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Little Big City (10): Was Frankfurter Männer heutzutage auf dem Kopf haben

Hut auf!

Seit einiger Zeit – sagen wir, seit fünf Jahren – sieht man in der Stadt wieder immer mehr Herrenhüte. In einer Kleinstadt eher nicht, aber in Little Big City. Nicht die grünen Münchner Pinselhüte sind das Phänomen und auch nicht die speckigen, kleinen Cordhütchen der Handwerker, die Pepitahütchen der Rentner oder die schwarzen Hüte der orthodoxen Juden, sondern der normale Hut.
Denn der war einmal eine Norm: wer ihn nicht trug, war bis in die frühen fünfziger Jahre ein "Prolet". Arbeiter trugen überall Mützen, die sie – wie das Klischee es will – vor dem Chef mit niedergeschlagenen Augen in den Händen drehten oder – zum Zeichen unbeholfenen Nachdenkens – ein wenig lüpften, um sich "verlegen hinter dem Ohr zu kratzen". Ein Angestellter oder Beamter dagegen, der sich zwar nicht zum Bürgertum, doch wenigstens zum Kleinbürgertum rechnete, musste einen Hut tragen, sonst gehörte er nicht dazu. In amerikanischen Filmen der 30er und 40er Jahre setzten die Polizeikommissare ihre Hüte auch im Büro nicht ab.
Mehr als jedes andere Kleidungsstück ist der Hut von alters her das Attribut des Herrn. Reichsvogt Gesslers Hut in Schillers Wilhelm Tell musste als Herrschaftssymbol von den Bürgern sogar auf einer Stange gegrüßt werden. Im späten 19. Jahrhundert ging der Herr mit Zylinder, der ihn tatsächlich und nicht nur im übertragenen Sinn erhöhte.
Den Hut zu ziehen und damit einen Augenblick auf den Herrenanspruch zu verzichten, machte die Begrüßung zu einem eindrucksvollen Zeremoniell. Sie war – wie die vielen Verbeugungen der Asiaten – eine rituelle Selbsterniedrigung, auch im Wortsinne. "Hut ab!" sagt man zum Zeichen freiwilliger Hochachtung und "Chapeau!" im Französischen. Als Zeichen der Demut trägt man in der Kirche keinen Hut. Jemandem den Hut vom Kopf zu stoßen, war etwa so, als reiße man einem Militär die Achselklappen herunter.
Die Herrenmode hat sich inzwischen stark verändert. Als Jugend mehr und mehr zu einer Art Qualifikation wurde, war es mit dem Hut vorbei. Im Auto konnte man ihn auch nicht mehr aufbehalten wie einst Humphrey Bogart. Da nun heute die Zeiten konservativ sind und Retrolook in Mode, nimmt es nicht Wunder, dass man in der Großstadt, wo die Trends zuerst erkennbar werden, wieder Hut trägt.
Im Zentrum von Little Big City gibt es nur noch einen einzigen Hutladen. Am besten geht, sagt die Ladenbesitzerin, der "Stetson", ein Hut mit breiter Krempe. Der "elegante Herr" trage das Modell "Humphrey Bogart" und junge Leute das Modell "Indiana Jones". Leider lege man hier nicht so viel Wert auf das Äußere wie in München und Düsseldorf. In Hamburg trage man Hüte schon wegen des Regens. Und in Little Big City? Da, sagt sie, tragen die Herren im Sommer beim Pferderennen in Niederrad Panama-Hüte. In Großstadtfilmen aus den 30er Jahren sieht man auf ein Meer von Herrenhüten. Hut war uniform, während ihn heute in der Goethestraße zu tragen, eher ein Akt der Selbstinszenierung ist – doch eine, die im Rahmen bleibt.
Um Originalität geht es nicht. Mode ist heute oft ironisch. Aber die Männer tragen ihren Hut in vollem Ernst: Sie sind sich bewusst, dass sie den Anspruch zur Schau stellen, ein Herr zu sein – was immer das heutzutage sein mag, jedenfalls "etwas Besseres". Dazu grauer Dreitagebart, Schal, offener Mantel, Budapester Schuhe: fertig ist der Regisseur.
Udo Lindenberg benutzt, wie Joseph Beuys selig, den Hut als Markenzeichen wohl in ähnlicher Absicht wie der italienische Maler SALVO, der seinen Namen grundsätzlich in Großbuchstaben schreibt.

Frankfurter Rundschau v. 05.03.2003, S.12

Little Big City (9): Hundeleben in Frankfurt

Nützlich und gut gekleidet

Hunde in der Stadt, das ist eine alte großstadt-typische Geschichte. Zum Beispiel der Beethovenplatz im Westend von Little Big City: ein bisschen Grünfläche und ein paar Bäume rund um die Christus-Kirche. An der Ecke ein weißes Schild, das einen rot durchgestrichenen Hund zeigt. Heißt das etwa "für Hunde verboten"? Das kann nicht sein, denn von morgens bis abends laufen da Hunde herum und ziehen ihre plaudernden Herrchen und Frauchen hinter sich her. Und im Sommer? Auch im Sommer. Aber da liegen doch dann junge Leute auf dem Rasen. Na und? Hunde gelten als des Menschen bester Freund. Sie sind, sagen manche, sogar besser als Menschen.
Als Wächter ist der Bauernhund ein Nutztier, denn er bewacht den Hof. Stadthunde sehen anders aus. Ein seltener Hund mit Stammbaum, ein Riesenhund oder ein Kampfhund sind Statussymbole, denn sie sind teuer, und ihre Betreuung braucht Zeit. Und Zeit ist Geld, das man sich leisten können muss. Die kleinen Damenhunde zittern sogar im Sommer und kläffen mit hohen Stimmchen. Im Winter tragen sie Pullover und Mäntelchen, in England sogar manchmal Schuhe.
Natürlich gibt es auch in der Provinz Hunde. Aber dort sind sie im Durchschnitt eher größer, und sie laufen nicht massenhaft wie in Little Big Citys Grüneburgpark herum und schnüffeln einander aufgeregt am Hintern. Louis-Sebastien Mercier, der den Alltag von Paris durchstreifte und der erste war, der einen Sinn für das Massenhafte der Großstadt hatte, schreibt 1781 in seinem Tableau de Paris: Dazu (zu den Parisern) "kann man noch mit zweihunderttausend Hunden rechnen. Kein Bedürftiger, der nicht noch in seiner Dachkammer einen Hund hielte zu seiner Gesellschaft. Einer, der sein Brot mit diesem treuen Hausgenossen teilte, wurde befragt; man hielt ihm vor, er koste ihn zu viel und er müsste sich von ihm trennen. Ich mich von ihm trennen!‘ gab er zur Antwort, und wer wird mich dann lieb haben?‘" Eben.
Eine Redewendung besagt, jemand sei "auf den Hund gekommen". Damit ist entweder gemeint, er lebt wie der Kyniker Diogenes (der in der Tonne), den die Athener "Hund" nannten, weil er herumstreunte und alle – wirklich alle – seine leiblichen Bedürfnisse in der Öffentlichkeit verrichtete, oder er hat keinen Menschen, der sich um ihn kümmert, und muss darum mit einem Hund vorlieb nehmen. Denn der Hund liebt den, der ihn ernährt. Er gehorcht und gibt keine Wider-worte. Gegenüber seinem Hund kann der ärmste Schlucker sich als Herr fühlen.
Warum gerade die Großstädter so viele Hunde haben, dazu wieder Mercier, der von einem Mann spricht, der aus der Provinz nach Paris gezogen ist: "In den kleinen Städten verfolgen ihn der Klatsch, die Verleumdungen der Ortsansässigen, und er hätte unter dem törichten Dünkel und der anmaßenden Herablassung der Reichen zu leiden. In Paris steht er jedermann gleich. Hier darf er er selbst sein. Mitten in Paris ist die vollkommene Einsamkeit möglich." Mercier spricht hier von den Vorteilen der Anonymität in der Großstadt gegenüber den sozialen Zwängen in der Provinz. Die Einsamkeit als Möglichkeit, allein zu sein und endlich so zu leben, wie man möchte, ist einer der Gründe, in die Großstadt zu ziehen. Die Einsamkeit aber als Mangel an Liebe und an sozialen Kontakten, ist ein Grund, mit einem Hund zu leben. Der Vorteil ist zudem, dass man im Park mit anderen Hundefreunden unverbindliche Gespräche anknüpfen kann. Man redet zunächst über Hunde, dann auch über anderes. Und da man sicher weiß, dass der Gesprächspartner Hunde mag, gibt es eine einfache Solidarität als feste Gesprächsbasis. So geben die Einsamen, die oft alt sind, einander vermittels des Hundes das zum Überleben in der Großstadt notwendige Minimum an sozialer Zuwendung. Darum ist der Großstadthund ein soziales Nutztier.

Frankfurter Rundschau v. 25.02.2003, S.12

Little Big City (8): Frankfurter Luft, Luft, Luft

Paar Nasen voll Alleenring

"Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft..." Die Berliner Luft wird sogar besungen! Manche behaupten, sie sei wie Champagner oder, sagen wir, wie Brandenburger Perlwein. Tatsächlich scheint die Luft in der Hauptstadt infolge der durchlüfteten breiten Straßen besser zu sein als hier.
Aber kann eine Stadt mit guter Luft überhaupt Groß- und Hauptstadt sein? In Tokio trägt man bisweilen einen Mund- und Nasenschutz nicht nur gegen die Bazillen in der U-Bahn, sondern auch gegen die Luft. Es gibt dort Bars, in denen man frische Luft aus Flaschen nasenweise schlürfen kann. In Budapest kann man nur auf dem nächsten Berg durchatmen – und der ist weit.
Und in Mexico City soll man überhaupt nicht mehr atmen können.
Little Big City? Einmal ein paar Nasen voll Alleenring zwischen 8 und 10, das reicht als Beweis dafür, dass Little Big City eine Großstadt ist. Doch vom Taunus oder von irgendwo daneben weht manchmal ein scharfes Windchen an der Alten Oper vorbei den Reuterweg herunter, der eine der so genannten Luftschneisen ist, die nicht verbaut werden dürfen. Westwind kommt über Höchst und bringt hin und wieder einen chemischen Geruch fast bis zur Hauptwache. Dazu der Duft der Autobahn, an Sommerabenden gemischt mit dem gemütlichen Würstchengeruch der Grillpartys in den Schrebergärten. Und von oben das Kerosin.
Die Schulkinder, die auf Grün warten, atmen an den Verkehrsampeln die Autoabgase ein, die Kindernasen eher und konzentrierter erreichen als die Nasen der Erwachsenen. Furchtbar.
Ja, früher – in der guten alten Zeit – ist doch alles besser gewesen. Doch hören wir zum Thema "früher" den hier schon mehrfach zitierten Louis-Sébastian Mercier in seinem Tableau de Paris aus dem Jahr 1781: "Der ewige Rauch, der aus den unzähligen Schornsteinen aufsteigt, entzieht die Spitzen der Kirchtürme den Blicken; man sieht, wie sich über diesen vielen Häusern eine Wolke bildet und die Ausdünstung der Stadt gewissermaßen sichtbar wird." Der Autor spricht von der "Schwere der Luft" und hat ihr ein eigenes Kapitel gewidmet. Hier kritisiert er, dass "enge und schlecht angelegte Straßen die freie Luftzirkulation zum Stocken bringen". Das Umland der Hauptstadt sei auf eine halbe Meile von Fäkalsammelgruben bedeckt, schreibt Mercier. "Die schönen Boulevards riechen danach." Da es damals noch üblich war, die Toten im Kirchgarten zu begraben, roch man den "Leichengeruch in fast allen Kirchen".
Schlimmer war es zuhause: "In den Häusern stinkt es. Jeder hat in seinem Haus einen Abtritt; von der Vielzahl von Fäkalgruben gehen abscheuliche Dünste aus. Die nächtliche Leerung verbreitet den scheußlichen Geruch im ganzen Viertel. Die Kloakenreiniger schütten auch, um sich die Mühe eines Transports vor die Stadt zu sparen, die Fäkalien im Morgengrauen in die Abflussgräben und Rinnsteine. Diese entsetzliche Brühe ergießt sich nun die Straßen entlang auf die Seine zu und verseucht das Ufer, wo die Wasserträger morgens mit ihren Eimern das Wasser schöpfen."
Der Baron Haussmann ließ bekanntlich unter Napoleon III große Teile der Innenstadt von Paris niederreißen. Die neuen Häuser an den Boulevards der Stadt besaßen dann nach Londoner Vorbild Wasserklosetts, und die Luft begann zu zirkulieren.
Übrigens: der berüchtigte Londoner Nebel, so dicht, dass man die Hand nicht vor Augen sah, entstand durch den Rauch aus den Schornsteinen, an dessen Partikeln die Feuchtigkeit haftete. Die Themse, schreibt Friedrich Engels, war schwarz von Kohlenstaub.
Erst wenn man zurückblickt, kann man die Errungenschaften, die wir heute als selbstverständlich betrachten – Kanalisation, Wasserklo, fließendes Wasser, Strom und so weiter – recht wertschätzen. Nichts ist selbstverständlich, alles musste erfunden und durchgesetzt werden.
So hat auch Little Big City seine Bürgerhelden: zum Beispiel den Sanitätsrat Georg Varrentrapp (1809-86), Arzt am Hospital zum Heiligen Geist, der im Jahre 1868 die Abhandlung Entwässerung der Städte. Über Werth oder Unwerth der Wasserklosette verfasst hat.
Dem "Luther der Hygiene" verdanken wir die Kanalisation.

Frankfurter Rundschau v. 18.02.2003, S.12

Little Big City (3): Die Brücke

Ein Kreuzer pro Überquerung. Der Eiserne Steg führt höchst anmutig über den Fluss

Die Fußgängerbrücke von Frankfurt nach Dribbdebach, zweifellos eine von Little Big Citys wenigen wirklichen Sehenswürdigkeiten, heißt in einem für Frankfurt heute unüblich gewordenen understatement nur "Steg" – "Eiserner Steg" – weil man sonst womöglich an Holz denken könnte.
Der Steg gehört zu den ausgefachten Hängebrücken aus der großen Zeit der Brückenbaukunst, die aufgrund der Entwicklung von Eisenbahn und Stahlkonstruktion im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichte. 1868-69 durch eine Bürgergesellschaft finanziert, zahlte man bei der Überquerung des Stegs einen Kreutzer. Er wurde – wie viele Brücken – noch kurz vor Kriegsende gesprengt. Schon 1946 war er wieder aufgebaut.
Vom Steg herab wird heute viel fotografiert, der Steg selber selten. Little Big City ist an vielen Orten gestaltlos, der Eiserne Steg aber hat einen Körper, eine Gestalt, denn er hat mit seinem akzentuierten Aufgang und seinem akzentuierten Abgang Anfang und Ende. Er ist schlank und zart. Anmutig führt er den Fußgänger über den Fluss. Geradezu zerbrechlich wird der Steg in seiner Taille – der schmalen Mitte. Von hier in den Main zu schauen, macht die gefährliche Höhe bewusst. Würde man hinunterzuspringen wagen?
Heute werden überall Brücken gebaut, die man als Brücken nicht empfindet: sie sind so breit, dass ihre Höhe über dem Fluss oder dem Abgrund nicht mehr wahrnehmbar ist. Oder sie sind wie gewisse Autobahnbrücken nur eine Fortführung der Straße, ohne Anfang und Ende, reine Zweckbauten aus einem Katalog von Bausystemen. Brückenbau ist dem Tiefbau zugeordnet, das Ressort nicht der Architekten, sondern der Ingenieure, die von den Kommunen gehalten sind, möglichst kostensparend zu bauen. Die Brücken, sie sind nicht mehr erfindungsreiche, solitäre Stahlkonstruktionen, sondern anspruchslose Standardbauten aus Stahlbeton, dazu häufig seitlich verblendet, um den Blick des Fahrers nicht abzulenken. Sie haben eine Tendenz zur Röhre – ganz wie Autobahnen und ICE-Strecken mit Lärmschutzwänden. Es sind für schnellen Durchfluss kalkulierte Überbrückungen, Brücken sind es nicht.
Verkehrssysteme sind heute rücksichtslos gegen ihre Umgebung, Brücken waren ein Stück Inszenierung der Stadt. Auf dem Eisernen Steg ist der Übergang noch erlebbar, das Loslösen vom einen Ufer, das gewisse Schweben über dem Fluss, das Ankommen auf dem anderen Ufer, ein Erlebnis, das die Brückenbauer früher durch turmartige Tore verstärkten: man wurde sich bewusst, über den Fluss zu gehen, etwas, das man heute höchstens in Spuren erleben kann, wenn die gespannte Brücke unter der Belastung vibriert.
Die Alternative ist die Fähre, die wir neulich benutzt haben, als der Eiserne Steg wegen der Reparatur seines Bodenbelags gesperrt war. Nichts gegen die Fähre, die sich dem Fluss anvertrauen muss, aber kühn ist sie nicht. Das Sagen hat letztlich der Fluss. Stets werden dagegen die großen Brückenbauten "kühn" genannt – im Bewusstsein, mit einem großen Satz oder auch wie im Dreisprung über den Fluss zu gelangen. Andere Brücken erinnern an die feinen, horizontalen Fäden der Spinnen im Altweibersommer.
Gute Brücken haben etwas Triumphales, nie sehen sie selbstverständlich aus. An der Konstruktion lassen sie noch die gemeisterte Schwierigkeit erkennen, auf die andere Seite zu kommen. Die Architektin Marie Thères Deutsch hat den Platz unter den Platanen am Sachsenhäuser Ufer als rechten Ort für ein Café erkannt: genau neben der einen Wurzel der Brücke. Von dort blickt man an schönen Tagen auf den Steg nach Little Big City hinüber und kann, wenn man ein wenig übertreiben möchte, sich Brooklyn Bridge vorstellen – natürlich: bei uns ist alles viel kleiner. Und das ist auch gut so. Warum übrigens gibt es den Eisernen Steg nicht als Krawattennadel?

Frankfurter Rundschau v. 28.12.2002, S.30, Ausgabe: S Stadt