist einer puristischen Moderne, gegen den "fake": "kein material kann die formen eines anderen materials für sich in anspruch nehmen.") Heute, da der Begriff und der Wert von Echtheit verblassen und Imitation in Kunst und Musik eine anerkannte Haltung geworden ist (Appropriation Art, Revival Bands), schätzt der Sammler gerade das Vorgebliche, den Schein, das So-tun-als-ob, das Spielerische.
Der 50 Jahre alte Pseudoluxus scheint dem Lebensgefühl der 90er Jahre entgegenzukommen. Die ironische Haltung gegenüber dem Leben, eine distanzierte Verspieltheit, die sich ernsthaft in nichts mehr einlässt, ist gewiss ein dekadenter Zug der Postmoderne. Das Rokoko, das dem Untergang einer Epoche entgegentanzte, erscheint gar nicht mehr so fremd. Das Ende des 20. Jahrhunderts hat für viele Zeitgeister den Hautgout eines "fin du siecle".Postmodern mutet heute übrigens auch die Disfunktionalität der überkandidelten Schatullen an: Sie sind sperrig, dabei für den Gebrauch zu klein und auch zerbrechlich.
Aber die Milchbar-Prinzessin konnte das Schaumgebilde gut sichtbar auf den Tisch stellen und im Spiegel des aufgeklappten Deckels unauffällig prüfen, ob vielleicht gerade Clark Gable oder Gregory Peck in der Drehtür erschienen. Dann würde sie sich erheben, hinüberstöckeln und sich von einem der beiden Feuer geben lassen.
"Hi, Mäuschen", sagte Billy, "rück mal, Fred kommt gleich mit den andern Mädels!"
Und die hatten auch so zuckersüsse Täschchen und fingen gleich an zu kichern und sich die Lippen nachzumalen.

Der Maler Roger Dale in Freiburg

Gehetzter Blick nach draussen
Der Kanadier Roger Dale hat gemalt, was ein KZ-Häftling hätte sehen können

FREIBURG. Als die Delegierten des britischen Parlaments am 21. April 1945 das KZ Buchenwald besichtigten, waren sie ebenso fassungslos wie der amerikanische Panzergeneral George S. Patton, dessen Soldaten das Lager zehn Tage zuvor befreit hatten.
Fassungslosigkeit ist Ausdruck des Unvermögens, etwas in Worte und Bilder zu fassen, das alle Vorstellung übersteigt. Was für ein schöner Sonntag!, Jorge Sempruns Buch über Buchenwald, ist eine anhaltende Abschweifung vom Ort des Schreckens. Nicht erst seit dem Film Schindlers Liste ist das Eis gebrochen. Dem Grauen eine darstellende Form zu geben, trauten sich Künstler des Realsozialismus seit jeher zu, da ja die offizielle Erkenntnistheorie die Abbildung der sichtbaren Wirklichkeit zur Doktrin erhob.
Mit der Fassungslosigkeit ist es vorbei, wie die Arbeit The Holocaust des Amerikaners George Segal vor Augen führt, die 1984 im Lincoln Park in San Francisco aufgestellt wurde.
Segal bildet in seiner bekannten Manier tatsächlich einen Leichenhaufen nach und lässt daneben einen Lebenden stehen, der durch den Stacheldrahtzaun nach draussen blickt. Anmassend wie schon ihr grosser Titel ist diese Arbeit nicht nur, weil sie das Unfassliche überhaupt nachzubilden versucht, sondern weil sie darüber hinaus eine vorgefertigte, für ganz andere Situationen entwickelte Formensprache in der Annahme verwendet, sie passe auch für das Ungeheuerliche.
Zudem ist eine beschreibende Darstellung überflüssig, da inzwischen vorausgesetzt werden kann, dass die grauenhaften Vorgänge allgemein bekannt sind.
Direkte Darstellung vertraut auf die Wirkung des Schocks.
Die indirekte Weise, das Publikum zur Vorstellungsarbeit zu bewegen, setzt auf die Reflexion.
Heute genügt Sempruns Satz: "Es gab keine Vögel auf dem Ettersberg", um dem Leser das stillschweigend Vorausgesetzte ins Gedächtnis zu bringen. Im Freiburger "Marienbad", einem zu einem Ausstellungsraum umgebauten ehemaligen Hallenbad, ist die Arbeit eines kanadischen Künstlers zu sehen, dessen Konzept sehr einfach ist und frei von der Naivität der Direktheit: Struthof. 100 vüs de la liberte. Roger Dale malte in 100 Ölbildern Aussichten, die ein Häftling des elsässischen KZ Natzwiller-Struthof auf die Landschaft haben konnte, wenn er am Stacheldraht entlanglief.
Der Künstler besuchte das Lager und arbeitete dort 50 Tage.
Die Arbeiten, jeweils 100 x 80 cm, hängen an drei Wänden des Ausstellungsraums in der Reihenfolge, in welcher er die Aussichten anstelle eines vorgestellten Häftlings sah. Die ersten 9 Bilder zeigen im Vordergrund den Boden des Lagers, dann den Stacheldrahtzaun, dahinter die hügelige Waldlandschaft.
Ab Bild 10 hebt sich der Blick über den Zaun.
Die folgenden Bilder zeigen die Landschaft in gefährlich anmutender Abschüssigkeit und manchmal so, als wische der Blick schnell über Wiesen und Büsche. Abschüssigkeit und Geschwindigkeit deuten auf die bedrohliche Situation dessen hin, der an Flucht denkt.
Die Bilder 22 und 23 ziehen den Blick in das Dunkel der Büsche, wo ein Fliehender in die Landschaft eintauchen würde, um sich zu verstecken.Ab Bild 41 hebt sich der Blick in die Ferne: die blauen Höhenzüge der Vogesen und der Himmel, der sich immer mehr aufhellt.
Schliesslich - diese Bilder hängen an der Stirnseite des Raumes - schweift der Blick weit über die Berge.
Als habe sich die Sehnsucht zu sehr in die Ferne verstiegen, wird der Blick in den Bildern 67 und 68 plötzlich in die Nähe zurückgerissen, gewaltsam offenbar, als habe man dem Betrachter den Kopf von hinten niedergedrückt und als verschleiere sich sein Auge vor Schmerz, so dass er nur mehr einen hellen Vordergrund und einen dunklen Hintergrund zu unterscheiden vermag.
Die letzten Bilder zeigen wieder den Stacheldraht.Durch die Übernahme des Blicks identifiziert sich Dale mit den Opfern, jedoch als Künstler, als Augenmensch.
Die Bilderfolge suggeriert eine körperliche und seelische Bewegung.
Beides kennzeichnet die Sehnsucht nach Freiheit: Diesen Abhang müsste ich hinunterlaufen, schnell, von Todesangst getrieben, die Verfolger hinter mir und das Gebell der Hunde, in dieses Dunkel würde ich mich werfen, um dem Scheinwerferlicht zu entkommen, und nach Tagen würde ich vielleicht den hellen Horizont erreichen.
Zuletzt rückt der Stacheldraht wieder in die Bildmitte und holt auf den Boden des Lagers zurück. Roger Dales Malweise erinnert an gewisse Landschaftsbilder von Edward Hopper, etwa Road and Trees 1962.
Die Bilder sind ohne Prätention gemalt, sind als einzelne schön und doch ganz durch das Konzept begründet, welches die Realität des Lagers als Leerstelle belässt, die der Betrachter mit seinen Vorstellungen füllt.
Gezeigt wird vom Grauen der Lagerwirklichkeit nichts, auch kein beredter Rest; gezeigt wird nur die unschuldige Landschaft, die Freiheit verheisst.Natur als Entgegensetzung zur gesellschaftlichen Realität ist heute, je mehr beide Bereiche auf problematische Weise ineinander verflochten sind, eine blosse Hoffnung.
Dennoch gehört es zu den gewohnten Vorstellungen gerade der Deutschen, sich der Schönheit und Unschuld der (guten) Natur hinzugeben, statt dem Gegenteil des hässlichen und schlechten Menschenwerks.
Auch die Ewigkeit der Natur erscheint tröstlich, „… et pourtant la nature etait si belle …“ - und dennoch war die Natur so schön.
Diese Worte eines Gefangenen stehen im Katalog den Abbildungen als Motto voran. Seine Motivation erklärt der Roger Dale so: „Ich habe diese Bilder gemalt, weil ich die Freiheit dazu hatte. Freiheit ist ein zerbrechliches Ding und leicht zu verlieren. Die Gedanken- und Handlungsfreiheit, die wir heute haben, wurde mit unermesslichen menschlichen Opfern gewonnen. Sie setzen uns für immer in die Schuld jener, die geopfert wurden.“

Die Ausstellung im Freiburger Marienbad, Dreisamstr. 21, geht bis zum 17. September 1995.
Der Katalog, der alle 100 Bilder in Farbe zeigt, kostet 30,- DM.
Die Öffnungszeiten: Di-Fr 9.30-17.00, Sa + So 10.30-17 Uhr.

Lässig unterm Apfelbaum

Als Amerikaner vom Himmel fielen

Noch heute, 50 Jahre nach dem, was die Partizipanten deutscher "Volksgemeinschaft" "den Zusammenbruch" nennen, finden sich unter den Aufarbeitungen, den Erklärungsmustern, den zu Stereotypen geronnenen oder verblassten Erfahrungen ein paar Eindrücke, die so frisch sind wie am ersten Tag. Es sind dies tiefe und prägende und folgenreiche Eindrücke.
Wir waren nicht ganz unvorbereitet und hatten Vorstellungen darüber, wie die Amerikaner sind. Doch sie übertrafen alles, was wir uns vorgestellt hatten. Der Bericht eines Freundes mag erläutern, was gemeint ist:
"Je weiter die Fallschirme nach unten kamen, desto mehr trieben sie auseinander. Das Flugzeug war heulend hinter den Hügel gestürzt. Eine Rauchwolke. Alle begannen zu laufen. Auf halbem Wege zur Absturzstelle lehnte der Fremde an einem Apfelbaum. (Die anderen waren, so hörten wir später, im Umkreis der Nachbardörfer heruntergekommen.) Er war gross wie ein Riese, und er war schwarz. Aber er sah anders aus als der Sarotti-Mohr,   der einzige Mohr, den wir kannten. Der schwarze Mann lehnte dort in seinem mit vielen geheimnisvollen Taschen bedeckten Fliegeranzug, wie wir noch nie irgendeinen Menschen hatten stehen sehen. Er erschien uns stolz und gross und stark und schön. Regungslos staunten wir ihn an. Seine Kiefer mahlten.
Was ass er, wenn er nichts in den Mund steckte?
Die alten Männer, die den Fremden umstanden, umklammerten angstvoll ihre Dreschflegel und Mistgabeln.
Einer sagte: ,Die Amerikaner essen Gummi.'
Der Fremde war vom Himmel gefallen. Er zeigte keine Furcht vor den hampelnden zwei kleinen Soldaten, die ihn in den Beiwagen ihres ,Krads' zu zwängen suchten, was beinahe zum Lachen war. Als er schliesslich mit angezogenen Knien sass, lächelte er uns Kindern zu und liess so viele schneeweisse Zähne sehen, wie wir noch niemals in einem Mund zusammen gesehen hatten."
Es gibt vielerlei Gründe, warum die Generation, welche den Nationalsozialismus getragen hatte, sich schliesslich amerikanischer Lebensart unterwarf, die doch so ganz anders war als die deutsche.
Für uns, die wir am Tag der Befreiung noch Kinder waren, sind die tiefen Eindrücke der ersten Begegnung vermutlich besonders massgebend: Die amerikanischen Soldaten waren so viel grösser als die deutschen Männer.
Sie waren so schlank, ihre engen Uniformen liessen die wohlgenährten, athletischen Körper sehen. Sie waren sauber und hatten tiefere Stimmen als unsere Väter. Ihre Bewegungen, ihre Art zu gehen und zu stehen, die man später "lässig" nannte, drückten Selbstbewusstsein und ja: animalische Kraft aus.
Kein deutscher Mann aus der Generation unserer Väter hatte etwas von dieser merkwürdigen quasinatürlichen Geschmeidigkeit. Jeder einzelne Amerikaner schien selbstbewusst und kräftig, sogar als einzelner strahlte er Souveränität aus. Unsere Väter dagegen hatten wir mit durchgedrücktem Kreuz in Massen und in Reih und Glied stehen sehen, um bellende Befehle entgegenzunehmen. Unsere Väter hatten hell schnauzende Stimmen, sie bewegten sich steif und drückten auch dort, wo es nicht sein musste, das Kreuz durch, ein Erbteil der wilhelminischen Unterscheidung in Gediente und Ungediente, eine sehr wirksame soziale Differenzierung im alten Deutschland.
Das gravitätische Auftreten, auf das jeder deutsche Mann Wert legte, um Würde zu demonstrieren, als könne sie ihm jederzeit genommen werden, hatten die älteren amerikanischen Offiziere offenbar nicht nötig. Sie waren meist drahtig und schnell wie die Jungen. Und die amerikanischen Soldaten waren gutmütig: sie schenkten uns den echten Kaugummi und Drops, und einmal gab einer, der an seinem Arm sechs Armbanduhren hatte, Horst eine ab. Die Generation unserer Väter hatte in dem starken Hans Albers und dem pfiffigen Heinz Rühmann eine populäre Ausprägung gefunden. Aber wer von uns konnte an dem schwerfälligen grossen Hans und dem hübschen kleinen Heinz ein Vorbild finden angesichts von Burt Lancaster?
Er war schön und stark und fremd wie von einem anderen Stern.
Er drückte vollkommen aus, was wir Kinder uns ersehnten (und was Kinder sich wohl immer ersehnen): Freiheit und Souveränität.
Die erste Begegnung mit den Göttern war eine sehr starke Droge. Sie reichte bis zum Krieg in Vietnam.