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Little Big City (17): Underground

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Published in: Frankfurter Rundschau


 
Unterwelt

Bei der Gluthitze unter die Erde! Hier gibt es dieses merkwürdige Windchen. Es ist dieser Hauch, der die Haare der jungen Frauen bewegt und auch dir die Wange liebkost wie weiland Zephir des antiken Griechenlands. Weniger romantisch: die ankommende Bahn schiebt die abgestandene Luft durch den Tunnel, die etwa in Paris zwischen anderen undefinierbaren Gerüchen immer nach Gauloise roch, was einen unverwechselbaren Pariser Großstadtgeruch ausmachte. Sieht man den jungen Alain Delon im Eiskalten Engel durch die Metro vor den Polizisten abhauen, weiß man genau, wie es dort riecht.
Uniformierte, weißbehandschuhte Spezialkräfte, die massenweise Japaner in die Untergrundbahn hineindrücken: Tokio. Unter den vielen Merkmalen, die eine Großstadt als solche erkennbar machen, ist die U-Bahn gewiss das eindeutigste. Hochhäuser, Pissoirs, Straßencafés, Litfaßsäulen, Rolltreppen findet man mehr oder weniger in jeder Großstadt, aber eine U-Bahn haben nur die Weltstädte: New York, London, Paris, Moskau und – es ist wahr – auch Little Big City.
Die U-Bahn ist wie der Flughafen ein sicheres Metropolenattribut, was ja "Metro" schon besagt. "Subway"(N.Y.C.) und "tube" (London) sind eher technische Namen. Die U-Bahn entstand im 19. Jahrhundert in jenen Großstädten, in welchen Massenhaftigkeit und Geschwindigkeit als auffällige Phänomene kapitalistischer Wirtschafts- und Lebensform zuerst auftraten.
Den kühnen, fortschrittsgewissen Planern und Ingenieuren des Fin de Siècle, die Eisenbahnen, Bahnhofskathedralen, Brücken und Hochhäuser bauten, schien nichts unmöglich. Als sich der Verkehr in London derart staute, dass weder für Waren noch Menschen ein Weiterkommen war, beschloss man, den Menschentransport einfach unter die Erde zu schaffen.
Zuvor hatte man schon Abwasserkanäle, Gas- und Wasserleitungen unterirdisch verlegt, und die Tunnelbautechnik war seit den Erfahrungen mit Bergbau und Eisenbahnbau entwickelt genug, um ein solch außerordentliches Projekt zu wagen, wobei man unter Wasser – um sich auf die andere Stadtseite durchzubohren – auch die Themse, die Seine und den Hudson unterqueren musste.
Gespart wurde dabei nicht nur eine Unzahl von Brücken, sondern vor allem an Raum, dem "knappen", das heißt: nicht vermehrbaren Gut einer Stadt, eine Knappheit, die ja auch den Hochhausbau stimuliert hat.
Mit der U-Bahn hatte man den – bisher nur in Utopien entwickelten – Gedanken einer unterirdischen Stadt auf den praktischen Weg gebracht. Das Ergebnis sind, bisher, diverse B-Ebenen. An der Oberfläche blieb Platz für die "schönen" Repräsentationsbauten. Die als unästhetisch empfundene Technik wurde im Historismus, als sogar Maschinen im Renaissancestil ummantelt wurden, untertage gedrückt.
Gewiss waren dabei auch uralte Ängste zu überwinden, denn im Untergrund wähnte man von jeher die Hölle, nicht nur im bigotten England der Queen Victoria. Auch noch heute spricht man ja im negativen Sinn von der "Unterwelt".
Unter den U-Bahnen der Metropolen ist die von Little Big City nicht nur eine der jüngsten, sondern auch die bescheidenste. Sie ist schlichtestes Transportmittel und hat keine ideologischen Funktionen mehr zu erfüllen wie etwa die in Moskau, deren Stationen wahre Marmorpaläste sind. Sie repräsentierten einst im kommunistischen Russland die Potenz des Gemeinsamen, die über das, was der Einzelne vermag, programmatisch hinausgeht – ganz ähnlich wie im 19. Jahrhundert die Eisenbahnkathedralen den technischen Fortschritt heiligten.
Das Merkwürdige am U-Bahn-Fahren ist, dass man, sagen wir, in Brooklyn hinabsteigt und in Harlem auftaucht: Da ist dann alles ganz anders. Das Zwischenstück besteht nur aus Geschwindigkeit und bleibt als visuell erfahrbare Wegstrecke ganz abstrakt. Man versteht die Stadt nicht als Zusammenhang.
Auf der Pariser Linie 1 zwischen den Endstationen Boulogne und Vincennes kann man erleben, wie ein Musette-Walzer (ein Musette-Walzer!) sich langsam näherkommend aus einer weit entfernten Musik zu einem Akkordeon spielenden Russen materialisiert, denn die dort verkehrenden unabgeteilten Schlangenzüge gewähren einen vielleicht 250 Meter langen Durchblick. In den Biegungen wird die Musik leiser, in scharfen Kurven bricht sie ab.

Frankfurter Rundschau v. 04.07.2003, S.13