Adresse, wörtlich genommen
"Schöne Aussicht 2, 60311 Frankfurt". Dort steht jetzt noch der Container des Portikus. Und was sieht man von da Schönes? Sachsenhausen.
Emile Zola hatte über die Bilder Manets geschrieben, sie bohrten Löcher in die Wand, so dass man nach draußen blicken konnte, auf eine Landschaft. Auf eine Landschaft von Manet. Auf Landkarten ist die "schöne Aussicht" im allgemeinen durch fächerförmige Strahlen eingezeichnet: Um sie zu genießen, fährt man Kilometer weit und steigt manchmal ebenso hoch. Besondere Aussichtstürme werden errichtet.
Als schön gilt, wenn man etwa am Meer oder im Gebirge möglichst weit blicken kann und – damit mitunter verbunden – auch vielerlei sieht oder (am besten) alles. Also zum Beispiel von der Aussichtsplattform des Hochhauses der Hessischen Landesbank: ganz Frankfurt.
Das Panorama gilt darum als die schönste Aussicht. Den verengten Blick durch ein Fernrohr würde man nicht als "schöne Aussicht" bezeichnen. Die kurze oder eingeengte Aussicht gilt nicht als schön. Sie muss weit sein. Schön ist die Aussicht zudem, wenn sie klar ist und man Einzelheiten so genau unterscheiden kann, dass es möglich ist, sie zu bezeichnen, etwa "dieses scheußliche technische Rathaus …"
Aber woher kommt das Bedürfnis nach der "schönen Aussicht"? Wohl daher, dass wir gewöhnlich im Kleinen stecken und sozusagen die Nase nicht aus der Furche bekommen. Man möchte dabei nicht nur möglichst weit blicken können, als Ausdruck etwa eines Bedürfnisses nach der Ferne, nach der weiten Welt, sondern sich auch eine Übersicht schaffen, wahrscheinlich, weil die im Alltagsleben oft fehlt. Die Rundumsicht gewährt einen unverstellten Blick und damit ein Gefühl der Freiheit.
Mit der Bezeichnung Schöne Aussicht' – nicht die, die man hat, sondern die, die man sieht, also wo heute noch der Portikus steht – erlangen wir die Gewissheit, lokalisiert zu sein. Wir befinden uns dadurch mental in gesicherten Verhältnissen. Die Beziehung zwischen Wort und Sache steht fest.
Schön ist offenbar der allumfassende, der "beherrschende" Blick, besonders wenn er das Eigene umfasst, im tatsächlichen wie im übertragenen Sinn. Ein griechischer Bauer, nach seinen Olivenbäumen gefragt, machte eine globale Armbewegung und sagte: "olla".
Seit der Entdeckung der Perspektive in der Frührenaissance ist die fürstliche Aussicht auf die eigenen Besitztümer nicht nur durch Schneisen geschaffen, sondern auch im Bilde festgehalten worden. Seinen Lieblings-Ausblick ließ der Fürst sich zuweilen als "Vedute" malen. Umgekehrt wurden die Aussichten in den Englischen Gärten nach Kriterien der Malerei geschaffen.
Was der Feldherr von seinem Feldherrenhügel sieht, gilt allerdings nicht als Vedute, aber wohl auch als schön. Schlachtengemälde waren ein beliebtes Genre.
Kurzum, die schöne Aussicht hat in dieser oder jener Weise mit Herrschaft zu tun, weil sie die Welt nach der räumlichen Entfernung, das heißt nach der schätzbaren und messbaren Erreichbarkeit der Gegenstände unter den Blick ordnet. Die Entdeckung der Perspektive machte die Ballistik erst treffsicher.