Gefrorenes Licht und fremde Ordnung
Wie vom Anfang der Welt oder von einem anderen Stern: Der Bildhauer und Objektkünstler Anthony Cragg in Chemnitz
Auf 600 Quadratmetern Ausstellungsfläche hat Ingrid Mössinger, die vormals in Frankfurt tätige neue Direktorin der Kunstsammlungen Chemnitz, dem englischen Objektkünstler Anthony Cragg (geb. 1949) seine erste Einzelausstellung in den neuen Bundesländern eingerichtet. Zu sehen sind in beiden Stockwerken des Hauses über zwanzig große Arbeiten der letzten Jahre aus den unterschiedlichsten Materialien, von Kartonfaser bis Marmor.
Vor seiner Karriere als Künstler hat Anthony Cragg, der seit 1977 in Wuppertal lebt, als Labortechniker in einer biochemischen Forschungseinrichtung gearbeitet, vielleicht ein Grund für seine Offenheit gegenüber jeder Art von Material und Form. Die stärkste Arbeit, Wooden Crystal vom Jahre 2000 gleicht einer Windhose. Es handelt sich um einen aus unzähligen exzentrischen Holzscheiben aufgebauten, rötlich lackierten Wirbel, der eine gefährliche Geschwindigkeit zu haben scheint.
Ebenfalls aus Drehungen aufgebaut ist Flotsam (1998), ein zu grünlichen Stalagmiten geronnenes Glasfiber-Gebilde wie aus einer Tropfsteinhöhle. Auch Formulation (2000), eine schwarze Bronze, die von fern an einen bandagierten Stuhl mit keulenförmig angeschwollenen Beinen denken lässt, scheint aus schnellen Drehungen entstanden, denn man findet, von nah besehen, auf der Oberfläche herumgeschleuderte Zahlen- oder Buchstabenreihen. Das sieht aus wie Wucherungen des berühmten Kugelschreibkopfes der IBM-Schreibmaschine, der einst der Inbegriff ästhetischer Technik war, ein wirbelndes Chaos, aus dem sich eine fremde Ordnung herausbildet. Die schwarzen Hohlkörper (Bronze), die auf dem Boden sich zu winden, zu kriechen und zu wälzen scheinen (Meander, Taurus) vermitteln den Eindruck großer Kraft und unaufhaltsamer Fortbewegung. Das gilt auch für Bodicea von 1989, eine profiterole-förmige Bronzeraupe. Man denkt an Magma, urzeitliche Gesteinsgeschiebe oder Lava, und wo sich die Gebilde schraubend um eine Achse drehen, muten sie technisch an.
Cragg greift sein Formideen überall auf, in der Natur wie in der Technik, und lässt sie in seinem riesigen Wuppertaler Werkstatt umsetzen. Calendar (1997), ein Arrangement aus Holzteilen (Leiter, Truhe, Leiterwagen, Ast, Backmulden, Schöpfkellen, Tröge,), ist mit großen runden Schraubhaken wie von Schimmelpilzen überwuchert. Omnivore (1993) heißt die gebissförmige Anordnung riesiger Gipszähne. Aus Gips ist auch das mehrteilige Objekt Generations von (1988), zwei große Kreisel, die auf meterlangen Teigrollen gelandet sind. Ein Gebilde aus Tausenden von elfenbeinfarbenen Würfeln, das an die untere Schale einer Muschel erinnert (Secretions 1999), an der noch der starke Stumpf des Schließmuskels haftet, und die reusenartigen, perforierten Hohlkörper (Pod), die vielleicht auch Skelette eines niederen Tieres sein könnten, sind eher gefällige Objekte.
Alle Arbeiten zeichnen sich durch große Sinnlichkeit aus. Craggs Objekte wirken urtümlich, und die besten fremd und gefährlich. Sie scheinen vom Anfang der Welt zu sein oder von einem anderen Stern. Einen ganz eigenen Zauber hat zweifellos Eroded Landscape (1998), eine aus vielen unterschiedlichen Glaskörpern aufgetürmte hohe Etagere, die zuvor in Stuttgart zu sehen war. Die weißbläulich Lalique-matten Vasen, Kelche, Gläser und Flaschen vermitteln die Zartheit gefrorenen Lichts. Der gläserne Turm scheint sich nach oben hin aufzulösen, eine Entmaterialisierung, wie sie die Baumeister der gotischen Kathedralen erträumen.
Bis 2. September 2001.