Kategoriearchive: Frankfurter Rundschau / Rubrik: Little Big City

Little Big City (10): Was Frankfurter Männer heutzutage auf dem Kopf haben

Hut auf!

Seit einiger Zeit – sagen wir, seit fünf Jahren – sieht man in der Stadt wieder immer mehr Herrenhüte. In einer Kleinstadt eher nicht, aber in Little Big City. Nicht die grünen Münchner Pinselhüte sind das Phänomen und auch nicht die speckigen, kleinen Cordhütchen der Handwerker, die Pepitahütchen der Rentner oder die schwarzen Hüte der orthodoxen Juden, sondern der normale Hut.
Denn der war einmal eine Norm: wer ihn nicht trug, war bis in die frühen fünfziger Jahre ein "Prolet". Arbeiter trugen überall Mützen, die sie – wie das Klischee es will – vor dem Chef mit niedergeschlagenen Augen in den Händen drehten oder – zum Zeichen unbeholfenen Nachdenkens – ein wenig lüpften, um sich "verlegen hinter dem Ohr zu kratzen". Ein Angestellter oder Beamter dagegen, der sich zwar nicht zum Bürgertum, doch wenigstens zum Kleinbürgertum rechnete, musste einen Hut tragen, sonst gehörte er nicht dazu. In amerikanischen Filmen der 30er und 40er Jahre setzten die Polizeikommissare ihre Hüte auch im Büro nicht ab.
Mehr als jedes andere Kleidungsstück ist der Hut von alters her das Attribut des Herrn. Reichsvogt Gesslers Hut in Schillers Wilhelm Tell musste als Herrschaftssymbol von den Bürgern sogar auf einer Stange gegrüßt werden. Im späten 19. Jahrhundert ging der Herr mit Zylinder, der ihn tatsächlich und nicht nur im übertragenen Sinn erhöhte.
Den Hut zu ziehen und damit einen Augenblick auf den Herrenanspruch zu verzichten, machte die Begrüßung zu einem eindrucksvollen Zeremoniell. Sie war – wie die vielen Verbeugungen der Asiaten – eine rituelle Selbsterniedrigung, auch im Wortsinne. "Hut ab!" sagt man zum Zeichen freiwilliger Hochachtung und "Chapeau!" im Französischen. Als Zeichen der Demut trägt man in der Kirche keinen Hut. Jemandem den Hut vom Kopf zu stoßen, war etwa so, als reiße man einem Militär die Achselklappen herunter.
Die Herrenmode hat sich inzwischen stark verändert. Als Jugend mehr und mehr zu einer Art Qualifikation wurde, war es mit dem Hut vorbei. Im Auto konnte man ihn auch nicht mehr aufbehalten wie einst Humphrey Bogart. Da nun heute die Zeiten konservativ sind und Retrolook in Mode, nimmt es nicht Wunder, dass man in der Großstadt, wo die Trends zuerst erkennbar werden, wieder Hut trägt.
Im Zentrum von Little Big City gibt es nur noch einen einzigen Hutladen. Am besten geht, sagt die Ladenbesitzerin, der "Stetson", ein Hut mit breiter Krempe. Der "elegante Herr" trage das Modell "Humphrey Bogart" und junge Leute das Modell "Indiana Jones". Leider lege man hier nicht so viel Wert auf das Äußere wie in München und Düsseldorf. In Hamburg trage man Hüte schon wegen des Regens. Und in Little Big City? Da, sagt sie, tragen die Herren im Sommer beim Pferderennen in Niederrad Panama-Hüte. In Großstadtfilmen aus den 30er Jahren sieht man auf ein Meer von Herrenhüten. Hut war uniform, während ihn heute in der Goethestraße zu tragen, eher ein Akt der Selbstinszenierung ist – doch eine, die im Rahmen bleibt.
Um Originalität geht es nicht. Mode ist heute oft ironisch. Aber die Männer tragen ihren Hut in vollem Ernst: Sie sind sich bewusst, dass sie den Anspruch zur Schau stellen, ein Herr zu sein – was immer das heutzutage sein mag, jedenfalls "etwas Besseres". Dazu grauer Dreitagebart, Schal, offener Mantel, Budapester Schuhe: fertig ist der Regisseur.
Udo Lindenberg benutzt, wie Joseph Beuys selig, den Hut als Markenzeichen wohl in ähnlicher Absicht wie der italienische Maler SALVO, der seinen Namen grundsätzlich in Großbuchstaben schreibt.

Frankfurter Rundschau v. 05.03.2003, S.12

Little Big City (9): Hundeleben in Frankfurt

Nützlich und gut gekleidet

Hunde in der Stadt, das ist eine alte großstadt-typische Geschichte. Zum Beispiel der Beethovenplatz im Westend von Little Big City: ein bisschen Grünfläche und ein paar Bäume rund um die Christus-Kirche. An der Ecke ein weißes Schild, das einen rot durchgestrichenen Hund zeigt. Heißt das etwa "für Hunde verboten"? Das kann nicht sein, denn von morgens bis abends laufen da Hunde herum und ziehen ihre plaudernden Herrchen und Frauchen hinter sich her. Und im Sommer? Auch im Sommer. Aber da liegen doch dann junge Leute auf dem Rasen. Na und? Hunde gelten als des Menschen bester Freund. Sie sind, sagen manche, sogar besser als Menschen.
Als Wächter ist der Bauernhund ein Nutztier, denn er bewacht den Hof. Stadthunde sehen anders aus. Ein seltener Hund mit Stammbaum, ein Riesenhund oder ein Kampfhund sind Statussymbole, denn sie sind teuer, und ihre Betreuung braucht Zeit. Und Zeit ist Geld, das man sich leisten können muss. Die kleinen Damenhunde zittern sogar im Sommer und kläffen mit hohen Stimmchen. Im Winter tragen sie Pullover und Mäntelchen, in England sogar manchmal Schuhe.
Natürlich gibt es auch in der Provinz Hunde. Aber dort sind sie im Durchschnitt eher größer, und sie laufen nicht massenhaft wie in Little Big Citys Grüneburgpark herum und schnüffeln einander aufgeregt am Hintern. Louis-Sebastien Mercier, der den Alltag von Paris durchstreifte und der erste war, der einen Sinn für das Massenhafte der Großstadt hatte, schreibt 1781 in seinem Tableau de Paris: Dazu (zu den Parisern) "kann man noch mit zweihunderttausend Hunden rechnen. Kein Bedürftiger, der nicht noch in seiner Dachkammer einen Hund hielte zu seiner Gesellschaft. Einer, der sein Brot mit diesem treuen Hausgenossen teilte, wurde befragt; man hielt ihm vor, er koste ihn zu viel und er müsste sich von ihm trennen. Ich mich von ihm trennen!‘ gab er zur Antwort, und wer wird mich dann lieb haben?‘" Eben.
Eine Redewendung besagt, jemand sei "auf den Hund gekommen". Damit ist entweder gemeint, er lebt wie der Kyniker Diogenes (der in der Tonne), den die Athener "Hund" nannten, weil er herumstreunte und alle – wirklich alle – seine leiblichen Bedürfnisse in der Öffentlichkeit verrichtete, oder er hat keinen Menschen, der sich um ihn kümmert, und muss darum mit einem Hund vorlieb nehmen. Denn der Hund liebt den, der ihn ernährt. Er gehorcht und gibt keine Wider-worte. Gegenüber seinem Hund kann der ärmste Schlucker sich als Herr fühlen.
Warum gerade die Großstädter so viele Hunde haben, dazu wieder Mercier, der von einem Mann spricht, der aus der Provinz nach Paris gezogen ist: "In den kleinen Städten verfolgen ihn der Klatsch, die Verleumdungen der Ortsansässigen, und er hätte unter dem törichten Dünkel und der anmaßenden Herablassung der Reichen zu leiden. In Paris steht er jedermann gleich. Hier darf er er selbst sein. Mitten in Paris ist die vollkommene Einsamkeit möglich." Mercier spricht hier von den Vorteilen der Anonymität in der Großstadt gegenüber den sozialen Zwängen in der Provinz. Die Einsamkeit als Möglichkeit, allein zu sein und endlich so zu leben, wie man möchte, ist einer der Gründe, in die Großstadt zu ziehen. Die Einsamkeit aber als Mangel an Liebe und an sozialen Kontakten, ist ein Grund, mit einem Hund zu leben. Der Vorteil ist zudem, dass man im Park mit anderen Hundefreunden unverbindliche Gespräche anknüpfen kann. Man redet zunächst über Hunde, dann auch über anderes. Und da man sicher weiß, dass der Gesprächspartner Hunde mag, gibt es eine einfache Solidarität als feste Gesprächsbasis. So geben die Einsamen, die oft alt sind, einander vermittels des Hundes das zum Überleben in der Großstadt notwendige Minimum an sozialer Zuwendung. Darum ist der Großstadthund ein soziales Nutztier.

Frankfurter Rundschau v. 25.02.2003, S.12

Little Big City (8): Frankfurter Luft, Luft, Luft

Paar Nasen voll Alleenring

"Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft..." Die Berliner Luft wird sogar besungen! Manche behaupten, sie sei wie Champagner oder, sagen wir, wie Brandenburger Perlwein. Tatsächlich scheint die Luft in der Hauptstadt infolge der durchlüfteten breiten Straßen besser zu sein als hier.
Aber kann eine Stadt mit guter Luft überhaupt Groß- und Hauptstadt sein? In Tokio trägt man bisweilen einen Mund- und Nasenschutz nicht nur gegen die Bazillen in der U-Bahn, sondern auch gegen die Luft. Es gibt dort Bars, in denen man frische Luft aus Flaschen nasenweise schlürfen kann. In Budapest kann man nur auf dem nächsten Berg durchatmen – und der ist weit.
Und in Mexico City soll man überhaupt nicht mehr atmen können.
Little Big City? Einmal ein paar Nasen voll Alleenring zwischen 8 und 10, das reicht als Beweis dafür, dass Little Big City eine Großstadt ist. Doch vom Taunus oder von irgendwo daneben weht manchmal ein scharfes Windchen an der Alten Oper vorbei den Reuterweg herunter, der eine der so genannten Luftschneisen ist, die nicht verbaut werden dürfen. Westwind kommt über Höchst und bringt hin und wieder einen chemischen Geruch fast bis zur Hauptwache. Dazu der Duft der Autobahn, an Sommerabenden gemischt mit dem gemütlichen Würstchengeruch der Grillpartys in den Schrebergärten. Und von oben das Kerosin.
Die Schulkinder, die auf Grün warten, atmen an den Verkehrsampeln die Autoabgase ein, die Kindernasen eher und konzentrierter erreichen als die Nasen der Erwachsenen. Furchtbar.
Ja, früher – in der guten alten Zeit – ist doch alles besser gewesen. Doch hören wir zum Thema "früher" den hier schon mehrfach zitierten Louis-Sébastian Mercier in seinem Tableau de Paris aus dem Jahr 1781: "Der ewige Rauch, der aus den unzähligen Schornsteinen aufsteigt, entzieht die Spitzen der Kirchtürme den Blicken; man sieht, wie sich über diesen vielen Häusern eine Wolke bildet und die Ausdünstung der Stadt gewissermaßen sichtbar wird." Der Autor spricht von der "Schwere der Luft" und hat ihr ein eigenes Kapitel gewidmet. Hier kritisiert er, dass "enge und schlecht angelegte Straßen die freie Luftzirkulation zum Stocken bringen". Das Umland der Hauptstadt sei auf eine halbe Meile von Fäkalsammelgruben bedeckt, schreibt Mercier. "Die schönen Boulevards riechen danach." Da es damals noch üblich war, die Toten im Kirchgarten zu begraben, roch man den "Leichengeruch in fast allen Kirchen".
Schlimmer war es zuhause: "In den Häusern stinkt es. Jeder hat in seinem Haus einen Abtritt; von der Vielzahl von Fäkalgruben gehen abscheuliche Dünste aus. Die nächtliche Leerung verbreitet den scheußlichen Geruch im ganzen Viertel. Die Kloakenreiniger schütten auch, um sich die Mühe eines Transports vor die Stadt zu sparen, die Fäkalien im Morgengrauen in die Abflussgräben und Rinnsteine. Diese entsetzliche Brühe ergießt sich nun die Straßen entlang auf die Seine zu und verseucht das Ufer, wo die Wasserträger morgens mit ihren Eimern das Wasser schöpfen."
Der Baron Haussmann ließ bekanntlich unter Napoleon III große Teile der Innenstadt von Paris niederreißen. Die neuen Häuser an den Boulevards der Stadt besaßen dann nach Londoner Vorbild Wasserklosetts, und die Luft begann zu zirkulieren.
Übrigens: der berüchtigte Londoner Nebel, so dicht, dass man die Hand nicht vor Augen sah, entstand durch den Rauch aus den Schornsteinen, an dessen Partikeln die Feuchtigkeit haftete. Die Themse, schreibt Friedrich Engels, war schwarz von Kohlenstaub.
Erst wenn man zurückblickt, kann man die Errungenschaften, die wir heute als selbstverständlich betrachten – Kanalisation, Wasserklo, fließendes Wasser, Strom und so weiter – recht wertschätzen. Nichts ist selbstverständlich, alles musste erfunden und durchgesetzt werden.
So hat auch Little Big City seine Bürgerhelden: zum Beispiel den Sanitätsrat Georg Varrentrapp (1809-86), Arzt am Hospital zum Heiligen Geist, der im Jahre 1868 die Abhandlung Entwässerung der Städte. Über Werth oder Unwerth der Wasserklosette verfasst hat.
Dem "Luther der Hygiene" verdanken wir die Kanalisation.

Frankfurter Rundschau v. 18.02.2003, S.12

Little Big City (6): Der Zoo

Schreiende Elefanten

Was eine Großstadt sein will, hat einen Zoo. Nach den Vorbild von London entstand der erste "zoologische Garten" Deutschlands im Berliner Thiergarten. Das Gartenprinzip gesteht den Tieren mehr Lebensraum zu als der enge Käfig der Menagerie. Während der Berliner Zoo eine staatliche Gründung (1844) war, ist der erste auf private Initiative angelegte Zoo der in Frankfurt a.M. (1858) .
Im Unterschied zu den Residenzstädten kamen die meisten gemeinnützigen Errungenschaften in Little Big City durch die Bürger selber zustande. Die alten Menagerien waren als Sammlungen exotischer Tiere ein Pendant zu den Wunderkammern gewesen. Die Fürsten pflegten ihre Gäste durch "Meraviglia" (Wunderdinge) zu überraschen: seltene Münzen, Steine, Uhren, Antiken, aber zum Schrecken der Damen auch Missgeburten in Spiritus.
Die Menagerien waren Sammlungen von "Monstern" (von lat: monstrare = zeigen), z. B. ein Nashorn, über das man sich wunderte und lachte. Schon 1443 war auf der Frankfurter Messe ein Elefant gezeigt worden. Nach der Entdeckung Amerikas wurden auch "Wilde" ausgestellt. Wilde Tiere wurden in "Zwingern" gehalten, wobei es vergnüglich war, dicht vor der gefangenen, wutschnaubenden Natur, eine Zigarre im Mund, gelassen promenieren zu können.
Auf diese Tradition geht zurück, dass die späteren Zoos oft mit Vergnügungseinrichtungen kombiniert wurden. Anders als die Feudalen, die nur für ihr Vergnügen lebten, machte das aufstrebende Bürgertum mit allem ernst. So ist der Zoo ein Verwandter der Enzyklopädien, also des Versuchs der Aufklärer um Diderot, alle Phänomene der Welt im Detail zu erfassen.Fremdartige Tiere fungierten nun nicht mehr als kuriose Geschenke, die man bei Besuchen machte, sondern wurden zu Objekten wissenschaftlicher Studien. Und da man im 18. Jahrhundert an Jean Jaques Rousseau glaubte, wurde die Volksaufklärung Programm.
Wenn die Zoos öffentlich waren, so dass jedermann Zugang hatte, so nicht nur des Vergnügens, sondern auch der Bildung wegen. Es galt die Natur zu studieren, die den Künsten und Wissenschaften Vorbild war, die sich aber auch, wie man noch heute glaubt, beherrschen und übertreffen lässt: etwa durch Maschinen, die sich schneller fortbewegen als jedes Lebewesen oder durch die Malerei, die Naturschönheiten, die in der Natur nicht gemeinsam auftreten, so zu konzentrieren vermag, dass man behaupten konnte, die Kunst sei der Natur an Schönheit überlegen.
Im 19. Jahrhundert, dem bürgerlichen Jahrhundert, begann man Sammlungen im großen Stil anzulegen: Gesteinssammlungen, Pflanzensammlungen, Kunstsammlungen. Der Zoo ist eine Art Tiermuseum. In der hohen Zeit des Kolonialismus war es leichter geworden, in Asien, Afrika und Südamerika nie gesehener Tiere habhaft zu werden. Insofern hat jede Sammlung, ob Zoo oder Museum, eine imperialistische Basis: Man zeigte in den Metropolen, was man in den exotischen Ländern zusammengeraubt oder für einen Pappenstil erworben hatte.
Der Imperialismus stellte in den Hauptstädten seine Beute nicht anders aus als die alten Römer, welche in ihren Triumphzügen die fremdartig gewandeten Gefangenen und die merkwürdigsten Tiere mitgeführt hatten. Besonders als die Darwinsche Abstammungslehre Skandal machte, war es üblich geworden, sich über die Affen lustig zu machen.
Dass der Mensch das vollkommenste aller Lebewesen sei und damit auch das schönste, ist auch von den Pferdeliebhabern und Gazellenfreunden nie ernstlich bezweifelt worden. Und mit ihm verglichen ist ein Ameisenbär einfach komisch.
Der Zoo ist noch immer eine der größten Attraktionen von Little Big City. Dass er mitten in der Stadt geblieben ist und nicht – wie nach dem Krieg geplant – an die Peripherie verlegt wurde, verdanken wir Professor Grzimek. Als 1944 auch der Zoo brannte, liefen die Elefanten schreiend durch die Stadt. Salvador Dalis brennende Giraffe ist keine Erfindung.

Frankfurter Rundschau v. 11.01.2003, S.30, Ausgabe: S Stadt

Little Big City (4): Die Werbesäule

Litfaß’ Sieg

Im Dritten Mann verschwand Orson Welles – in der Rolle des verbrecherischen Harry Lime – in einer Litfaßsäule, die offenbar über einem Eingang zur Wiener Kanalisation stand. Die Polizei war hinter ihm her.
Gewöhnlich hat die von Ernst Litfaß nach Pariser und Londoner Vorbild eingeführte runde Plakatsäule keine Tür. Manche Exemplare aber möglicherweise doch, etwa in Berlin, denn Druckereibesitzer Litfaß hatte die Lizenz zum Aufstellen seiner 150 "Annociersäulen" 1854 vom Polizeipräsidenten erhalten.
Solch ein, vielleicht mit Schlitzen versehenes, Versteck nahe am Volksmund war für Horch- und Guckposten der preußisch-königlichen, dann wilhelminisch-kaiserlichen und schließlich national-sozialistischen Obrigkeit sicher verführerisch. Aber in Rutmanns berühmtem Berlin-Film Symphonie der Großstadt (1927) sieht man eine Litfaßsäule, in der eine harmlose Trafostation steckt.
Auch in Little Big City findet man die Säulen überall in der Stadt, an der Universitätsbibliothek verblenden sie offenbar die Enden der Lüftungsrohre. Oben sind sie dort mit einer Krone versehen, auf der grün auf weiß "Frankfurter Rundschau" zu lesen ist.
Litfaßsäulen sind ein Ingredienz der Großstadt. Im Unterschied zu den auf den Autofahrer berechneten Plakatwänden findet man an den Säulen eher kleinere Ankündigungen. Gewiss, manchmal zündet der Marlboromann sich rund um die Säule eine Zigarette an, und einmal hat auf der Bockenheimer Landstraße ein Kondomhersteller der Säule sein Produkt übergezogen. Normalerweise sind die Ankündigungen aber für Passanten gedacht, die stehen bleiben oder um die Säule herumgehen. Die Werbefunktion der Litfaßsäule ist anders als die des Plakats: Man findet dort eher etwas so wie auf dem Flohmarkt. Information statt Überwältigung.
Die große Plakatwand, sie fordert Abstand, die Litfaßsäule aber steht mitten im Menschengewühl, und weil sie rund ist, bildet sich kein Stau. Litfaßsäulen mit dem Filmprogramm – bei uns in Gelb und immer an der gleichen Stelle – richten ihre Botschaften an den Fußgänger und sind insofern Bestandteil einer humanen Urbanität.
Merkwürdig anzusehen ist die Schälung. Mit einer Flex wird ein senkrechter Schnitt gemacht und die dicke und harte Schicht tausender übereinander gekleisterten Informationen abgelöst. Die nackte Litfaßsäule sieht dann dünn aus wie ein geschorenes Schaf. Im 18. Jahrhundert war es verboten, Anschläge zu machen. Die Kirche hatte sich beschwert, weil an Kirchen- und Klostermauern für Komödien geworben wurde. Aber die Pariser Plakatkleber waren schlau: "Ein Mann mit einer großen Kiepe macht an einem Eckstein halt und ruht sich aus, gegen den Stein gelehnt, die Kiepe immer auf dem Rücken, und mit einem müden Ausdruck. Unterdessen brauchte ein kleiner Junge, der auf dem Boden der Kiepe kauerte, nur die Hände auszustrecken, um das mit Kleister getränkte Plakat anzukleben..." (Mercier, Tableau de Paris, 1781).
Ernst Litfaß, der in Berlin einst als Theaterdirektor und dann als Verleger des Berliner Krakehler angefangen hatte, ist durch seine Konzession ein reicher Mann geworden, übrigens auch dadurch, dass er das Monopol zur Veröffentlichung der Siegesmeldungen von 70/71 erhielt. Litfaß, dessen Name bei uns so fest mit der Plakatsäule verbunden ist, starb 1874 ganze 35 km von Frankfurt entfernt, in der heutigen Landeshauptstadt.

Frankfurter Rundschau v. 04.01.2003, S.30, Ausgabe: S Stadt

Little Big City (3): Die Brücke

Ein Kreuzer pro Überquerung. Der Eiserne Steg führt höchst anmutig über den Fluss

Die Fußgängerbrücke von Frankfurt nach Dribbdebach, zweifellos eine von Little Big Citys wenigen wirklichen Sehenswürdigkeiten, heißt in einem für Frankfurt heute unüblich gewordenen understatement nur "Steg" – "Eiserner Steg" – weil man sonst womöglich an Holz denken könnte.
Der Steg gehört zu den ausgefachten Hängebrücken aus der großen Zeit der Brückenbaukunst, die aufgrund der Entwicklung von Eisenbahn und Stahlkonstruktion im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichte. 1868-69 durch eine Bürgergesellschaft finanziert, zahlte man bei der Überquerung des Stegs einen Kreutzer. Er wurde – wie viele Brücken – noch kurz vor Kriegsende gesprengt. Schon 1946 war er wieder aufgebaut.
Vom Steg herab wird heute viel fotografiert, der Steg selber selten. Little Big City ist an vielen Orten gestaltlos, der Eiserne Steg aber hat einen Körper, eine Gestalt, denn er hat mit seinem akzentuierten Aufgang und seinem akzentuierten Abgang Anfang und Ende. Er ist schlank und zart. Anmutig führt er den Fußgänger über den Fluss. Geradezu zerbrechlich wird der Steg in seiner Taille – der schmalen Mitte. Von hier in den Main zu schauen, macht die gefährliche Höhe bewusst. Würde man hinunterzuspringen wagen?
Heute werden überall Brücken gebaut, die man als Brücken nicht empfindet: sie sind so breit, dass ihre Höhe über dem Fluss oder dem Abgrund nicht mehr wahrnehmbar ist. Oder sie sind wie gewisse Autobahnbrücken nur eine Fortführung der Straße, ohne Anfang und Ende, reine Zweckbauten aus einem Katalog von Bausystemen. Brückenbau ist dem Tiefbau zugeordnet, das Ressort nicht der Architekten, sondern der Ingenieure, die von den Kommunen gehalten sind, möglichst kostensparend zu bauen. Die Brücken, sie sind nicht mehr erfindungsreiche, solitäre Stahlkonstruktionen, sondern anspruchslose Standardbauten aus Stahlbeton, dazu häufig seitlich verblendet, um den Blick des Fahrers nicht abzulenken. Sie haben eine Tendenz zur Röhre – ganz wie Autobahnen und ICE-Strecken mit Lärmschutzwänden. Es sind für schnellen Durchfluss kalkulierte Überbrückungen, Brücken sind es nicht.
Verkehrssysteme sind heute rücksichtslos gegen ihre Umgebung, Brücken waren ein Stück Inszenierung der Stadt. Auf dem Eisernen Steg ist der Übergang noch erlebbar, das Loslösen vom einen Ufer, das gewisse Schweben über dem Fluss, das Ankommen auf dem anderen Ufer, ein Erlebnis, das die Brückenbauer früher durch turmartige Tore verstärkten: man wurde sich bewusst, über den Fluss zu gehen, etwas, das man heute höchstens in Spuren erleben kann, wenn die gespannte Brücke unter der Belastung vibriert.
Die Alternative ist die Fähre, die wir neulich benutzt haben, als der Eiserne Steg wegen der Reparatur seines Bodenbelags gesperrt war. Nichts gegen die Fähre, die sich dem Fluss anvertrauen muss, aber kühn ist sie nicht. Das Sagen hat letztlich der Fluss. Stets werden dagegen die großen Brückenbauten "kühn" genannt – im Bewusstsein, mit einem großen Satz oder auch wie im Dreisprung über den Fluss zu gelangen. Andere Brücken erinnern an die feinen, horizontalen Fäden der Spinnen im Altweibersommer.
Gute Brücken haben etwas Triumphales, nie sehen sie selbstverständlich aus. An der Konstruktion lassen sie noch die gemeisterte Schwierigkeit erkennen, auf die andere Seite zu kommen. Die Architektin Marie Thères Deutsch hat den Platz unter den Platanen am Sachsenhäuser Ufer als rechten Ort für ein Café erkannt: genau neben der einen Wurzel der Brücke. Von dort blickt man an schönen Tagen auf den Steg nach Little Big City hinüber und kann, wenn man ein wenig übertreiben möchte, sich Brooklyn Bridge vorstellen – natürlich: bei uns ist alles viel kleiner. Und das ist auch gut so. Warum übrigens gibt es den Eisernen Steg nicht als Krawattennadel?

Frankfurter Rundschau v. 28.12.2002, S.30, Ausgabe: S Stadt

Little Big City (2): Verkehr

Rache-Reigen

Bockenheimer Landstraße: Ein Rechtsabbieger, in dessen Kleinwagen die Bässe wummern, schneidet auf der Fahrradspur einen Radler. Der schüttelt die Faust, denn der Stärkere hat ihm sein Recht beschnitten. Der rachedurstig gestimmte Radfahrer findet sich ein Stück weiter vor der Post durch einen Lieferwagen behindert, der auf der Fahrradspur parkt. Böse verbiegt der Radfahrer dem Falschparker den Scheibenwischer, was den Autofahrer in seinem Zorn auf die Radler nur bestärkt. Während der Radler in der Goethestraße auf die Armbanduhr schaut, läuft ihm ein junger Mann ins Rad, das Handy am Ohr, Folgen: Das Handy liegt auf dem Pflaster, der Davonradelnde zeigt den Effenberger. Fünf Minuten später bringt der erboste Fußgänger dem nächstbesten Herrenrad einen Platten bei.
In der Großstadt – und Little Big City ist eine solche – ist der Verkehr naturgemäß dichter als anderswo. Wo alle dasselbe wollen – nämlich möglichst schnell vorwärtskommen nach hier oder nach dort – setzt der Stärkere sich durch. Um den Verkehr zu verflüssigen und dabei die schwächeren Verkehrsteilnehmer zu schützen, haben die Verkehrsplaner auch in Little Big City für eine Entflechtung des Verkehrs gesorgt.
Aber auch, weil der Deutsche als Verkehrsteilnehmer rücksichtslos auf seinem Recht besteht – sei es als Autofahrer, Radler oder Fußgänger – je nachdem, in welche Rolle er sich gerade eingemauert hat. Verhandlungen, wer wem die Vorfahrt lässt, sind ausgeschlossen. Jeder Sorte Verkehrsteilnehmer wurde also eine eigene Spur zugewiesen, und wo eine Begegnung unvermeidlich ist wie an der Kreuzung, wird die Vorfahrt durch Ampelanlagen geregelt.
Diese Beschränkung auf den eigenen Weg, die der Logik einer Ghettoisierung entspricht, hat dazu geführt, dass man auf der eigenen Spur nicht mehr erwartet, von den anderen Verkehrstrotteln belästigt zu werden. Schläfrig fährt man vor sich hin wie auf Schienen, und trifft man doch einmal mit der anderen Sorte zusammen, besteht man standhaft auf seinem Recht.
Das Fahren ist zu einem rein technischen Vorgang geworden mit der Folge, dass die sozialen Tugenden der Umsicht, Rücksicht, Vorsicht und Nachsicht verloren gegangen sind, die idealiter den Verkehrsteilnehmer kennzeichnen, der vorwärtskommen will, ohne andere zu behindern. Kaum etwas ist zur Förderung unsozialer Verhaltensweisen besser geeignet als der Straßenverkehr, der als ein bloß technischer Vorgang angelegt ist. Soziale Regeln sind durch technische Regeln ersetzt worden. Der Alien ist immer der Kerl von der anderen Spur.

Frankfurter Rundschau v. 18.12.2002, S.29, Ausgabe: S Stadt

Little Big City (1): Alltag

Normaluhr

An einigen zentralen Orten der Großstadt wundert man sich über eine so genannte Normaluhr, die etwa in Little Big City Frankfurt am Ende der "Fressgass", am Opernplatz, an der Hauptwache, am Ende der Zeil, in Bornheim und an einigen U-Bahnabgängen meist auf hohen, manchmal kunstvollen Sockeln angebracht ist, damit man sie schon von weitem sieht. Warum das aber, wenn doch jedermann eine Armbanduhr trägt?
Die Normaluhr ist ursprünglich eine Einrichtung des frühen 20. Jahrhunderts, als die Arbeit in Fabriken, Büros und Geschäften überall zur selben Zeit begann und endete. Die Normalzeit wurde – gegenüber der so genannten mittleren Ortszeit – schon wegen der Koordinierung der Eisenbahnen eingeführt und hieß darum zunächst "Eisenbahnzeit". Die Zeit, welche die Normaluhr zeigt, war die Norm, sie galt als objektiv und war verbindlich. Nach ihr stellte man seine eigene Uhr, sofern man eine besaß.
Die Normaluhr ist ein Pendant der Fabrikuhr: Die Unternehmer des 19. Jahrhunderts, die von der eingekauften Lebenszeit der Arbeiter keine Minute zu verlieren gedachten, brachten eine große, weit sichtbare Uhr über dem Fabriktor an: Zeichen auch der Herrschaft über die Zeit der anderen. Selbst die großen Turmuhren der zur vorletzten Jahrhundertwende errichteten Bahnhofskathedralen waren Hoheitszeichen: Fabrikuhr und Bahnhofsuhr normierten den Tag der Arbeitsgesellschaft.
Die Normaluhr demonstriert die Ablösung unserer ökonomisch regierten Zivilisation von der Natur, sie demonstriert in der Großstadt, der Hochburg modernen Lebens, die Emanzipation von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, von der Zeit des Reifens und Wachsens, von den Jahreszeiten, denn hier gelten die natürlichen Regelmäßigkeiten nicht mehr, nach denen sich die agrarischen Gesellschaften noch richten, wo punktgenaue Verabredungen nicht möglich sind.
Goldene Taschenuhren wurden von Chefs aller Rangstufen an Ketten getragen. Die Uhr war aus dem Spielzeug des Barock und Rokoko zum bürgerlichen Herrschaftsinstrument geworden, Werkzeug zur Kontrolle fremder Lebenszeit. Unpünktlichkeit galt als Verstoß gegen die bürgerliche Ordnung. Disziplin war alles, solange man die Arbeiter als mögliche Rebellen, wenn nicht als Revolutionäre zu fürchten hatte. Herrschaftssymbol war die Taschenuhr noch als Nickelzwiebel in der Weste des kleinbürgerlichen Patriarchen und Schullehrers. Das Ticken der Pendeluhren in den Wohnstuben, das heute Nostalgiker gemütlich finden, war in Wirklichkeit das Mittel, das unaufhaltsame Vorrücken der Zeit stets bewusst zu halten.
Das mechanische Zerhacken der Dauer setzt nun die Digitaluhr fort. Das Zeitbewusstsein – mühsam anerzogen – befestigte sich endgültig, und das Reglement wurde schließlich ganz verinnerlicht, als es jedermann möglich war, eine Uhr zu besitzen. Gewöhnlich war sie ein Geschenk zur Konfirmation und bedeutete, dass der Jüngling – zunächst trugen nur Männer Uhren – in die Gesellschaft der Erwachsenen aufgenommen war, eine Initiation wie heute die Verleihung des Führerscheins.
Mit ihrer Massenhaftigkeit als Taschen- oder Armbanduhr hörte die Uhr auf, ein Symbol der Fremdherrschaft zu sein. Sie ist nicht mehr Instrument hauptsächlich zur Kontrolle über andere, sondern Mittel der Selbstkontrolle. Man richtet sich nun nach der eigenen Präzisionsuhr, die man allerdings morgens mit der Radiozeit vergleicht – der Normaluhr unserer Tage. Die eigene Uhr geht einher mit dem Anspruch auf eigene Zeit und eigene Zeiteinteilung.
Die Uhr am Arm von Jedermann ist ein Zeichen der Emanzipation geworden – wenigstens dem Anspruch nach. Denn zugleich bleibt sie noch immer das Gegenteil: allgegenwärtiges Mittel zur Unterwerfung von Körper, Seele und Geist unter ein weltweit geltendes System, nach dem die globale Ökonomie funktioniert. Carlo Levi, der italienische Schriftsteller und Maler, der heute hundert Jahre alt geworden wäre, sagte, die wahre Zeit sei das schwankende Euter einer Kuh. Damit nicht etwa auch andere so mit den Naturzeiten kokettieren, steht die Verkörperung des Zeitregimes mitten in der Stadt: die Normaluhr.

Frankfurter Rundschau v. 29.11.2002, S. 30, Ausgabe: S Stadt

Little Big City (7): Die Warteschlange

Der Nächste, bitte

"Queue" sagen die Franzosen, "queue" die Engländer, "coda" die Italiener. Sie sagen "den Schwanz machen". Aber Schwanz wovon? Bei uns sagt man "Schlange". Wir stehen Schlange. Vor dem Bahnschalter, vor dem Postschalter, an der Führerscheinstelle, in der Kantine, vor dem Pissoir, an der Kasse. Das Schlangestehen ist eine typische Situation in der Großstadt. Warteschlangen entstehen, wenn viele zur gleichen Zeit am selben Ort dasselbe wollen. Es ist ein Massenphänomen. Wenn weniger Leute, dann weniger Schlangen.
Aber die Großstädte wachsen an, die Dienstleistungen werden weiter eingeschränkt, den Kommunen fehlt es an Geld. Auch Little Big City ist pleite. Die Warteschlangen werden länger.
Während es bei der Arbeitszeit um Sekunden geht, wird draußen in der Warteschlange gegen jede zeitökonomische Vernunft Lebenszeit vergeudet. Denn es handelt sich bloß um private, um nicht kommerzialisierbare – um unsere Zeit. Und während wir warten, werden wir älter.
Ist die Warteschlange einerseits Ausdruck von Zeitverschwendung, so ist sie doch andererseits ein Zeichen sozialer Reife, ein Zeichen von Kultur. Denn ist es nicht erstaunlich, dass Menschen, die in der Großstadt gewohnt sind, sich überall rücksichtslos durchzusetzen, freiwillig eine Reihe bilden, in die sich auch der Stärkere, Wichtigere, Reichere ohne weiteres integriert?
Vergleicht man die urbane Warteschlange, für deren strikte Einhaltung besonders die Londoner berühmt sind, mit dem anarchischen Gedränge an einer Bushaltestelle etwa im ländlichen Afrika oder in Südamerika, wird klar, worin diese urbane Kultur besteht: in der diskussionslosen Anerkennung der Prämisse, dass alle Wartenden sich hier und jetzt in einer Situation sozialer Gleichheit befinden. Der Rang wird allein durch den Zeitpunkt der Ankunft bestimmt. Nirgends ist ein Schild angebracht, das vorschreibt, sich eine Reihe zu bilden. Es handelt sich um eine wortlose Vereinbarung zur Herstellung einer einfachen Ordnung.
Sie basiert auf der Einsicht, dass es nicht möglich ist, unmittelbar direkt ans Ziel zu gelangen, sondern nur mittelbar: vermittels einer gerechten und rationalen Ordnung. Diese Einsicht bedeutet, ein Bedürfnis aufzuschieben – ein sicheres Merkmal von Kultiviertheit. Beim Einfädeln in eine Autoschlange vor einer Straßenenge befindet man sich in einer vergleichbaren Situation: um selber möglichst schnell vorwärts zu kommen, ist es notwendig, anderen den Vortritt zu lassen – aus reinem Egoismus.
Noch in den 60er Jahren wäre es deutschen Autofahrern schwer gefallen, das Paradox zu denken. Wir haben es gelernt.
Da der Zeitpunkt der Ankunft die Priorität bestimmt, wird nur ungern akzeptiert, dass jemand jemandem den Vortritt lässt. Etwa an der Kasse eines Lebensmittelmarktes.
"Haben Sie nur das bisschen?"
Der Mann im Blaumann zeigt wortlos sein Frühstück.
Die Dame lässt ihm den Vortritt und freut sich über ihre Großzügigkeit. Bis man ihr von hinten ihre fürstliche Willkür vorwirft: "Für mich haben Sie wohl gleich mitentschieden!"
Die relative Gleichheit der Ziele: Fahrkarte, Pinkeln, Bezahlen erleichtert das Einhalten der Ordnung. Es entsteht eine Art Solidarität, ein Wir-Gefühl gegenüber Außenseitern. Die Erregung ist groß in einer Warteschlange, wenn doch einer Anstalten trifft sich vorzudrängen. Der Regelverstoß wird mit starken Worten geahndet. Doch Handgreiflichkeiten sind eher selten, da der Barbar sich einer solidarischen Menge gegenübersieht.
Tatsächlich findet man den Typus des Ipsissimus, zu dessen Selbstverständnis es gehört, jederzeit und überall auf die Überholspur zu gehen, in einer Warteschlange selten. Denn das Warten widerspricht seinem sozialen Selbstverständnis: Warten ist unverkennbar ein Zeichen von Abhängigkeit. Durchsetzungsvermögen und andere männlichen Tugenden gelten hier nichts.

Frankfurter Rundschau v. 15.01.2003, S.29, Ausgabe: S Stadt