Charlotte Posenenske gilt heute als Vertreterin eines konzeptuellen Minimalismus, dessen Eigenständigkeit gegenüber der amerikanischen Minimal Art auf seinem Bezug zur europäischen Tradition beruht: Charlotte, wie ich mir erlaube, die 1930 geborene und 1985 früh verstorbene Künstlerin weiter zu nennen, da ich mit ihr 17 Jahre zusammen gelebt habe, stand ganz bewusst in der Tradition des russischen Konstruktivismus, der holländischen De Stijl-Bewegung und des deutschen Bauhauses.
Charlottes Arbeiten sind heute in vielen nationalen und internationalen Museen vertreten, darunter das MoMA in New York, die Tate Gallery in London, das Centre Pompidou in Paris und das MuMok in Wien, das Museum Ludwig in Köln, das MMK in Frankfurt/M. Auch die Daimler Collection besitzt eine größere Anzahl ihrer Werke, die sie unermüdlich um die Welt schickt.
Neuerliche Recherchen ergeben nun, dass die Künstlerin zudem eine starke Affinität zu dem sog. Neuen Frankfurt der zwanziger Jahre hatte, das ihr der Frankfurter Architekt und Gestalter Ferdinand Kramer nahe gebracht haben mag, mit dem sie und ihr erster Mann, der Architekt Paul-Friedrich Posenenske befreundet waren. Darüber will ich jetzt reden.
Nach dem 1. Weltkrieg waren die Wohnungsnot und die Arbeitslosigkeit in Frankfurt so groß, dass die Kommune ein Wohnungsbauprojekt auf die Beine stellte, das weit über Deutschland hinaus unter den Namen „Das Neue Frankfurt“ berühmt geworden ist. Ferdinand Kramer war unter dem legendären Stadtbaurat und Siedlungsdezernenten Ernst May (1886-1970) als Leiter der Typisierungsabteilung des Hochbauamtes tätig. Zwischen 1925 und 1930 bauten May und seine Mitarbeiter die Trabantenstadt “Römerstadt“ und viele innerstädtische Siedlungen. Anders als die lichtlosen, schlecht belüfteten, bis zu achtstöckigen Mietskasernen des 19. Jahrhunderts liegen die auf das Existenzminimum zugeschnittenen, meist 2-stöckigen modernen Kleinstwohnungen im Grünen, sind hell und haben je ein Stück Garten.
Ferdinand Kramer, geboren 1896 und 1985 gestorben wie Charlotte, hatte früh begriffen, dass es in der Not nach dem ersten Weltkrieg darauf ankam, die Massen mit Wohnraum und Mobiliar zu versorgen. Die neue Erkenntnis der Massenhaftigkeit beförderte nicht nur den Fordismus, sondern auch die Normierungs- und Rationalisierungsbewegung der 20er Jahre, die schnell auch die Bauindustrie ergriff. In jener Zeit war auch Willi Baumeister, einer der unbestritten einflussreichsten deutschen Künstler, an der städtischen Kunsthochschule (Städelschule) in Frankfurt tätig. Er wurde Charlottes zukünftiger Lehrer. Ferdinand Kramer und Willi Baumeister waren befreundet. Die Nazis hatten beiden Männern schwer zugesetzt. Beide erhielten Berufsverbot.
Vermutlich durch Paul Friedrich Posenenske, der in Offenbach Stadtbaurat war, lernte Charlotte Ferdinand Kramer kennen und schätzen, umso mehr, als er ein Freund ihres hoch verehrten Lehrers Willi Baumeister war. Soweit die persönlichen Verbindungen, über die Charlotte wahrscheinlich mit Theorie und Praxis des Neuen Frankfurt vertraut wurde, zu dem ihr künstlerisches Konzept, wie ich nun Punkt für Punkt zeigen will, eine deutliche Affinität hat.
1. Serialität
In ihrem im Mai 1968 in Art International publizierten sog. Manifest hatte Charlotte geschrieben: „Ich mache Serien, weil ich nicht Einzelstücke für Einzelne machen will.“ Ihr ganzes Spätwerk ordnete sie in Serien (A – E), d.h. sie verzichtete auf Originale.
Serialität bedeutet Objektivierung oder Ent-Individualisierung, insofern sich Charlotte als Künstlerin immer mehr aus dem Produktionsprozess zurückzog. Sie lässt ihre Produkte fabrikmäßig herstellen und dann von anderen nach deren eigenen Kriterien zusammenbauen – und sie signiert nicht mehr.
Schon Ende der 50er Jahre beginnen einige Künstler Multiples herzustellen, d.h. preiswerte Kunstwerke in limitierten Auflagen. Charlotte aber bestimmte ausdrücklich, dass ihre Arbeiten industriemäßig und unbegrenzt reproduziert werden sollen wie ein beliebiger Gebrauchsgegenstand. Ihre Serienproduktion mag zwar im zeitgenössischen Trend des Multiples gelegen haben, doch könnte sie auch durch das „Neue Frankfurt“ bekräftigt worden sein, wo die Bauteile zur Herstellung billiger Wohnungen massenweise in Serien fabriziert wurden.
2. Typisierung
Massenkonsum setzt Serienfertigung und Typisierung voraus. Die Typisierung wurde von der schon erwähnten Normierungsbewegung getragen, bei der nach dem 1. Weltkrieg Maschinenteile, z.B. Schrauben, die zuvor in Bayern anders gewesen waren als in Sachsen, normiert wurden, sodass sie überall verwendet werden konnten. Die Normierung in der Industrie setzt eine Entwicklung fort, die schon viel früher im Handel durchgesetzt worden war – zunächst durch Napoleon, dann im Norddeutschen Bund unter Bismarck etwa die Einführung einer einheitlichen Währung, einheitlicher Gewichte und Maße. Kramer, der wie gesagt, in dem Frankfurter Siedlungsprojekt für Typisierung zuständig war – entwarf u.a. unterschiedliche Typen von Bauteilen für die Siedlung Westhausen
Charlotte hat die Serie B ihrer Reliefs in 5 unterschiedlichen Typen und Farben herstellen lassen. Sie wolle keine Einzelstücke für Einzelne machen, hatte sie geschrieben. Auch die im selben Jahr 1967 etwas später entstandenen Bausätze der Vierkantrohre bestehen aus Elementen, die unterschiedlich sind, d.h. aus verschiedenen Element-Typen.
Man würde annehmen, dass eine Typisierung die Entscheidungsspielräume der Konsumenten einengt. Kramer spricht aber davon, dass die „zwei entgegen gesetzten Erfordernisse größtmöglicher Typisierung und der Bewahrung einer weitgehenden Dispositionsmöglichkeit“(BA 100 Mitte) einander nur scheinbar ausschließen. Denn gerade durch die Normierung der technischen Elemente einer Wohnung können sie „den verschiedensten Zwecken in gleicher Weise entsprechen, ohne dass ihre Veränderung zu anderen Bauzwecken nötig ist.“ (BA 100 Mitte) „Die Grundrissgestaltung darf logischerweise also nicht starr und festgelegt sein. Im Rahmen moderne Grundrisse bleibt es dem zukünftigen Bewohner freigestellt, beliebig über die Anzahl und die einzelnen Raumgrößen zu disponieren.“(BA 100 Mitte) Kurz, die Typisierung der konstruktiven Teile, die für unterschiedliche Zwecke verwandt werden können, ermöglicht variable Grundrisse und damit einen Handlungsspielraum für die Bewohner. Nach diesem Prinzip hat Charlotte auch die Werkgruppe der Vierkantrohre angelegt: die Typisierung der Elemente eröffnet den Kuratoren einen Handlungsspielraum, innerhalb dessen sie diese oder jene Installationen kombinieren können.
3. Öffentlichkeit
Ein Implikat von Serieller Herstellung und Typisierung ist Ubiquität (Überallheit), insofern dieselben Produkte bzw. ihre Versionen überall auftauchen. Ubiquität ist ein Merkmal der Massenware. Und es kennzeichnet Charlottes Konzept, ihre Kunstwerke unmissverständlich als Ware zu behandeln, die wie jede Ware hier und dort verfügbar ist.
Darum wurde Öffentlichkeit für Charlotte, die keine Produkte für einzelne herstellen wollte, sondern für Jedermann, ein zentraler Begriff. Es versteht sich, dass jeder Künstler bekannt zu werden sucht. Aber Charlotte, die die Galerie verließ, um ihre Arbeiten außerhalb des kommerziellen Systems zu zeigen, z.B. draußen im Straßenverkehr oder auf dem Flugplatz, wollte offenbar noch andere Leute erreichen als das Galeriepublikum. Es war der öffentliche Raum, der sie interessierte, wo tendenziell alle ihre Sachen sehen könnten wie das ja auch bei der Architektur ganz selbstverständlich der Fall ist.
Unter den Motiven, die Charlotte bewegten, sich der Architektur zu nähern, steht als erstes, sich von der Fläche des Tafelbildes zu lösen und in den Raum vorzustoßen – einen Weg vom Illusionismus zur Realität, auf dem sie ihrem Vorbild El Lissitzky folgte. Das zweite Motiv nennt sie selber: „Die Kombinationen der Elemente sind sehr groß, um die räumliche Umwelt umso gründlicher zu verändern.“ (Manifest) Das dritte Motiv mag die Öffentlichkeit sein, die Architektur im Allgemeinen hat. Dazu kommt der erwähnte Aspekt der Ubiquität, der Überallheit, welche ihre Kunstwerke durch ihre ausdrückliche Warenhaftigkeit auszeichnet.
Zu dem Aspekt der Öffentlichkeit passt ihre Hinwendung zur Geometrie, d.h. ein Zugang, der ihre Kunst für Jedermann – mehr oder weniger – verständlich machen könnte. Diese Orientierung, nicht für einzelne Privilegierte zu produzieren, teilt sie mit Ferdinand Kramer und dem Neuen Frankfurt. Obzwar die Geometrie ein gemeinsamer Code der Moderne ist, waren weder Ferdinand Kramer noch Charlotte darin dogmatisch wie manche Bauhäusler. Der berühmte Kramerstuhl z.B. zeigt deutlich, dass seine quadratische Sitzfläche dem menschlichen Gesäß angepasst ist. Die beweglichen Teile von Charlottes großem Drehflügel haben das Format von Türen, d.h. sie sind auf die Größe der Menschen hin konzipiert.
4. Vorfabrikation
Charlottes Vierkantrohre werden fabrikmäßig hergestellt und – wie die Baueinheiten zu den Wohnungen des „Neuen Frankfurt“ – erst vor Ort zusammengesetzt. „Die Durchrationalisierung führte zur Vorfertigung großformatiger Bauteile, die mit einem Kran an der Baustelle montiert wurden“, schreiben Ferdinand & Lore Kramer (Bauhaus-Archivs, 103) Das war das sog. Frankfurter Montageverfahren. Natürlich arbeiten heute viele Künstler in situ, (vor Ort) aber meist nicht so wie Charlotte, die einen Bausatz von vorfabrizierten unterschiedlichen Elementen vor Ort transportieren ließ, wo sie dann von anderen entsprechend den Bedürfnissen und Gegebenheiten montiert werden.
5. Kostpreise
Charlotte schrieb: „Ich mache Serien, weil es ökonomisch ist.“ Ökonomisch war die Produktion für sie wie für das Neue Frankfurt nicht, weil sie einen Profit abwarf, sondern ökonomisch war die kostengünstige Herstellung der Produkte, die für jedermann bezahlbar sein sollten.
Diese moralische Haltung teilte sie mit Ferdinand Kramer, dessen Arbeiten in Abgrenzung zum Funktionalismus „sozial-funktional“ genannt werden. Kramer ist dabei zwar berühmt, aber nicht reich geworden. Weder das Neue Frankfurt noch Kramer noch Charlotte waren an Profit interessiert, sondern am Gebrauchswert, der im Falle von Kunst der ästhetische Wert ist.
Charlotte ließ ihre Produkte zu Kostpreisen verkaufen, sie machte also – entgegen den Regeln des Marktes – keinen Profit. Sie lebte bescheiden von der Vermietung ihres kleinen, dreistöckigen Elternhauses. Außerhalb des Zusammenhangs, in den ich Charlotte zu Kramer und zum Neuen Frankfurt zu setzen suche, ist zu bemerken, dass der Verzicht, Profit zu machen, 1967 eine ebenso einfache wie elegante subversive Strategie war, um in die Machenschaften des imperialistischen Kapitalismus, wie sie damals im Vietnamkrieg in all ihrer Furchtbarkeit zu Tage traten, nicht über die Tauschmechanismen des Marktes involviert zu werden. Charlotte benutze den Markt nur als Distributionsmechanismus für ihre Arbeit, sie surfte sozusagen auf den Marktgesetzen.
6. Transport
Die Vierkantrohre aus Pappe werden zusammengefaltet – d.h. äußerst platzsparend – transportiert und dann erst vor Ort zu riesigen Gebilden aufgefaltet und verschraubt.
Obwohl es für die Faltbarkeit dieser Objekte auch noch andere als ökonomische Gründe gibt,
belegt dieser Aspekt doch auch, wie sehr für Charlotte der gesellschaftliche Kontext ihrer Kunst Bedeutung hatte: die tendenziell massenhafte Produktion, die Kostpreise, die Transportierbarkeit und die Positionierung außerhalb der Galerie. Damit gehört die Kontextualität ihrer Kunst zum Kern des Konzept und ist nicht bloß eine unwesentliche Voraussetzung und Folge. Dass die Transportierbarkeit in ein Kunstkonzept eingeht, ist ungewöhnlich und könnte ebenfalls vom Neuen Frankfurt angeregt sein. (Ich sehe hier von der traditionellen Rollbarkeit von Ölgemälden ab).
Lore Kramer schreibt, dass Ferdinand Kramer von den „knock-down-houses“ fasziniert war, Fertighäuser, die, zerlegbar waren, um sie transportieren zu können. (BA S. 20 rechts)
7. Einfachheit
In ihrem Manifest schrieb Charlotte: „Die Sachen, die ich mache, sind möglichst einfach.“
Sie hatte 1964 die subjektivistische, informelle Malerei aufgegeben und sich Schritt für Schritt der Geometrie zugewandt, dem – neben der Logik – allgemeinen Code der Menschheit, der es erlaubt, die Kunst mit der Architektur und Technik zusammen zu bringen. Ja mehr noch: den Kosmos mit dem symmetrischen Körperbau des Menschen. Wie El Lissitzky legte sie ihren Weg von der individualistischen Malerei über Faltungen, Reliefs und freistehende Objekte bis zur Architektur zurück, d.h. von den auf der flachen Leinwand produzierten Raumillusionen zum Realraum, in dem wir leben und arbeiten. Die letzte Arbeit, die nur als Konzept vorlag, ist auf der großen Züricher Ausstellung 2010 zum ersten Mal realisiert worden und nun zum zweiten Mal hier in Berlin. Dieser sog. Raumteiler besteht nur aus 2 quadratischen, schwenkbaren Flächen, die sich vor einer Raumecke zu einem Würfel zusammenschließen lassen. Die Arbeit ist eine Fortentwicklung der Drehflügel, besteht aber im Unterschied zu diesen zur einen Hälfte aus Architektur – eben durch die beiden festen Wände. Der Zusammenschluss der Kunst mit der Architektur ist hier auf denkbar einfache Weise vorgeführt. Mit dem Raumteiler hatte die Künstlerin ihren Weg von der Illusion zur Alltagsrealität beendet und wandte der Kunst 1968 den Rücken, um Soziologie zu studieren. Ich weiß, dass Charlotte die revolutionäre Idee der „mobilen Wand“ kannte, die Mies van der Rohe in der Weißenhofsiedlung realisiert hat. Revolutionär ist die Idee darum, weil sie es den Bewohnern ermöglicht, den Grundriss ihrer Wohnung nach ihren eigenen Bedürfnisse zu verändern – und damit ein großes Stück ihrer Lebensverhältnisse – anstatt sich an fremd-bestimmte Bedingungen anzupassen. Lore Kramer hat mir erzählt, dass ihr Mann ebenfalls mit mobilen Wänden arbeitete. Wie oben zitiert, wollte Kramer es den Bewohnern anheim stellen, den Grundriss ihrer Wohnung nach ihren eigenen Bedürfnissen zu verändern.
8. Reduktion
Die Einfachheit von Charlottes Kunst verdankt sich einerseits ihrer Hinwendung zur Geometrie und andererseits der Befolgung des berühmten Leitsatzes vieler moderner Architekten: „less is more“, in dem das ökonomische Prinzip der Sparsamkeit als ästhetischer Leitsatz formuliert wird. „Less is more“ bedeutet Reduktion. Charlotte hatte, wie bereits erwähnt, in ihrem Manifest geschrieben: „Ich mache Serien, weil es ökonomisch ist.“ Zwar ist hier das Ökonomische auf die Reproduzierbarkeit bezogen und nicht auf Einfachheit, aber damit doch auf den Kern des Konzepts.
Über die Einfachheit von Kramers Architektur und Design ist viel geschrieben worden. Diese Gemeinsamkeit charakterisiert den Architekten wie die minimalistische Künstlerin als Protagonisten der Moderne. Das reduktive Prinzip verfolgten beide. Julius Posener schreibt über Kramer „das Prinzip Einfachheit sei ganz offenbar sein Prinzip“ (BA 11, Mitte) Und Gert Selle qualifiziert diese Einfachheit so: „Die besondere Qualität des Kramerschen Design bestand in seiner absoluten Unaufdringlichkeit, in der wohltuenden Abwesenheit lehrhafter Propaganda (und damit im Zurücktreten der ideologischen Aura der Objekte.) Das ist ein Seitenhieb auf die dogmatischen Bauhäusler. Anschließend spricht Selle von „Bescheidenheit“. (BA 15) Es wird auch auf Kramers Vorliebe für die Möbel der Shaker hingewiesen. Die Einfachheit der Kramer-Möbel, die ästhetisch als Unaufdringlichkeit und Bescheidenheit erscheint, hat einen wichtigen Grund in der Notwendigkeit zu typisieren und billig zu produzieren – mit Rücksicht auf die gering verdienende arbeitende Bevölkerung. Kramer plädiert für Typenmöbel „für die große Masse, auf deren Lebensbedingungen es in erster Linie ankommt.“ (BA 96 Mitte) Kramers Ästhetik und die des Neuen Frankfurt hatte gute ökonomische Gründe. Das ist auch bei Charlotte so.
Der renommierte Architekturkritiker Wolfgang Pehnt meint mit Bezug auf das „Neue Frankfurt“ , „die schlanke, spartanische, kühle, technikbewusste Form erschien bald nicht mehr als Ergebnis der Not, auch nicht mehr als Ergebnis zeitgemäßer Produktionsmethoden. Sie wurde zum gewollten Symbol der Moderne.“ (FR 1. August 2010, S. 34) Er erwähnt dabei nicht, dass der Trend zur Einfachheit eine weit längere Wurzel im Protestantismus hat. So gibt es ein Niederländisches Stillleben, das – unglaublich gut gemalt – nur einen Krug Bier, ein Brot und einen Hering zeigt Pieter Claesz, Rotterdam), das Biedermeier kommt unter dem Einfluss protestantischen Denkens zu wunderbar einfachem Mobiliar und die protestantische Sekte der amerikanischen Shaker baut sehr formschöne, einfache Möbel – von der japanischen Wohnkultur ganz zu schweigen.
Less is more – der paradigmatische, meist Mies van der Rohe zugeschriebene – Ausspruch formuliert ein ästhetisches Prinzip ökonomisch. Seit der Renaissancemensch Leon Battista Alberti die Sparsamkeit als Maxime des vernünftigen Wirtschaftens formulierte und damit die frühbürgerliche Ökonomie gegen die programmatische Verschwendung des Feudalismus setzte, besteht die von der Aufklärung und dem Protestantismus weiter beförderte Vorstellung, das Beste mit möglichst geringen Mitteln zu erreichen. Mit wenig Aufwand die größtmögliche Wirkung zu erzeugen ist aber auch das technische Effizienzkriterium des sog. Wirkungsgrades, das allgemeine Geltung gewonnen hat. Architektur, Design und Mode bewegen sich zwischen (ursprünglich feudalistischer) Opulenz und (ursprünglich bürgerlicher) Sparsamkeit.
Das Prinzip des „Less is more“ war in den Notzeiten der 20er Jahren, in welchen das Neue Frankfurt entstand, in erster Linie ökonomisch motiviert, während im Bauhaus das Ästhetische vorrangig blieb. Es war der Mangel, es war die Knappheit, die damals eine Rationalität durchsetzte, die allerdings auf der oben erwähnten langen ästhetischen Tradition beruhte.
9. Material
Charlotte verwendete anstatt Stahl, Bronze, Granit, die den Ewigkeitsanspruch einer Skulptur unterstreichen, einfache Industriematerialien: Blech, Presspan und Wellpappe – Verpackungsmaterial. Diese Allerwelts-Materialien sind nicht nur billig, einfach zu bearbeiten und leicht zu transportieren, sondern haben – wie jeder Gebrauchsgegenstand – auch nur eine beschränkte Lebensdauer. Ein Auto ist auch nach 15 Jahren verbraucht. Die Objekte zeigen nach vielen Ausstellungen auch im Freien Gebrauchsspuren: Messzahlen der Handwerker, Handabdrücke vom Hantieren, Beulen, Spuren der Witterung. Das bedeutet, die Objekte zeigen, dass sie eine Geschichte haben, dass sie altern. Das macht sie in gewissem Sinne human. Deutlich wird, dass diese Objekte nicht für die Ewigkeit konzipiert sind – wie sonst bei Kunstwerken meist. Charlotte würde sich sehr wundern, wenn sie ihre Arbeiten in so vielen Museen wiedersehen könnte, wo die Kunstobjekte in eine – übermenschliche – Ewigkeit enthoben werden.
Kramer hat 1951 einen Tisch aus Wellpappe entworfen. Er ging davon aus, dass man ihn nach einer gewissen Zeit wegwerfen würde. Für seine Möbel z.B. einen Schrank, bevorzugte er das neu erfundene leichte Sperrholz, das sich in der Flugzeugindustrie bewährt hatte, aber auch nicht für die Ewigkeit nutzbar ist. Heute betrauern viele Frankfurter, dass Kramers unter Denkmalsschutz stehenden Universitätsgebäude abgerissen werden. Ich wage zu behaupten, dass Kramer sich wie Charlotte bewusst war, dass auch Architektur nicht für die Ewigkeit errichtet wird, auch ihr Gebrauchswert vernutzt sich.
10. Veränderbarkeit
Die Veränderbarkeit der Kunstobjekte durch die „Konsumenten“, wie Charlotte die Kunstrezipienten nannte, um darauf hinzuweisen, dass Kunst ein Konsumgut ist wie jedes andere, spielt in ihrem Konzept eine Hauptrolle: die Reliefs lassen sich hängen, stellen oder legen – und das in den unterschiedlichsten Formationen und Abständen zueinander, die Vierkantrohre lassen sich umbauen und ebenfalls beliebig positionieren, die Drehflügel lassen sich bewegen.
Kramers Möbel entsprechen ihren Namen: sie sind mobil. Sie sind faltbar (Schachtisch), zerlegbar (Kaffeetisch von 1942), verstellbar (Three-in-one-Tisch), kombinierbar Regal-schränke) und fahrbar (Küche). Kramer entwarf Liegestühle und eine faltbare Leiter. Die Raumnot nach dem ersten Weltkrieg und die nomadenartige Mobilität, die Kramer in den USA kennen lernte, sind die ursprünglichen Gründe für die Flexibilität seiner Möbel. Als ich jüngst Frau Kramer besucht habe, fielen mir die vielen Klappstühle (sog. Regisseursstühle) auf, darunter einer, den man ganz auseinander nehmen und in einem Rucksack transportieren kann. Ich sah auch eine zusammenschiebbare Fotolampe, die offenbar als normale Lampe benutzt wurde. Auch Charlotte benutzte Klappstühle und Fotolampen. In ihrer Wohnung standen sog. Blumentischchen aus weiß gespritztem Metall, würfelförmig und wandhoch stapelbar, die Kramer entworfen hat. Heute ist die Flexibilität von Gebrauchsgegenständen und Menschen selbstverständlich geworden, denken Sie an sog. Mehrzweckhallen, Multitools, Wohnmobile, Multitasking wie an die berufliche Patchworkbiographie vieler Menschen, die den Anforderungen der modernen kapitalistischen Gesellschaft entspricht.
Das Bevölkerungswachstum führt auf der ganzen Welt zu Raumnot und die Globalisierung löst große Wanderungsbewegungen aus. Raumnot und Mobilität sind zwei fundamentale soziale Tatsachen des modernen Lebens. Das Konzept der Kramermöbel ist also grundsätzlich aktuell. Die Veränderbarkeit der Kramermöbel hat im Unterschied zu Charlottes Kunstkonzept selbstverständlich andere, nämlich ganz lebenspraktische Gründe.
Veränderbarkeit war in den späten 60er und 70er Jahren ein Begriff, der auf den Umbruch der versteinerten politischen Verhältnisse zielte. Alles sollte verändert werden: die Ökonomie, die Politik, die Stadt, die Freundin und zuletzt auch man selbst. Verändern heißt weniger, dass man etwas größer oder kleiner, sondern dass man etwas anders macht. Das Andersmachen ist ein genuiner Anspruch guter Kunst. Daher liegt es nahe, dass die aus der Studentenrebellion stammende Parole bewusst in die Kunstkonzepte einging oder als bisher stilles Implikat dort auflebte.
Sowohl bei Kramer wie bei Charlotte ist mit der Veränderbarkeit ein Aspekt verbunden, der von größter Wichtigkeit ist: die „Konsumenten“ sollten selber entscheiden, ob sie etwa ein Möbel als Tisch oder als Sitz benutzen möchten bzw. ob eine Installation der Vierkantrohre so oder anders aussehen oder ein Drehflügel so oder so aufgefaltet oder auch geschlossen sein soll. Die Veränderbarkeit überantwortet den „Konsumenten“ eine Entscheidungsfreiheit, die in Charlottes Kunst sehr groß ist, denn sie können selber nach eigenen Kriterien bestimmen, welche und wie viele Elemente der Vierkantrohre zu einer Installation zusammengesetzt werden sollen, ob diese stehen, liegen oder an der Decke hängen soll und wo sie positioniert werden sollen. Dem entspricht bei Kramer der Aspekt des Selbermachens: so entwarf er z.B. einen Schrank, den man in weniger als einer Minute selber montieren und demontieren konnte Lore Kramer spricht von „Möbeln, die zum selbstbestimmten Wohnen herausfordern.“ (BA 23) Gegenüber dem autoritären Status von Einbaumöbeln, also fest eingebauten Essecken, Schränken und Betten, oder dem autoritären Status einer für ewig positionierten, tonnen-schweren, unverrückbaren Skulptur hat die mit der Veränderbarkeit gegebene Entscheidungsfreiheit eine demokratische Dimension, die bei Charlottes Vierkantrohren besonders durch die Partizipation derer zur Geltung kommt, die die Vierkantrohre nach ihren eigenen Vorstellungen auf- und umbauen und damit für die Werkvollendung verantwortlich sind.
Kramer plädierte für variable Grundrisse. Inzwischen ist das Selbermachen zu einer Do-it-yourself-Bewegung geworden.
11. Verschwinden
Kramer, berichtete mir Charlotte, habe einmal gesagt, er freue sich darüber, dass sein Design sich wie selbstverständlich unauffällig in den Alltag einpasse. Zur Erläuterung hier eine Bemerkung über die Kleidung eines Gentleman, könnte sein, von Oskar Wilde: Man erinnere sich nur, schrieb er, dass er gut angezogen war, aber nicht daran, was genau er anhatte. Gert Selle spricht von Unaufdringlichkeit. Mit anderen Worten, das Design verschwindet im Alltag. Diese anspruchsvolle Bescheidenheit kennzeichnet auch Charlottes Kunst da, wo – wie im Falle der Vierkantrohre aus Stahlblech – der Laie oft schwer entscheiden kann, ob es sich überhaupt um Kunst oder nicht eher um eine Entlüftungsanlage handelt.
Aber das Verschwinden ist auch ein Aspekt der Variabilität. Die Vierkantrohre aus Pappe lassen sich nicht nur leicht transportieren, sondern auch leicht wegräumen und lagern. Das Verschwinden und das Aufhören mit der Kunst – bekanntlich hat Charlotte sich 1968 aus der Kunst verabschiedet – haben ein gemeinsames Motiv in der Erkenntnis, dass die Welt mit Produkten voll gestellt ist, eine Erkenntnis, die für viele Künstler in den 60er Jahren ein Grund war, nur noch Konzepte zu entwerfen. Kramer hat viele Möbel entworfen, die faltbar, stapelbar, zusammen zu klappen, zusammen zu schieben, mit einem Wort flexibel waren. Man könnte also sagen, dass seine Möbel eine Tendenz zum Verschwinden haben. Man räumt sie mit Leichtigkeit zur Seite, um wieder Platz zu schaffen. Kramer nannte einige Möbel: „put-away-Wardrobe“, „Pack-away-Gartenmöbel“. Man vergleiche das mit der Haltung, die in Einbaumöbeln verkörpert ist: eine breitspurige Bodenständigkeit, die behauptet, dass die Dinge sind wie sie sind und bleiben, wo sie sind. Kramer und Charlotte betonen ganz wie das Bauhaus einmal gefordert hatte, die Beweglichkeit, die Dynamik gegenüber der Statik, und damit Modernität gegen den Konservatismus.
12. Soziale Orientierung
Die Verfolgung durch die Nazis hatte Charlotte Mayer (nach ihrer Heirat: „Posenenske“), deren Vater Jude war, im Versteck einer Waschküche überlebt. Als von den Nazis so bezeichneter „Mischling ersten Grades“ war sie der Deportation knapp entgangen. Ihre Erlebnisse begründeten in ihr eine starke soziale Orientierung, die sich auch in ihrer Kunst nachweisen lässt und sie ab 1968, nachdem sie der Kunst den Rücken gewandt hatte, dazu führte, Soziologie mit Schwerpunkt Arbeitswissenschaften zu studieren, um später den Gewerkschaften zuarbeiten zu können, von denen sie am ehesten einen wirksamen Widerstand gegen eine wiedererstehende rechte Bewegung erwartete. Unter der Koalitions-Regierung Kiesinger, einem ehemaligen Mitarbeiter von Joseph Goebbels, gab es keine wirksame parlamentarische Opposition mehr. Bereits auf dem Gymnasium ragte die Künstlerin in den Fächern Kunst und Sozialkunde hervor, d.h. ihre soziale Orientierung entstand nicht erst in der Zeit der Studentenrebellion. Stadtplaner Ernst May und Ferdinand Kramer waren beide sozial und demokratisch eingestellt und hatten unter dem sozialdemokratischen Frankfurter Bürgermeister Ludwig Landmann die einmalige Gelegenheit, ihre gesellschaftliche Orientierung in großem Stil in eine wirksame Praxis umzusetzen.
Wie Kramer, der eine Lehrtätigkeit mehrmals abgelehnt hatte, um zu bauen, war auch Charlotte sehr praktisch orientiert. Ihr Soziologiestudium hatte sie nur darum aufgenommen, um es in der Praxis anwenden zu können. Theorie sah sie stets als Mittel, nie als schönes Denken um seiner selbst willen. Sie studierte die Arbeitswissenschaften, für die sich 1968 kein Student interessierte. Wenn man Kramers Möbel „sozial-funktional“ nennt, so heißt das, sie waren allein im Hinblick auf die Nützlichkeit für die Adressaten entworfen, und nicht um einer schönen Form willen, was für das Neue Frankfurt insgesamt gilt. Die Form ordnete sich dem Gebrauchswert unter – wohingegen im Kapitalismus die Ästhetik eines Gegenstands gewöhnlich dazu dient, den Konsumenten anzusprechen, zu überwältigen oder seine Geltungsbedürfnisse zu befriedigen, wobei der Gebrauchswert lediglich das unabdingbare Substrat ist. Die Qualität eines Gegenstands bestand für Kramer nicht in der „bella figura“, der schönen Form oder der Originalität des Entwurfs – Kramer übernahm – wie auch Charlotte – ohne Bedenken gute Ideen von anderen –, sondern allein in seiner guten Verwendbarkeit. Dazu mussten die Möbel einfach sein. Der praktischen Verwendbarkeit entspricht in der Kunst eine mentale Verwendbarkeit, d.h. eine Verständlichkeit, soweit Kunst eben verständlich ist, denn sie bleibt immer vieldeutig. Den tendenziellen Zugang für Jedermann soll die Geometrie ermöglichen. Billigkeit und Verwendbarkeit alias Verständlichkeit kennzeichnen eine moralische Haltung der Zugewandtheit, die Charlotte mit Kramer und dem Neuen Frankfurt verbindet. Ein dritter Aspekt ist die bereits erwähnte Einbeziehung der sog. Konsumenten, indem man es ihnen ermöglicht, etwa den Grundriss ihrer Lebens- oder Arbeitsräume mit mobilen Wänden nach ihren eigenen Bedürfnissen zu ändern, indem man ihnen die Entscheidung überlässt, ob sie ein variables Möbel als Hocker, Regal oder Tisch benutzen wollen (Kramer) oder ihnen den Zusammenbau eines Schrankes zutraut (do it yourself) oder ihnen die Entscheidung überantwortet, diese oder jene Installation der Vierkantrohre nach eigenen Gutdünken zusammen zu setzen. Diese Teilhabe der Konsumenten lässt sich unter dem Begriff „Partizipation“ einordnen und ist nicht nur praktisch, sondern auch demokratisch.
13. Benutzbarkeit
Roberta Smith hat im August 2010 Charlottes New Yorker Ausstellung in den „New York Times“ ausführlich besprochen und im Besonderen die Benutzbarkeit ihrer Kunst heraus-gestellt. Sie schreibt: „The Posenenske exhibition introduces New Yorkers to a body of work they haven’t seen before, and with the new information comes an especially valuable lesson: use becomes it.” Bei dieser Ausstellung haben zwei bekannte Performancekünstler Charlottes Vierkantrohre immer wieder anders installiert. Benutzbarkeit ist der Aspekt von Partizipation, der Charlottes Kunst bis an die Grenze zum Design führt, ohne dass sie diese überschritt. Die Begehbarkeit der Drehflügel führt ihre Kunst nahe an die Architektur heran. Immer wieder erweitern Künstler ihr Terrain oder anders gesagt: sie beziehen Merkmale des Alltags oder der Wissenschaften in die Kunst mit ein. Dass man ein Kunstobjekt begehen kann, war 1967 neu. (Nur die Arbeiten von Carl Andre und Dan Graham sind vergleichbar) Zugegeben, so außergewöhnlich die Begehbarkeit eines Kunstwerks auch ist, so führt sie zwar zur Architektur, aber zeigt doch nicht eine spezifische Affinität zu Kramer oder zum Neuen Frankfurt. Gleichwohl scheint mir die Erwähnung wichtig, weil sie Charlottes Neigung zur Architektur belegen, die doch Voraussetzung dafür ist, dass man von einer Nähe zu den Prinzipien des Neuen Frankfurt überhaupt reden kann.
14. Arbeit
Charlotte schätzte die gute Arbeit anderer hoch. Als wir zusammen Soziologie studierten, freute sie sich an der Formulierung von Marx, der Produkte „geronnene Arbeit“ nennt. Dass ihre Werke in vieler Hinsicht an Industrie erinnern – Serienfertigung, Elementarisierung. Typisierung, Ökonomie – dazu das Material, das in der Industrie verwendet wird – und dass die Installationen der Vierkantrohre immer wieder mit Entlüftungsanlagen verwechselt werden, belegen ihre Hochachtung vor der Arbeit, besonders der industriellen Arbeit. Charlotte besuchte mehrmals die Hannoversche Industriemesse, fotografierte dort und war voller Bewunderung für technische Vorrichtungen und Anlagen, in denen sie die Arbeit der anderen erkannte. Diese Haltung ist es, die ihren Werken eine eigentümliche, technoide Sprödigkeit verleiht. Wiederholt und sehr vergnügt wies sie mich darauf hin, dass Kramer zur Empörung der Geistesarbeiter in der Frankfurter Universität, mitten in das Terrain der Theorie einen Schornstein gesetzt hatte, der – Bestandteil des Heizungssystems – auf die Praxis hinweist, auf die Infrastruktur, ohne die kein Theoretiker einen guten Gedanken fassen kann. Dass Charlotte dann nicht die aufkommenden Kommunikationswissenschaften studierte, sondern Arbeitssoziologie, bestätigt ihre Haltung zur Arbeit.
15. Affinität
Wenn ich eingangs davon gesprochen habe, dass Charlottes Arbeit eine Affinität zu den Möbeln Kramers und zu den Siedlungsprinzipien des Neuen Frankfurt haben könnte, so glaube ich nun sagen zu können, dass sie angeregt und beeinflusst war. Man weiß, dass Künstler alles, was Nicht-Kunst ist, ganz selbstverständlich als Ressource benutzen, und die Kunst selber auch. Man spricht dann von „Kunst über Kunst“. In der letztjährigen Roy Lichtenstein-Ausstellung im Kölner Museum Ludwig konnte man z.B. erleben, wie Lichtenstein bekannte Gemälde großer europäischer Künstler adaptiert, indem er sie sozusagen in die amerikanische Populärsprache des Comics transkribiert. Charlotte, die Originalität mehr oder weniger für die Illusion eines eingebildeten Individualismus hielt, der die immensen gesellschaftlichen Vorleistungen verkennt, hat offenbar Kriterien, die für sozialfunktionales Design und Architektur der 20er Jahre galten, in ihr Kunstkonzept übernommen. Allerdings war dazu die soziale Orientierung, die sie sich auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen in der Nazizeit erarbeitet hatte, gewiss eine wichtige Voraussetzung, wie auch die Aufbruchszeit der 60er Jahre.
Charlotte, welche die Massengesellschaft als eine Tatsache akzeptierte und sich später als Soziologin mit der Taylorisierung und dem Fordismus beschäftige, hat es – übrigens – stets lächerlich gefunden, in einer Villa zu wohnen. Eine solche Zurichtung für besondere Bedürfnisse, eine solche Demonstration von Individualismus fand sie anachronistisch. Sie rechnete es Kramer hoch an, dass er in einem von ihm entworfenen Mehrfamilienhaus wohnte, das so gebaut ist, dass jeder darin wohnen könnte, und dass er für sich und seine Familie nicht – wie oft andere Architekten – ein Haus gebaut hatte, das im Immobilienjargon „Architektenvilla“ heißt. (Beispiel: Haus Kramer, Schaubstraße)