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Published in: Frankfurter Rundschau
Unter der Markise
Die Cafés haben die Stühle herausgestellt. Noch sonnenbankbraun, holt man sich mit geschlossenen Augen von der echten Frühlingssonne. Aus manchem T-Shirt lugen die neuen Tattoos.
Straßencafés sind nach dem Krieg aus Paris und Italien eingeführt worden. In Berlin konnte man allerdings schon früher bei Kempinski im Freien sitzen, um zu sehen und sich sehen zu lassen, und in Wiesbaden, da saß man im Café Blum – auf der "Rue". In Italien ist es die Sonne, in Paris sind es die breiten Bürgersteige, die mitten in der Stadt das Draußensitzen ermöglichen. Little Big City hat breite Bürgersteige nur auf der Kaiserstraße und Sonne – nun ja, es ist eben so wie es ist.
Es gibt die Möglichkeit, draußen zu sitzen, bei uns hauptsächlich in den Fußgängerzonen. Aber Ähnliches ist nicht dasselbe. Man sitzt auch nicht an der Straße. Die klassischen Straßencafés Pariser Art haben die Halböffentlichkeit des Balkons. Man sitzt im Offenen, aber eben nicht ganz, denn der Rücken ist durch die Haus-wand, das offene Fenster oder den Eingang geschützt, wohin man sich zurückziehen kann – bei Regen oder einer Demonstration oder einer Schießerei, die in Little Big City ja vorkommt.
Unter der Markise mit flatternden Seitenwänden hat das Straßencafé im Unterschied zu der Abgeschlossenheit eines Cafés etwas zeltartig Provisorisches. Man ist da und schon gleich nicht mehr da, ist nur vorübergehend anwesend. Man tut – auch wenn man da stundenlang sitzt –, als sei man auf dem Sprung, raucht eher Zigarette als Zigarre, und wohnt dort nicht etwa – wie in einem Wiener Kaffeehaus, wo der Kellner einen mit der Frage: "Wie immer, Herr Professor?" begrüßt.
Drinnen im Café sitzen die Kuchenesser, im Straßencafé dagegen glaubt man zuversichtlich, an der frischen Luft zu sein. Ein Refugium ist das Straßencafé nicht. Draußen sitzt man inmitten oder am Rande des Passantenstroms, sozusagen mitten im bunten Leben. Man hat einen weiteren Blick, der Horizont ist größer. Sartre und die Beauvoir pflegten im Straßencafé zu arbeiten (und übrigens im Hotel zu wohnen). Vielleicht vermieden sie die Weltabgeschlossenheit, um sich nicht ins Abseits zu schreiben.
Man sieht hier draußen mehr als drinnen: man beobachtet zum Beispiel ein Pferd (selten), einen Rolls Royce mit Chauffeur, einen abhauenden Taschendieb, den Mann, der seine ganze Habe in Tüten gestopft auf drei Supermarktkarren vor sich herschiebt, den abgerissenen, verrückten Schauspieler, der mit weittragendem Bariton immer "Deutschland" ruft, das er gegen die rechte Gefahr wachrütteln will. Man hört den Straßenmusikanten zu oder applaudiert dem russischen Stepptänzer, der über das Kopfsteinpflaster fliegt wie Fred Astaire. Allerdings soll es einen Mann geben, der vor den Kaffeetrinkern exhibitionistisch seine ekligen Verbände abwickelt.
Richard Sennett beklagt, dass der Voyeurismus, den Balzac einmal die "Gastronomie des Auges" genannt haben soll, das Leben in der Öffentlichkeit in ein teilnahmsloses Zuschauen verwandle. "Im Café ballte sich zum erstenmal eine große Anzahl von Menschen, die sich entspannten, die tranken und lasen, die aber durch unsichtbare Wände voneinander geschieden waren."
Das heißt man sitzt wie im Kino. Aber man kann da mit Hut sitzen, Pfeife rauchen, fotografieren, telefonieren, eine Dogge unter dem Tisch haben und kann zuschauen ohne mitzumachen – da hat Sennett ja Recht. "Hallo Uli! Ja, was machst du denn in Little Big City? Komm setzt dich!" Und dann erzählen sie sich was. Wenn sie zuende sind, gucken sie den Frauen nach – diese Voyeure, diese bloßen Zuschauer.
Nur im Straßencafé – nicht im Café – sieht man die Menschen von weiter herankommen, vorbeigehen und verschwinden im rechten Abstand, um sie ein- und abzuschätzen. Die da zum Beispiel, wow!
Frankfurter Rundschau v. 19.04.2003, S. 12