Arbeitsbegriff

Charlotte Posenenske, deren Arbeiten heute in vielen renommierten Museen und Sammlungen zu sehen sind, darunter das MoMA (New York), das MCA (Chicago), die Tate Modern (London), das Centre Pompidou (Paris), das Museum Ludwig (Köln), das MMK (Frankfurt), Gallery Nelson Freeman, Paris 2011, das Haus Konstruktiv (Zürich), die Daimler Collection (Stuttgart), die Sammlung der Deutschen Bank, hatte 1968 die Kunst aufgegeben. Sie glaubte, sich in jener unruhigen Zeit der Studentenrebellion gesellschaftlich engagieren zu müssen. Dazu schienen ihr die Mittel der Kunst nicht geeignet. So genannte politische Kunst wollte sie nicht machen, da sie der Auffassung war, dass Kunst für keinerlei kunstexterne Interessen instrumentalisiert werden sollte. Sie studierte Soziologie und machte ihr Diplom über ein Thema der Arbeitswissenschaften, da sie hoffte, den Gewerkschaften zuarbeiten zu können. Sie glaubte, dass diese in Deutschland mächtigen Organisationen am ehesten daran interessiert und fähig sind, die Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen zu verbessern.

Als Verwalter ihres Nachlasses werde ich oft gefragt, woran die Künstlerin denn gearbeitet habe, nachdem sie ihre Karriere aufgegeben hatte. Man fragt danach, ob denn ein Zusammenhang bestehe zwischen ihrer Kunst und ihrer Arbeit als Soziologin. In jener Zeit haben auch andere Künstler aufgehört. Einige haben dann ganz andere Berufe angenommen, sind Farmer geworden oder Psychologen. Andere sind im Kunstbetrieb geblieben etwa als Galeristen wie Konrad Lueg, der dann in Düsseldorf unter dem Namen seiner Mutter als Konrad Fischer eine der einflussreichsten Avantgarde-Galerien Europas gründen sollte. Wie war das bei Charlotte Posenenske? Besteht zwischen ihrer Kunst und ihrer Arbeit als Soziologin ein Bruch oder gibt es Gemeinsamkeiten?
Es ist vielleicht hilfreich zu erwähnen, dass Charlotte schon als Gymnasiastin in zwei Fächern hervorragte: Kunst und Sozialkunde. Schon in der Schule engagierte sie sich politisch. In der Nachkriegszeit, wo noch überall ehemalige Nazis saßen, deren Gesellschaftsbild vom Obrigkeitsstaat und Rassismus geprägt war, suchte Charlotte als Schulsprecherin zusammen mit einigen fortschrittlichen Lehrern in ihrer Schule demokratische Strukturen aufzubauen. Sie arbeitete an einer Schulverfassung mit, die Mitspracherechte der Schüler vorsah. Nach den üblen Erfahrungen der Nazizeit, in der sie als so genannte Halbjüdin von der Schule verwiesen worden war und sich dann in einem Keller vor der Deportation verstecken musste, war sie eine überzeugte Demokratin. (Als wir zusammenlebten, lag das Grundgesetz immer in Reichweite) Da sie sich schon als Schülerin für die Verhältnisse der Gesellschaft interessierte, wundert es nicht, dass sie später Soziologin geworden ist. Sie folgte damit einem Interesse, das lange angelegt war.
Ich denke, nur äußerlich besteht zwischen der künstlerischen und der soziologischen Arbeit ein Bruch, insofern die Arbeitsmittel und Arbeitsresultate ganz unterschiedlich sind. Innerlich aber gibt es Gemeinsamkeiten, die ich am Arbeitsbegriff ihrer Kunst erläutern möchte.
Bei den Vierkantrohren aus Stahlblech oder Wellpappe, mit denen die Künstlerin bekannt wurde, handelt es sich um verschiedene, sehr große stereometrische Hohlkörper - Elemente eines Baukastens - , die zu den unterschiedlichsten Installationen zusammen geschraubt werden können. Diese Installationen können liegen , John Hansard Galllery Southampton 2011, stehen Siegen, Gallery Nelson Freeman, Paris 2011, hängen Sao Paulo, und im Innenraum oder im Freien aufgebaut werden. Seit dem frühen Tode der Künstlerin im Jahre 1985 sind damit ca. 100 Ausstellungen in aller Welt bestückt worden, etwa auf den Biennalen in Istanbul und Sao Paulo und der documenta 12.
Eine große Besonderheit dieser Kunst besteht darin, dass die Künstlerin ihre Produkte nur in Serien herstellen lässt und sich an der Herstellung nur teilweise beteiligt: ihre Arbeit besteht allein im Entwurf. Sie lieferte das Konzept. Darum wird sie eine Konzeptkünstlerin genannt. Die materielle Herstellung der Elemente geschieht in einer Fabrik. Den Zusammenbau der Elemente zu Installationen überantwortet die Künstlerin den Kuratoren des Museums oder der Galerien, den Käufern oder sogar dem Publikum.
Wie unterschiedlich die Installationen sein können, sehen Sie an den folgenden beiden Fotos (dramatisch Galerie Mehdi Chouakri, Berlin 2007; dynamisch, Staatsgalerie Stuttgart)

Bei der Produktion sind demnach 3 Phasen zu unterscheiden:
1) Die unabhängige, kreative, individuelle Entwurfsarbeit der Künstlerin (Konzept)
2) die lohnabhängige, weisungsgebundene, maschinelle, kooperative und arbeitsteilige Serien-Produktion in der Fabrik (Herstellung) und
3) die freie, kooperative Arbeit beim Zusammenbau und Umbau der Installationen. (Werkvollendung)
Die Entwurfsarbeit und die materielle Umsetzung gibt es bei der Produktion jedes Gebrauchsgegenstandes. Der traditionelle Künstler allerdings besorgt beides selber. Idee und Ausführung bilden etwa beim Maler – anders beim Bildhauer – eine Einheit, die allenfalls analytisch differenziert werden kann. Die große Besonderheit bei Posenenkes Konzept ist die 3. Phase, da die Künstlerin das, was kunsthistorisch Werkvollendung heißt, anderen überantwortet. Um einem möglichen Missverständnis zuvorzukommen: die Installationen der Vierkantrohre sind nie endgültig. Sie sind vorläufig, da die Elemente immer wieder anders kombiniert werden. Das heißt die Installationen bilden nur vorübergehend ein Ganzes, denn sie sind prinzipiell fortsetzbar. Sie sind Fragmente. Wichtig ist, die Partizipanten können die Elemente des Baukastens nach eigenem Gutdünken zusammenbauen und das Resultat auch unterschiedlich postieren: liegend, stehend oder auch hängend. Im Innenraum oder draußen. Wie das Kunstwerk schließlich aussieht, hängt nicht mehr von der Künstlerin, sondern von denen ab, die am Kunstwerk partizipieren. Man spricht hier von einer partizipativen Kunst. Charlotte gehört zu den ersten, die in Deutschland so gearbeitet haben. Wichtig ist hier, dass der Zusammenbau der Elemente nur kooperativ bewerkstelligt werden kann, denn die Elemente sind so groß, dass ein Einzelner damit nicht zurechtkommt. Charlotte wollte die Elemente noch größer machen. Das Konzept soll die Kooperation zwingend vorschreiben. Etwa zur gleichen Zeit verfolgt auch Frans Ehrhardt Walther diesen Ansatz, jedoch entwirft er für die Werkvollendung einen Plan, eine Choreographie. Die Partizipanten arbeiten bei ihm in der 3. Phase nicht frei nach ihren eigenen Vorstellungen, sondern nach Anweisung des Künstlers. Dies ist ein gewichtiger Unterschied, denn bei Posenenske tragen die Partizipanten die volle Verantwortung für das Ergebnis, da es auf ihre eigenen Entscheidungen hin zustande kommt. Bei Walther bleibt die Werkvollendung in der Hand des Künstlers, die Partizipanten bleiben Ausführende. Insofern beide Künstler andere an der künstlerischen Arbeit beteiligen und damit auf die gottähnliche Autorität des traditionellen Künstlers über seine Kunst verzichten, kann ihr Ansatz demokratisch genannt werden. Das gilt besonders für Charlottes Konzept, weil sie es zulässt, dass andere aus ihrem Konzept Installationen entwickeln können, die der Künstlerin wohl möglich selber gar nicht gefallen hätten, da die Partizipanten ihre Entscheidungen nach anderen Kriterien treffen als sie das als kunsthistorisch geschulte, professionelle Künstlerin, die sich in einer Tradition wusste, getan hätte. Denn in der Demokratie entscheidet die Mehrheit über das, was gemacht wird und nicht der, der die beste Idee hat.
Die Partizipanten sind nicht absolut frei in ihren Entscheidungen, da sie ja nur die vorgegebenen Elemente zusammensetzen können und nicht wie bei den so genannten Assemblagen alles mit allem kombinieren. Von „Assemblage“ spricht man dann, wenn ein Künstler sich die Freiheit nimmt, x-beliebige vorgefundene Alltagsgegenstände oder Materialien zu einem Kunstwerk zu kombinieren. Diese Freiheit haben die Partizipanten nicht, sie haben nur einen Spielraum, da sie an die vorgegebenen Elemente des Baukastens gebunden sind.
Ich habe vorhin in Charlottes Arbeitsbegriff 3 Phasen unterschieden: 1) Die Entwurfsarbeit der Künstlerin, 2) die Produktion der Elemente in der Fabrik und 3) den Zusammenbau der Installationen, d.h. des Kunstwerks. Betrachtet man nun diese Arbeitsphasen unter dem Gesichtspunkt der Freiheit, in welcher sie verrichtet werden, so ergibt sich, dass die künstlerische Entwurfsarbeit sich so frei vollzieht wie es in der Gesellschaft überhaupt möglich ist. Der Künstler kann so ziemlich machen was er will. Wer hätte gedacht, dass etwa Christo den Reichstag in Folie verpacken könnte, nachdem die Parlamentarier lange darüber diskutiert haben. Daher die berühmt-berüchtigte Freiheit der Kunst. In der zweiten Phase werden die Elemente nach Zeichnungen in Lohnarbeit hergestellt – tendenziell am Fließband in repetitiver Teilarbeit. Denn Charlotte ließ ihre Produkte wie eine beliebige Ware in unbegrenzter, nur durch die Nachfrage bestimmter Menge herstellen. Das heißt aber, dass ihre Bauelemente wie eine beliebige Ware auch nach ihrem Tode hergestellt werden. Die Arbeiter sind abhängig zum einen vom Entwurf, der umgesetzt werden soll, zum zweiten von allen Bedingungen, unter denen Lohnarbeit verrichtet wird. Diese Arbeit ist unfrei, besonders insofern sie – den Gesetzen profitorientierter Ökonomie folgend – in möglichst kurzer Zeit verrichtet werden muss, um Kosten zu sparen. In der dritten Phase schließlich kooperieren Kuratoren mit ihren Mitarbeitern. Die Arbeit vollzieht sich relativ frei: relativ, weil die Installationen einerseits an die Vorgaben des Baukastens gebunden sind und der Auf- oder Umbau andererseits aber nicht unter den Bedingungen der Lohnarbeit in der Fabrik erfolgt.
Diese 3. Phase, in welcher die Partizipanten relativ frei kooperieren, hat – für sich genommen – ein utopisches Moment, insofern es sich dabei weder um die isolierte Arbeit eines einzelnen (Phase 1), noch um fremdbestimmte Lohnarbeit (Phase 2) handelt. Doch basiert diese kleine Utopie in unserer Gesellschaft auf diesen beiden Voraussetzungen.
Sollen Laien die Elemente eigenständig zusammenbauen, ergibt sich unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation folgende Situation:
1) die Partizipanten müssen eine Idee haben, welche Elemente sie zusammenbauen wollen.
2) Es entsteht bei der Diskussion ein Wettbewerb. Die einen möchten diese Kombination, die anderen jene Kombination verwirklichen.
3) Es muss ein Konsens gefunden werden.
4) Während des Zusammenbaus eröffnen sich neue Möglichkeiten, die zur Korrektur der ersten Konstellation führen.
5) Die Gruppe der Partizipanten differenziert sich: es entsteht aus der Kooperation meist eine Arbeitsteilung zwischen denen, die Ideen haben, und jenen, die sie ausführen. Das ist soziologisch interessant, denn so entsteht aus der Arbeit Herrschaft.

Halten wir fest:
In der 1.Phase vollzieht sich die Arbeit in Freiheit,
in der 2. Phase in Abhängigkeit
und in der 3. Phase in relativer Freiheit.
Die Künstlerin wandte sich so gegen die aus ihrer Sicht antiquierte Position des traditionellen Künstlers, der mit primitiven Instrumenten (Pinsel, Meißel) einsam seine Originale schafft, die dann auf dem Kunstmarkt möglichst hohe Preise erzielen sollen.
Ihre Arbeiten werden nicht nur z.T. maschinell und kooperativ hergestellt, sondern in Serien. Das Konzept ist insofern kommerz-kritisch, als ihre Produkte relativ billig sind, sodass sie fast jeder erwerben kann, und eine Wertsteigerung, die die meisten Sammler interessiert, ausgeschlossen ist, da es sich bei allen Arbeiten nie um Originale, sondern um seriell hergestellte Reproduktionen handelt, die zum Herstellungspreis + Galerie- und Transportosten verkauft werden, d.h. zu marktunabhängigen Festpreisen. Anstatt den Kapitalismus moralisch zu kritisieren, wie es damals üblich war, hat die Künstlerin ihre Arbeit den Marktgesetzen entzogen, indem sie ohne Profit verkaufte. Die Eleganz dieser subversiven Methode besteht darin, dass sie den Markt zwar benutzt, aber nur als Verteilungsmechanismus. Man kann sagen, dass die Künstlerin auf den Marktgesetzen surft. Da sie als Künstlerin nicht einfach aus den kapitalistischen Verhältnissen aussteigen konnte, wie viele naive Leute es damals versuchten, – denken Sie an den Sozialtypus des Aussteigers – blieb sie dem ökonomischen System an zwei Stellen verbunden: Einmal, indem sie die Elemente in fremdbestimmter Lohnarbeit herstellen ließ, und dann, indem sie ihre Arbeiten überhaupt verkaufte. Sie blieb also partiell im System, bis sie die Kunst 1968 schließlich aufgab.
Die Freiheit der Kunst ist nicht nur ein Klischee, sondern bezeichnet einen wirklichen gesellschaftlichen Sachverhalt. Die Gesellschaft billigt ihren Künstlern ein Terrain zu, auf dem sie – gemessen an den anderen Mitgliedern der Gesellschaft – so ziemlich machen können, was sie wollen. Darum wollen viele junge Leute Künstler werden. Da wir aber alle als Produzenten von irgendeiner Ware und als Konsumenten von irgendwelchen Gütern an der kapitalistischen Produktionsweise beteiligt sind, entsteht, wenn man das kapitalistische System kritisch sieht wie Charlotte Posenenske, die Frage, wie man denn aussteigen kann. Wie schon bemerkt, gibt es aber keinen Ausstieg: sogar als Selbstversorger auf einer Ökofarm braucht man Geld, um eine neue Dachrinne zu kaufen. (Ebenso wenig kann man aus der Sprache aussteigen) Es kann also nur darum gehen, wieweit man sich von der kapitalistischen Produktionsweise unabhängig machen kann, wenn man die Freiheit der Kunst ernst nimmt. Denn bei der Freiheit der Kunst geht es ja nicht nur darum, in der Gestaltung frei zu sein, sondern auch frei von Abhängigkeiten. Es gibt hier eine Freiheit wovon und eine Freiheit wozu, zwei Aspekte der Freiheit, die miteinander in Wechselwirkung stehen.
Früher waren Kunst und Alltag klar unterschieden. Kunst war dadurch gekennzeichnet, dass sie erkennbar keinen Zwecken unterliegt. Der Besucher eines Museums wusste, dass das, was sich innerhalb des Bilderrahmens abspielte, Kunst war, und das, was auf einem Sockel stand, ebenfalls. Rahmen und Sockel grenzen die Kunst vom Alltag erkennbar ab. Das heißt, dass die Beurteilungskriterien sich unterscheiden: In der Kunst herrschen ästhetische, im Alltag praktische Regeln. (Man kann vor einem Gemälde von van Gogh also nicht bemängeln, dass die Stühle des Cafés so schief stehen, dass sie umfielen, wenn sie vor dem Café wirklich so stünden.) Doch viele Künstler empfanden Rahmen und Sockel als eine Beschränkung: tatsächlich handelt es sich ja um die Markierung der Grenze zwischen Kunst und Alltag. Darum versuchten und versuchen viele Künstler, diese Grenze zu überschreiten oder zu ignorieren. Das taten sie auf höchst verschiedene Weise. Die sowjetischen Konstruktivisten, die niederländische De Stijlbewegung und das deutsche Bauhaus waren die ersten, die sich in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts von den perspektivischen Illusionsräumen der Malerei lösten und in Richtung Design und Architektur aufbrachen, mithin in den Alltag. Die Kunst in den unruhigen 60er Jahren bezieht sich auf diese frühe Aufbruchsbewegung. Die Maler malten über den Rahmen hinaus oder verwendeten gar keinen Rahmen mehr oder schlitzen die Leinwand auf oder befestigten Alltagsgegenstände auf der Leinwand und ließen sie aus dem Rahmen herauswuchern. Allen ging es darum, die Eingrenzung der Kunst auf ein kleines Terrain einzureißen oder zu überwinden. Es entsteht eine neue Kunstform: das environment, bei dem alle möglichen Gegenstände im Realraum in eine ästhetische Beziehung zu einander gesetzt werden. Übrigens hat schon Rodin sich Ende des 19. Jahrhunderts geweigert, seine „Bürger von Calais“ auf Sockel zu stellen. Er wollte zur Empörung der Auftraggeber seine überlebensgroßen Figuren direkt auf den Platz stellen. Zwischen die Leute, direkt in den Alltag. Dieser Ausbruch in die alltägliche Welt ist Ausdruck eines Freiheitswillens. Vielen Künstlern genügte das kleine Terrain nicht mehr, das die Gesellschaft ihnen zum Experimentieren zugesteht. Sie fühlten sich wie in einem Käfig. Sie wollten mit ihrer Arbeit raus in die Alltagswelt, in der wir leben und arbeiten.
Ich vertrete die Ansicht, dass die Geschichte der großen Kunst eine lange, in der Renaissance beginnende Freiheitsbewegung ist, bei der es darum geht, die Kunst immer wieder von Beschränkungen zu befreien. (Darüber werde ich morgen sprechen) Charlotte Posenenske steht in dieser Tradition.
Wie sie versuchte, sich von den Marktgesetzen durch Festpreise und unlimitierte Reproduktion zu befreien, so führte sie ihre kommerz-kritische Haltung auch dazu, die Galerie zu verlassen, die ja eine kommerzielle Einrichtung ist. Sie wollte ihre Arbeiten nicht nur für potentielle Käufer, sondern für alle zugänglich in der Öffentlichkeit zeigen. So baute sie ihre Vierkantrohre auf einer Verkehrsinsel in Offenbach auf und auf dem Frankfurter Flugplatz – um die Objekte auszustellen, nicht um sie zu verkaufen.

Dann ging sie noch einen Schritt weiter: sie postierte die Vierkantrohre so, dass die Leute sie für eine Entlüftungsanlage hielten. In ihrem Manifest schrieb sie über diese Arbeiten: „Sie sind immer weniger als Kunstwerke erkennbar.“ Die Kunst verschwindet sozusagen im Alltag. Damit scheint die Grenze zwischen Kunst und Alltag, die vormals durch Bilderrahmen und Sockel deutlich markiert war, soweit wie möglich überwunden. Aber nur äußerlich. Denn hat der Betrachter erkannt, dass es sich bei einer Installation der Vierkantrohre doch nicht um eine Entlüftungsanlage, sondern um ein Kunstwerk handelt, urteilt der Betrachter nicht mehr nach praktischen, sondern nach ästhetischen Kriterien. Wie man erkennt, dass es sich um Kunst handelt? Dazu eine kleine Episode:
HBF Stuttgart 1989
Ich habe 1989 4 Winkel in die Fassade des Stuttgarter Hauptbahnhofs gehängt. Dann habe ich mich unten an die Haltestelle gestellt, die dem Bahnhof gegenüberliegt und habe nach oben gestarrt, wo in der Sonne blitzend diese Winkel hingen. Nach einer Weile wurden die Studenten, die dort auf die Tram warteten, aufmerksam. Einer sagte zu einem Kollegen: „Jetzt hängen die da oben Entlüftungsrohre hin. Wieso das denn?“ „Entlüftungsrohre?“ entgegnete der andere. „Die Rohre sind doch an beiden Seiten offen. Das macht doch keinen Sinn.“ Schließlich kam die beiden zu dem Schluss: „Dann ist es Kunst.“ Später haben andere Kuratoren ähnliche Installationen gemacht, bei denen der Betrachter sich entscheiden muss, ob es sich aus seiner Sicht um Kunst handelt oder um eine der Alltagswelt angehörige technische Einrichtung. L.A. Gallleery Corcoran, Paris, Palais de Tokyo, Gallery Abreu, New York
Der Reiz dieser Installationen liegt darin, dass der Betrachter selbst erkennen muss, ob der Gegenstand ein Kunstwerk ist. Wie gesagt, wird der Unterschied zwischen Kunstwerk und Alltagsgegenständen im Allgemeinen dadurch bestimmt, dass Kunstwerke keiner praktischen Zweckbestimmung unterliegen. Sie sind nicht benutzbar.

Auch von dieser Beschränkung suchte sich Charlotte zu befreien: zu ihren letzten Objekten gehört ein großes Drehflügelobjekt, dessen Flügel man bewegen muss, um das übermannshohe Objekt zu durchschreiten. Großer Drehflügel, Documenta, Kassel, 2007 und Frankfurter Flugplatz 1968
Das Objekt bildet in geschlossenem Zustand einen Raum, in dem man sich aufhalten kann, und erfüllt in geöffnetem Zustand etwa die Funktion einer Drehtür. Es handelt sich um einen Transitraum. Die Benutzbarkeit der Kunst hat sich inzwischen zu einem Trend entwickelt, besonders auch im Übergang von Kunst in Design. Charlotte Posenenske gehört auch hier zu denen, die diese Bewegung angestoßen haben. Ihr Einfluss auf die folgende Generation wird immer wieder hervorgehoben.
Posenenskes Arbeiten werden dem Minimalismus zugerechnet, der in Europa eine bis auf das antike Griechenland zurückgehende Tradition hat und in den USA in der so genannten Minimal Art gipfelte. Auch beim Minimalismus, der sich auf das Wesentliche beschränkt, geht es um Befreiung, nämlich um das Abwerfen von Ballast.
Ich habe letztes Jahr in Berlin eine Ausstellung unter dem Titel „LESS“ gemacht. Man wird natürlich sofort an den dem Architekten Mies van der Rohe zugeschriebenen Satz „Less is more“ erinnert, der nicht nur in der Architektur der Moderne, sondern auch in der minimalistischen Kunst zu einem Leitsatz wurde. Er bedeutet den Verzicht auf Inszenierung, Umschreibung, Üppigkeit und Dekor. In der Architektur verschwindet alles Fassadenhafte: die nicht-tragenden Säulen, die Pilaster, die Balkone, die Figuren, der Stuck. Was übrig bleibt, ist das Notwendige, das Stützende und Tragende der Konstruktion. Aber auch die wird reduziert. Die Form soll rein durch die Funktion bestimmt sein. Anstelle der üppigen Bauten des späten 19. Jahrhunderts nun die magere Stereometrie in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Anstatt massiver Erdenschwere die luftige Leichtigkeit der frühen Flugmaschinen. Bewegung und Geschwindigkeit wurden zur Leitvorstellung. Das heißt Abmagerung aller Konstruktion. Der Verzicht auf das Nicht-Notwendige – das Abwerfen von Ballast – bedeutet einen Gewinn an Freiheit. 1913, vor 100 Jahren, stellte Malewitsch das schwarze Quadrat aus. Es ist der Beginn der so genannten abstrakten Malerei, die sich von der traditionellen Aufgabe befreit hat, die äußere Welt abzubilden. Stattdessen komponiert der Künstler auf der Leinwand eigene Welten. Man spricht hier von autonomer Kunst.
Die protestantische Kultur der Knappheit, beispielhaft in den niederländischen Stillleben (das ontbijte von Pieter Claesz), ist in Europa der Nährboden der reduktiven Tendenzen. „Less is more“ ist nicht nur ein ästhetisches, sondern ursprünglich ein ökonomisches Prinzip, das frühbürgerliche, gegen die Verschwendung des Feudalismus gesetzte Prinzip des Sparens. Es geht in der Wirtschaft, aber auch in der Technik, darum, mit wenig Aufwand an Ressourcen (Zeit, Raum, Energie, Material, Arbeitskraft) die größte Wirkung zu erzielen. Techniker messen das Verhältnis von Mitteleeinsatz und Wirkung im „Wirkungsgrad“. In der abendländischen Kultur gibt es seit der Antike die Leitvorstellung, sich im Sprechen, aber auch in der Literatur möglichst kurz zu fassen. Dafür berühmt sind die Spartaner in der altgriechischen Landschaft Lakonien, deren knapper Redeweise wir den Ausdruck „lakonisch“ verdanken. Lakonie steht in Gegensatz zur blumigen Redeweise des Orients. Die äußerste Konsequenz der Lakonie ist das Schweigen. Der sprachlichen Sparsamkeit korreliert schon im antiken Griechenland die Askese: der Verzicht auf die Erfüllung von Bedürfnissen, die als Belastung und darum als Einschränkung der Freiheit galten. Programmatisch handelte der kynische Philosoph Diogenes, der, als er einen Knaben mit der hohlen Hand Wasser trinken sah, seinen Becher fortwarf, seinen letzten Besitz. Besitz, der uns einerseits manche Freiheiten verschafft, macht uns andererseits abhängig und darum letztlich unfrei.
Im Werk von Charlotte Posenenske ist eine reduktive Tendenz unübersehbar, die schließlich in ein Verschwinden mündet. Ihre Bilder waren vielfarbig, ihre Reliefs einfarbig, die nachfolgenden Objekte grau, weiß oder materialfarben. Die Objekte werden immer einfacher. Das letzte Objekt besteht nur aus 2 wandhohen, weißen Platten, die sich so vor einer Wandecke bewegen lassen, dass sie mit dieser einen Würfel bilden.

Die Vierkantrohre sind aus Wellpappe oder Stahlblech. Beide Materialien verrotten mit der Zeit. Die Kunstwerke verschwinden.

Ich wollte zeigen, dass Posenenskes dreidimensionaler Arbeitsbegriff auch mit einer Vorstellung von Freiheit verbunden ist, die sich aus der Reduktion ergibt.
Ich möchte nun die eingangs gestellten Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen Posenenskes künstlerischer und ihrer soziologischen Arbeit wieder aufnehmen.
Wir haben während unseres gemeinsamen Studiums Anfang der 70er Jahre Methoden untersucht, die in der Tradition des Taylorismus und Fordismus der 20er Jahre entwickelt wurden und Ende der 60er Jahre in der Großserienfertigung eingesetzt worden sind. Es handelt sich im Besonderen um die Systeme vorbestimmter Zeiten (SVZ). Um zu verstehen, um was es sich dabei handelt, muss man sich das folgende klarmachen: der Fabrikarbeiter ist ein Mensch, der, weil er keine eigenen Werkzeuge besitzt, mit denen er eine Werkstatt aufmachen könnte, um sein Lebensunterhalt zu verdienen, seine Arbeitskraft verkaufen muss. Das unterscheidet ihn grundsätzlich vom Handwerker und vom Bauern. Er verkauft seine Arbeitskraft für eine bestimmte Zeit gegen Entgelt an den Eigentümer eines Betriebes. Die Arbeitskraft, die ja die Lebenskraft des Arbeiters ist, gehört während dieser Zeit zu Recht dem Fabrikanten. Denn er hat sie gekauft und betrachtet sie als Ressource, aus der er so viel wie möglich herausholen will. Der Arbeiter andererseits muss seine Arbeitskraft schonen, weil er sie ja wieder verkaufen muss. Er muss darauf sehen, dass seine Ware nicht verdirbt. Er muss auf seine Gesundheit achten. Das ist sein Recht. Während der Fabrikbesitzer also die Arbeit möglichst intensiviert, übt der Arbeiter die so genannte Arbeiszurückhaltung, er vermeidet die Verausgabung. Der Interessenkonflikt liegt auf der Hand. Die Systeme vorbestimmter Zeiten nun sind eine Methode, die geeignet ist, die Arbeitszurückhaltung aufzudecken und zu beseitigen. Dazu werden Arbeiter während der Arbeit gefilmt und die Arbeitszeiten für jede Bewegung notiert. Die so genannten Leistungsgradschätzer analysieren den Film, markieren alle Arbeitsbewegungen, die ihnen überflüssig erscheinen (umständliche Bewegungen, kleine Pausen) und schneiden sie raus. Dann messen sie die Arbeitszeit, die nun natürlich viel kürzer ist als die zuerst ermittelte. Diese verkürzte Zeit wird nun als Vorgabezeit für alle entsprechenden Arbeiten festgelegt. Die Arbeitsbewegungen bestehen nun aus zeitlich festgelegten Arbeitsbausteinen. Auf diese Weise kann die Arbeits-intensivierung durchgesetzt werden. Die Vorgabezeiten konnten dann nicht mehr vor Ort ausgehandelt werden, sondern wurden von Fachleuten als „objektiv“ festgelegt. Der Spielraum, den etwa der Betriebsrat bei Verhandlungen hatte, war nicht mehr vorhanden. Eine Beschwerde über die hohe Arbeitsintensität konnte nun mit Berufung auf die Messungen der Fachleute abgewiesen werden. Der Arbeiter wurde tendenziell ein Anhängsel der Maschine, denn die Arbeitsbewegungen wurden normiert. Die letzten Freiräume wurden geschlossen. Um Ihnen das vorstellbar zu machen, denken Sie sich bitte einen Pizzabäcker, den Sie alle schon bei seiner Arbeit gesehen haben. Er macht beim Kneten des Teigs immer die gleichen Bewegungen in der gleichen Reihenfolge. Aber manchmal macht er eben auch Bewegungen, die der Leistungsgradschätzer für überflüssig halten und ausmerzen würde. Die Gewerkschaften hatten große Mühe, sich gegen diese Methoden zu wehren, zumal sie sich auf die objektivistische Terminologie eingelassen hatten. Sie konnten schließlich doch kleine Veränderungen erreichen und damit der Tendenz dieser Methoden entgegentreten, Verhandlungen durch fachmännisch festgelegte Objektivierungen auszuschließen. Die Mitbestimmung von Belegschaft und Betriebsrat konnte nicht ganz verhindert werden. Hier nun ist der Punkt, an dem Posenenskes soziologische Arbeit an ihre künstlerische Arbeit anschließt: der „Partizipation“ in der Kunst entspricht die Mitbestimmung im Betrieb. Die Mitbestimmung ist eine seit den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts erkämpfte Errungenschaft der deutschen Gewerkschaftsbewegung, die in der ganzen Welt nicht ihresgleichen hat. Die Mitbestimmung ist ein Stück Demokratie im Betrieb. Sie erinnern sich, dass Posenenskes Konzept in der Kunst als demokatisch bezeichnet wird. Die dauernden Auseinandersetzungen mit amerikanischen und asiatischen Konzernen, die in Deutschland heute produzieren lassen, rühren z.T. daher, dass die ausländischen Unternehmen die gesetzliche deutsche Mitbestimmung nicht kennen, ignorieren oder zu unterlaufen suchen. (Amazon, McDonalds, Burger)
Seit den 70er Jahren haben sich auch in den Großbetrieben die Arbeitsverhältnisse geändert. In der Autoindustrie wurde Fließbandarbeit etwa durch Roboter und Produktionsinseln ersetzt, auf denen mehrere Arbeiter gemeinsam ein ganzes Auto zusammenbauen. Die Zeiten, in denen der Arbeiter den ganzen Tag dieselben wenigen Handgriffe ausführte, sind in der großen Industrie vorbei. So gibt es z.B., das Job Rotation, bei der die Arbeiter eine gewisse Zeit diese, und dann eine andere Arbeit verrichten. Bei uns. Doch in der globalisierten Produktion steht industriell noch wenig entwickelten Staaten das noch bevor, was wir zum Teil schon hinter uns haben.
Wie Sie wissen, führt die Ungleichzeitigkeit auf unserem Globus zu großen Schwierigkeiten. Das Produktionsniveau unterscheidet sich nach Jahrhunderten (in Indien ackert man mit einem Ast, in Russland und den USA arbeitet man mit riesigen Landmaschinen) und – denkt man an den berühmten Satz, dem zufolge das Sein das Bewusstsein schafft – so unterscheiden sich auch die Mentalitäten enorm. Mitbestimmung ist nur dort erreichbar, wo es einen entwickelten Begriff von Freiheit gibt.

Ich glaube heute, dass Charlotte ihr Leben in Projekten zu organisieren suchte. Das erste Projekt war die Kunst, das zweite Projekt die soziologische Arbeit und das dritte würde die Arbeit bei den Gewerkschaften gewesen sein, wäre sie nicht so früh gestorben. Alle drei Projekte sind aneinander anschließbar über ihren Begriff von Arbeit und Freiheit. Die durchgehende Dimension, die den Anschluss ermöglicht, ist die Partizipation in der Kunst und die Mitbestimmung im Betrieb.