Ein nimmermüder Maulwurf aus Passion
Diplom-Ingenieur Claus Becker hat in seinem Berufsleben als Tunnelbauer die halbe Erde gesehen, bevorzugt von innen
Einmal angenommen, so einer wie er geriet in den Knast: Er wüsste, wie man da rauskommt. Und angenommen, so einer legt Wert auf ein Familienwappen: dann wäre darin der Maulwurf. Denn Claus Becker ist Tunnelbauer, ein Beruf, für den es merkwürdigerweise erst seit Mitte der 90er Jahre einen Lehrstuhl gibt (München). Experten seines Kalibers gibt es auf der Welt nur eine Hand voll.
Wenn für den Tunnelbau auch erst mit dem Aufkommen der Eisenbahn – und Ende des 19. Jahrhunderts mit dem der U-Bahnen in London, Paris, New York – eigene Techniken entwickelt wurden, die sich von denen des Bergbaus unterscheiden. So ist doch die Idee des Tunnels uralt und wurde schon in der Antike mit Skalvenarbeit realisiert (so auf der Insel Samos). Der erste Tunnel, der unter Wasser hindurch führte, wurde 1825 von Isambert Brunel unter der Themse gebaut. Er verband die Londoner Stadtteile Rotherhithe und Wapping – für Fußgänger. Die Arbeit dauerte 16 Jahre, elfmal brach Wasser ein. Alsbald ging es auch jenseits des Atlantiks unters Wasser. Unter dem Hudson wurde eine Eisenbahnunterführung von New York nach Jersey City verlegt. Brücken und Tunnels überwinden Hindernisse auf kürzestem Weg. Was das Meer betrifft, so hat sich der Tunnel der Brücke gegenüber als überlegen erwiesen. Beide Prinzipien konkurrieren noch heute. In jedem Fall braucht der Tunnel weniger Platz als die Brücke mit ihren langen Rampen.
Die "Studiengesellschaft für unterirdische Verkehrsanlagen" (Stuva) hat Claus Becker für sein "Lebenswerk für den Tunnelbau" im vorigen Jahr mit einem Preis in den Messehallen vor mehr als tausend Fachleuten geehrt. Groß gefeiert wurde im Anschluss daran im Römer. Der Diplomingenieur, der in Darmstadt studiert hat, kann sich schhließlich zu Recht einen Frankfurter nennen. Denn er lebt, obwohl 1934 in Cottbus geboren, seit 66 Jahren in der Stadt – mit den Unterbrechungen, die solch ein Beruf mit sich bringt.
Für den Vater zweier Kinder war es nicht immer leicht, von Baustelle zu Baustelle zu ziehen. Manchmal hat er die Familie für ein paar Jahre mitgenommen. Das muss er nicht mehr. 1999 trommelte Becker als Chef der Hauptniederlassung Tunnelbau der Firma Wayss & Freytag zum letzten Mal seine Spezialisten zusammen, die in Rom, Zürich, Rotterdam, Buenos Aires, Singapur, Moskau und neuerdings auch in den USA die begehbare Schildmaschine bedienen. So heißt die gewaltige Bohrmaschine. Die Bezeichnung – nach dem Schild, der im Kampf als Schutz diente – hält die Erinnerung daran wach, dass die Natur eine Macht ist.
Das Schneiderad mit Schälmessern für lehmige Böden und rotierenden Scheiben für harten Stein hatte schon beim Bau des Hamburger Elbtunnels, den Becker Anfang der 70er Jahre als Oberbauleiter durchführte, einen riesigen Durchmesser (Willy Brandt war der erste, der den Tunnel durchschritt). Inzwischen hat die von der Firma Herrenknecht gebaute, zwölf Meter lange Schildmaschine einen Durchmesser von mehr als 14 Metern. Sie wird von 14 Leuten untertage und 14 Leuten übertage bedient – ihre Arbeit heißt "Schildvortrieb" – und ist die größte ihrer Art. Sie kostet 45 Millionen. Es gibt augenblicklich rund zwei Dutzend davon. Die Wiederverwendung der teuren Maschine ist nahezu unmöglich, da etwa die Durchmesser der U-Bahn-Röhren in allen Städten verschieden sind.
Becker hatte als junger Bauführer das "Los 1" der Frankfurter U-Bahn, das erste Stück zwischen Miquelallee und Adickesallee, zu verantworten. Die Kunst des Tunnelbaus, sagt Becker, der in aller Welt Vorträge über Tunnelbau hält, besteht nicht im Durchbohren von Hartgestein, wo es kaum einen Ausbau braucht, sondern im Lockergestein unter Wasser.
Der Tunnelbau hat mit Bergwerksstollen nichts zu tun. Die Probleme sind völlig andere. Denn die Tunnel sind nahe an der Erdoberfläche, bei U-Bahn-Bau zwischen 15 und 25 Meter. Beckers schwierigstes Projekt? Ein Tunnel unter dem St. Clair-River, einem Grenzfluss zwischen den USA und Kanada, für eine kanadische Eisenbahnlinie. Der Bauvertrag musste von Präsident Clinton unterzeichnet werden, weil die Rechtsverhältnisse beiderseits des Grenzflusses so verschieden sind.
Übrigens spottet Becker, die Amerikaner seien, was Tunnel betrifft, zurückgeblieben. Sie verschöben lieber die Berge, als sie zu durchbohren. Den Platz hätten sie ja. Erst jetzt, wo es auch dort enger wird, ist der Tunnelbau aktuell geworden.
Ist die Arbeit gefährlich? Früher, sagt Becker, gab es eine grausame Faustregel: ein Toter pro Kilometer. Unfälle an der Schildmaschine gibt es heute selten.
Claus Becker ist ein drahtiger, bescheiden auftretender Mann. Auf den Baustellenfotos steht er immer in der Mitte, aber hinten. Auch nach der Pensionierung hat der Spezialist genug zu tun, denn die Firma hat sich seiner Fähigkeiten per Beratervertrag versichert. Zeit für Hobbys bleibt da wenig. Claus Becker liest im Fortgeschrittenenkurs der Deutsch-Italienischen Vereinigung mit seiner Frau. Bücher von Luciano de Crescenzo ("Also sprach Bellavista") etwa. Auf Italienisch natürlich. In Ligurien, wo’s viele Tunnel gibt, besitzen Beckers ein Ferienhaus.