Kategoriearchive: Frankfurter Rundschau / Rubrik: Little Big City

Little Big City (20): Bettler in der Stadt

Barmherzigkeit

"Zwei arme Hunde bitten um eine milde Gabe", steht auf dem Pappschild, daneben liegt der Hund, dahinter hockt sein Herr, der offenbar eher auf Tier- als auf Nächstenliebe vertraut. Ein Stück weiter in der Nähe eines Kaufhausportals das Schild: "Betteln ist besser als stehlen." Der Ärmste weist höflich darauf hin, dass er – notfalls – auch anders könnte. An der Katharinenkirche steht die alte Frau, mit Stock, zitternd.
Es ist nun einmal so, dass eine Metropole sich von anderen Großstädten nicht nur durch einen Flughafen, eine U-Bahn, Hochhäuser und Fahrradkuriere unterscheidet, sondern auch durch ihre Bettler. Sie wohnen auch in Little Big City nicht am Ort, sondern kommen allmorgendlich mit dem Zug aus dem Umland. Denn einer, der in einer Kleinstadt Arbeit und Achtung verloren hat, setzt sich dort nicht den Blicken seiner Mitbewohner und Kollegen aus.
Bettler machen es sich nicht, wie sie doch könnten, auf Schemeln bequem, sondern drücken ihre soziale Niedrigkeit symbolisch aus, indem sie auf dem nackten Boden hocken und den Blick gesenkt halten, als schämten sie sich. Es ist die Anonymität der Großstadt, die ihnen Schutz und nach der Wahrscheinlichkeit die größte Überlebensmöglichkeit bietet.
Betteln gilt als die elendste Art, Geld zu machen, die sogar von den Obdachlosen verachtet wird. Verachtet wird die zur Schau gestellte Hilflosigkeit eines Erwachsenen, der unfähig ist, für sich selbst zu sorgen. In einer Gesellschaft, in welcher die Menschen ihr Selbstbewusstsein über die Findigkeit beziehen, mit der sie sich ihren Lebensunterhalt beschaffen, ist der Bettler ein Nichtskönner.
Bettler gehören seit den ältesten Zeiten zum Stadtbild. Großstädte, in denen sie fehlen, lassen die Frage aufkommen, wo sie denn sind und wer sie entfernt hat. In alten Zeiten umlagerten sie die Kirchenportale – der günstigste Ort, da die Gläubigen wenigstens drei Mal täglich zur Messe gingen. Die Barmherzigkeit war tätiger Ausdruck der Nächstenliebe, das oberste Gebot der Christenheit. Die Wohlhabenden waren gewohnt, der Armut jederzeit ins Gesicht zu blicken und ihr Gewissen zu prüfen. Armut galt nicht als Schande, da Christus selber arm gewesen war. Ja, sie war sogar ehrenhaft, wie die Existenz von Bettelorden belegt.
Doch war das Überhandnehmen der Bettelei auch früher ein Problem. Schon im 15. Jahrhundert gab es daher Polizeiverordnungen, aber auch obrigkeitliche Bettelbriefe, in denen in besonderen Fällen das Recht auf Mildtätigkeit anerkannt war.
Noch heute gibt es in Lissabon den Elefantenmann, dessen Gesicht durch eine grauenhafte Hautkrankheit verunstaltet ist. Er tritt aus dem Schatten einer Nische des großen Platzes (am Rossio) und hält dir, wenn du angesichts des entsetzlichen Anblicks zusammenfährst, ein Beglaubigungszertifikat entgegen. Seine Krankheit ist seine einzige Einnahmequelle.
Auf dem Römerplatz bewegte sich unlängst ein in den Gelenken scheußlich verdrehtes Geschöpf spinnengleich auf Händen und Füßen auf die Passanten zu, ein andermal sah man in der Liebfrauenstraße einen fremdländischen Menschen knien, der den Kopf in unerträglicher Demutshaltung auf das Pflaster stützte. Diese Art der Selbsterniedrigung läuft unserem abendländischen Menschenbild zuwider, das auch dem Elendsten eine Würde als bloßer Mensch zuerkennen möchte.
Lieber geben wir in Little Big City einem Bettler, der etwas leistet – und dadurch im Grunde kein Bettler mehr ist. So konnte man in diesem Jahr auf der Zeil einen lahmen Mann sehen, der einen roten Ball derart virtuos auf seinen Krücken balancierte, dass er hätte im Tigerpalast auftreten können. Er hatte nicht nur bald einen vollen Hut, sondern erhielt auch Applaus. Er hatte aus der Not eine Tugend gemacht und führte ein respektables Trotzdem vor. Das imponiert.
Am ehesten geben wir aber dann, wenn wir keine soziale Kluft zu überwinden haben: etwa einem jungen Bettler, der uns offen und gerade (anständig) ins Gesicht blickt, freundlich lächelt und unaufdringlich wie beiläufig fragt: "Entschuldigen Sie, mir geht es nicht so gut. Könnten Sie mir vielleicht ein bisschen Geld schenken?" Mein Gott, das könnte der eigene Sohn oder Enkel sein! Und betroffen fingert man die Börse hervor.
Der Junge hat soziales Gespür, denn er spricht nur die an, die dem Milieu angehören, aus dem er selber stammt. Und das direkt vor der Deutschen Bank. Ja, er kann es hier schaffen. Er ist clever.

Frankfurter Rundschau v. 25.09.2003, S. 14

Little Big City (19): Pfand

Mit Karat

"Opa bringt Gebiss ins Pfandhaus. Für meinen Enkel tu ich alles." Es sind solche Behauptungen des Boulevardjournalismus, welche die Pfandleiher ärgern. Denn sie nehmen keine Gebisse, auch nicht mit Goldzähnen. "Wir sind so etwas wie das letzte Schwanzende der Banken", sagt die junge Frau im Leihhaus. Was sie als Pfand annimmt, das sind Schmuck, Uhren, seltener kostbares Porzellan und silberne Bestecke.
Arme Leute sind es also nicht, die ins Leihhaus gehen, sondern arm gewordene. Goldenes geht nach Gewicht, inklusive "Farbstein" – nur Diamanten werden extra taxiert. Die Anrüchigkeit des Pfandhauses, erklärt der Chef des Unternehmens, rühre daher, dass die Pfandleiher früher mitunter auch Hehler waren. Heute muss man den Personalausweis vorlegen und eine Eigentumsbestätigung unterschreiben.
An der Wand des Wartezimmers, denn manchmal – vor Weihnachten – gibt es Andrang, hängen die "Allgemeinen Geschäftsbedingungen". Da steht etwa: "Soweit der Pfandleiher wegen der Rechte eines Dritten kein Pfandrecht erwirbt, hat der Verpfänder dem Pfandleiher als Schadensersatz das Darlehen, die im Pfandschein vermerkten Zinsen sowie die bis zum Tage der Herausgabe des Pfandes an den berechtigten Dritten bei Gültigkeit des Pfandkreditvertrages zu berechnende Unkostenvergütung zu zahlen." Alles klar?
Wie viele Pfandhäuser gibt es in Little Big City? Es gibt fünf, allerdings nicht zu vergleichen mit den riesigen Institutionen des Dorotheums in Wien und den Sälen des Hôtel Drouot in Paris. Ein Pfandhaus rentiere sich erst in Städten ab 500 000 Einwohnern, sagt der Chef. Das Pfandhaus ist demnach nicht ein metropolentypisches, aber doch ein großstädtisches Phänomen.
Mercier lobte 1781 das erste, im Jahre 1777 eröffnete Pariser Pfandhaus ganz überschwänglich: "Die Verwaltung versetzte durch diese weise und so lange Zeit herbei gesehnte Einrichtung dem barbarischen und gierigen Wüten der alles verschlingenden Wucherer, die immer erpicht darauf waren, den Elenden auch noch die Haut von den Knochen zu ziehen, einen tödlichen Schlag."
Gilt das auch heute noch? Ohne Zweifel. An das Leihhaus wenden sich Menschen, die in Not geraten sind. "Ungefähr einmal wöchentlich haben wir einen Kleinunternehmer, der den Schmuck seiner Frau versetzt, um eine Steuernachzahlung zu leisten", sagt die Pfandleiherin.
Gäbe es das Leihhaus nicht, das feste Gebühren hat, fiele der, welcher keinen Bankkredit mehr bekommt, in die Hände der Wucherer, die es natürlich auch heute überall gibt in der Großstadt. "Aber es kommen auch Leute, die sich mal was leisten wollen und den Kredit dann abstottern." Und es gebe Stammkunden. Das Pfandhaus werde von Leuten, die in Urlaub fahren, auch als Schließfach benutzt. Denn hier gibt es nicht nur eine dicke Stahltür, sondern auch Tresore. Und der Schalter ist aus schusssicherem Glas, weil es ja sein könnte, dass mal einer durchdreht. Denn es ist hier natürlich viel Bargeld im Haus.
Wenn der Pfandschein abgelaufen ist, wird man benachrichtigt, und wenn man seinen Schmuck nicht wieder abholt, wird er zu festen Terminen versteigert – im Saal des Hotel Kolping. Samstag früh, kurz nach acht, wenn in Little Big City nach einer langen Sommernacht noch keiner auf der Straße ist, sind die provisorischen Schmuckvitrinen schon dicht umlagert.
Mit Lupen ausgerüstete Damen beäugen die mit Nummernzettelchen versehenen Exponate und notieren sich Basispreis, Karat und Gewicht auf einem Formular. Man kennt einander, die Atmosphäre ist familiär. Aber es sind nicht nur Händlerinnen da, sondern auch üppig in Gold gefasste Schnappiers.
Profit, sagt der Chef, macht der Pfandleiher bei der Versteigerung nicht, der Übererlös muss ans Sozialamt abgeführt werden. Wer hätte das gedacht! Der öffentlich vereidigte Auktionator – ein selbstständiger Beruf – ist aufs Podium gestiegen und rattert die Daten des jeweiligen Exponats herunter, während die Stücke auf einem Samtbrettchen herumgetragen und ein letztes Mal befingert werden. Die kleinsten Sachen werden in Stufen von einem Euro ausgeboten. Wer den Zuschlag hat, zückt die Börse, zahlt ohne Umstände und steckt das Stück in die Handtasche.

Frankfurter Rundschau v. 27.08.2003, S. 12

Little Big City (18): Portiers, Türsteher, Schweizer

Alle Tore des Hotels

Portiers? Gewiss, auch die gibt’s in Little Big City. Der Portier ist ein Grenzer zwischen innen und außen, verwandt mit der oder dem berühmten Pariser Concierge, die oder der sich vom Gefängniswärter, Wachtposten, Pförtner am Fabrikeingang, Türsteher vor der Disco und dem Hotelportier dadurch unterscheidet, dass sie dort, wo sie aufpasst, auch wohnt.
Die Concierge ist ursprünglich eine Einrichtung der großen Hôtels gewesen, der Pariser Adelspaläste, wo sie in einer kleinen Wohnung neben der Hofeinfahrt hauste. Die Funktion einer Aufsicht und eines Schlüsselverwalters wurde dann auch für die Mietshäuser eingerichtet. Es war unter anderem ihre Aufgabe, die Moral zu hüten und darauf zu achten, dass keine leichten Mädchen die Treppe hinauf kletterten. Die Concierge wusste alles, und es war ratsam, sich mit ihr gut zu stellen und mit ihrer Katze auch. Wehe, man vergaß sie zu grüßen.
Außerdem war es ihre Aufgabe, Hausierer, Bettler und Diebe abzuhalten. Die Hauseingänge waren sonst ungeschützt, und es war nicht unüblich, dort seine Notdurft zu verrichten. Die Concierge war eine Kreatur des Mietherrn, der immer Gründe suchte, um einen unliebsamen Mieter los zu werden. Mieterschutz wie heute gab es nicht. Die ersten Klingeln waren Glöckchen, die über komplizierte, durchs ganze Haus führende Drahtzüge bedient wurden.
Heute hat man die Concierge durch die Kombination von elektrischen Klingeln und Gegensprechanlage abgelöst. Der Portier war nur in der Großstadt notwendig, denn in der Kleinstadt kennt jeder jeden.
In Little Big City hat der Beruf des Portiers überlebt: Der muskulöse Türsteher vor der Disco ist ein Nachfahre des sogenannten Schweizers: "Türsteher und Schweizer sind in Frankreich Synonyme geworden. Die Schweizer genießen das Vorrecht, die Tore der öffentlichen Gebäude, königlichen Gärten und die Kirchenschiffe zu hüten und zum festen Bestand der Herrenhäuser der Hauptstadt zu gehören. Zwei von ihnen genügen, um das breiteste Tor zu sperren, und man braucht keine Gitter mehr. Sie prüfen und sammeln die Einlasskarten und sind abwechselnd umgänglich oder ablehnend, je nach dem Gewand, das vor ihnen auftaucht." Das schreibt Mercier 1781, als habe er 2003 persönlich vor einer Disco gestanden.
Heute sieht man die Schweizer nur noch am Eingang zum Vatikan ihre Hellebarden kreuzen. Warum Schweizer? Sie galten als kräftig, genügsam, ein bisschen dumm und hundetreu, vor allem aber beherrschten sie die Landessprache nicht, so dass man sie am Tor zu nichts überreden konnte.
Portiers – Symbolfiguren für den verwehrten Zugang – gibt es auch in der großen Literatur. In Kafkas Erzählung Vor dem Gesetz sagt der Türhüter: "Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen." Und im Amerika-Roman sagt der Oberportier: "Mir unterstehen alle Tore des Hotels, also dieses Haupttor, die drei Mittel- und die zehn Nebentore, von den unzähligen Türchen und türlosen Ausgängen gar nicht zu reden."
In der amerikanischen Realität stehen schwer bewaffnete Wachtposten am Eingang der Wohnanlagen für die Reichen. Und in sowjetischen Hotels saßen vierschrötige Aufpasserinnen auf jeder Etage, die alle Vorkommnisse nach oben meldeten.
In Little Big City gibt es in den neuen Boardinghäusern von der Art des Main Plaza eine Rezeption wie in einem Hotel. Der höfliche junge Mann am Empfang – die elegante Version des Portiers – ist Hotelfachmann und spricht fließend Englisch. Er vermittelt jeden Service.
Die Voraussetzung zur Errichtung derartiger möblierter oder unmöblierter Appartements ist die Existenz einer Spezies von Mietern, die für eine gewisse Privatheit bis zu 5000 Euro bezahlen, um vorübergehend in einer an alle wichtigen Kapitalkreisläufe angeschlossenen Großstadt wie Little Big City zu leben. Hier wohnen die Berufsnomaden, anspruchsvolle Menschen, die auch mal nachts zum Diktat rufen oder vormittags Champagner ordern. Um ihnen zu Diensten zu sein, sie zu behüten und abzuschirmen, bedarf es der Fähigkeit, zwischen Befugten und Unbefugten zu unterscheiden.
Hat der Portier einen Waffenschein? Der Hotelfachmann lächelt reserviert. "Wir haben einen Security Manager." Aha, der hat ihn. Einer hat ihn jedenfalls immer in dieser Stadt.

Frankfurter Rundschau v. 11.07.2003, S. 13

Little Big City (17): U-Bahn

Unterwelt

Bei der Gluthitze unter die Erde! Hier gibt es dieses merkwürdige Windchen. Es ist dieser Hauch, der die Haare der jungen Frauen bewegt und auch dir die Wange liebkost wie weiland Zephir des antiken Griechenlands. Weniger romantisch: die ankommende Bahn schiebt die abgestandene Luft durch den Tunnel, die etwa in Paris zwischen anderen undefinierbaren Gerüchen immer nach Gauloise roch, was einen unverwechselbaren Pariser Großstadtgeruch ausmachte. Sieht man den jungen Alain Delon im Eiskalten Engel durch die Metro vor den Polizisten abhauen, weiß man genau, wie es dort riecht.
Uniformierte, weißbehandschuhte Spezialkräfte, die massenweise Japaner in die Untergrundbahn hineindrücken: Tokio. Unter den vielen Merkmalen, die eine Großstadt als solche erkennbar machen, ist die U-Bahn gewiss das eindeutigste. Hochhäuser, Pissoirs, Straßencafés, Litfaßsäulen, Rolltreppen findet man mehr oder weniger in jeder Großstadt, aber eine U-Bahn haben nur die Weltstädte: New York, London, Paris, Moskau und – es ist wahr – auch Little Big City.
Die U-Bahn ist wie der Flughafen ein sicheres Metropolenattribut, was ja "Metro" schon besagt. "Subway"(N.Y.C.) und "tube" (London) sind eher technische Namen. Die U-Bahn entstand im 19. Jahrhundert in jenen Großstädten, in welchen Massenhaftigkeit und Geschwindigkeit als auffällige Phänomene kapitalistischer Wirtschafts- und Lebensform zuerst auftraten.
Den kühnen, fortschrittsgewissen Planern und Ingenieuren des Fin de Siècle, die Eisenbahnen, Bahnhofskathedralen, Brücken und Hochhäuser bauten, schien nichts unmöglich. Als sich der Verkehr in London derart staute, dass weder für Waren noch Menschen ein Weiterkommen war, beschloss man, den Menschentransport einfach unter die Erde zu schaffen.
Zuvor hatte man schon Abwasserkanäle, Gas- und Wasserleitungen unterirdisch verlegt, und die Tunnelbautechnik war seit den Erfahrungen mit Bergbau und Eisenbahnbau entwickelt genug, um ein solch außerordentliches Projekt zu wagen, wobei man unter Wasser – um sich auf die andere Stadtseite durchzubohren – auch die Themse, die Seine und den Hudson unterqueren musste.
Gespart wurde dabei nicht nur eine Unzahl von Brücken, sondern vor allem an Raum, dem "knappen", das heißt: nicht vermehrbaren Gut einer Stadt, eine Knappheit, die ja auch den Hochhausbau stimuliert hat.
Mit der U-Bahn hatte man den – bisher nur in Utopien entwickelten – Gedanken einer unterirdischen Stadt auf den praktischen Weg gebracht. Das Ergebnis sind, bisher, diverse B-Ebenen. An der Oberfläche blieb Platz für die "schönen" Repräsentationsbauten. Die als unästhetisch empfundene Technik wurde im Historismus, als sogar Maschinen im Renaissancestil ummantelt wurden, untertage gedrückt.
Gewiss waren dabei auch uralte Ängste zu überwinden, denn im Untergrund wähnte man von jeher die Hölle, nicht nur im bigotten England der Queen Victoria. Auch noch heute spricht man ja im negativen Sinn von der "Unterwelt".
Unter den U-Bahnen der Metropolen ist die von Little Big City nicht nur eine der jüngsten, sondern auch die bescheidenste. Sie ist schlichtestes Transportmittel und hat keine ideologischen Funktionen mehr zu erfüllen wie etwa die in Moskau, deren Stationen wahre Marmorpaläste sind. Sie repräsentierten einst im kommunistischen Russland die Potenz des Gemeinsamen, die über das, was der Einzelne vermag, programmatisch hinausgeht – ganz ähnlich wie im 19. Jahrhundert die Eisenbahnkathedralen den technischen Fortschritt heiligten.
Das Merkwürdige am U-Bahn-Fahren ist, dass man, sagen wir, in Brooklyn hinabsteigt und in Harlem auftaucht: Da ist dann alles ganz anders. Das Zwischenstück besteht nur aus Geschwindigkeit und bleibt als visuell erfahrbare Wegstrecke ganz abstrakt. Man versteht die Stadt nicht als Zusammenhang.
Auf der Pariser Linie 1 zwischen den Endstationen Boulogne und Vincennes kann man erleben, wie ein Musette-Walzer (ein Musette-Walzer!) sich langsam näherkommend aus einer weit entfernten Musik zu einem Akkordeon spielenden Russen materialisiert, denn die dort verkehrenden unabgeteilten Schlangenzüge gewähren einen vielleicht 250 Meter langen Durchblick. In den Biegungen wird die Musik leiser, in scharfen Kurven bricht sie ab.

Frankfurter Rundschau v. 04.07.2003, S.13

Little Big City (16): Botenschnelldienste

Boten

Die Männer mit den schönsten Beinen sind die Fahrradkuriere. An ihren epilierten, braunen, eingeölten Waden bleibt so mancher Blick hängen. Die über den Lenker geduckten Jungens fahren schnell, gewandt und – mit Ausnahmen – gegen alle Verkehrsregeln. Sie erspähen jede Lücke und flitzen durch. Sie haben ein extradickes Händy umgeschnallt, aus dem die neuen Aufträge quäken, und auf dem Rücken den flachen Dokumentensack. Keiner kommt in der Stadt schneller vorwärts als ein Fahrradbote. In der Stadt? In der Großstadt! Denn nur dort gibt es das Phänomen rasender Radler in hautengen Renntrikots, die sich zum Verschnaufen hin und wieder auf dem Goetheplatz am Pomodoro-Brunnen treffen.
Wir befinden uns in Little Big City, der schnellsten Großstadt der Republik. Zwar sind alle Notare, Bänker, Broker, Immobilienhändler miteinander elektronisch vernetzt, aber zur schnellen Unterschrift eines Vertrags braucht es ein schnelles Vehikel. Oder auch zur schnellen Besorgung eines Blumenstraußes für den gerade noch rechtzeitig erinnerten Geburtstag einer VIP. Botenschnelldienste entstehen nicht nur dort, wo "time is money" die oberste Maxime der ökonomischen Leitkultur ist, sondern auch wegen der notwendigen Transportzuverlässigkeit.
Postboten kommen und gehen, die Fluktuation ist groß. Hat man nicht von überforderten Postboten gelesen, die ihre Briefe in den Müll geworfen haben? Und dass Briefe innerhalb der Stadt auch mal eine Woche brauchen, hat jeder schon erfahren. Beschwerde? Deren Bearbeitung dauert noch länger. Das alles aber kann nicht passieren, wenn man weiß, dass die Unterlagen am 10.6. um zehnuhrdreißig vom schnellen Rudi transportiert worden sind.
Der schnelle Rudi hat Vorläufer. Bei Mercier (1781) liest man über die "kleine Post", einen Botendienst innerhalb von Paris, den ein gewisser Chamousset 1760 eingerichtet hat: "Man schreibt nur in Geschäftsangelegenheiten oder für die Zerstreuungen, es wäre nämlich höchst unbedacht, über anderes zu schreiben, denn das Ganze liegt in der Hand der Polizei." Es war die Zeit der französischen Aufklärung. Neue und umstürzlerische Gedanken lagen in der Luft.
Im Kirchenstaat ging das anders: "In Italien beförderten früher die Geflügelhändler Liebesbriefe zu den Frauen; sie schoben den Brief dem fettesten Huhn unter den Flügel, und die zuvor in Kenntnis gesetzte Dame säumte nicht, es zu kaufen." Daher heißen die Liebesbriefe "Hühnchen". "Die Pariser Straßenboten holen und bringen sie ohne Unterlass."
Hühnchen werden in Little Big City von den Fahrradkurieren vermutlich nicht befördert, dazu hat man das Händy. Von Stadtboten handeln auch die Tagebucheintragungen des größten Sohnes unserer Stadt aus dem Jahre 1787: Als er sich während seiner Italienischen Reise in Messina aufhielt, machte er klugerweise auch dem Gouverneur seine Aufwartung, versäumte es aber, dessen Einladung zum Essen zu folgen. Der gekränkte Despot ließ den Fremden in ganz Messina durch einen "Laufer" suchen. So hießen die schnellen Boten, die allerdings Bedienstete hochgestellter Persönlichkeiten waren. "Ich ward vom Laufer in einen großen Speisesaal geführt, wo etwa vierzig Personen, ohne dass man einen Laut vernommen hätte, an einer länglichrunden Tafel saßen. Der Platz zur Rechten des Gouverneurs war offen, wohin mich der Laufer geleitete", schrieb Goethe. Er zog sich aus der Klemme, indem er dem Gouverneur "mit der Wahrheit schmeichelte". Denn Goethe hatte bei seinem aufmerksamen Stadtrundgang doch etwas Lobenswertes entdeckt, das den Gouverneur erfreuen konnte.
Die Voraussetzung für die Notwendigkeit von Laufern war im Feudalismus nicht die Knappheit der Zeit, sondern die Etikette der Vornehmheit: Sie verbot, sich umstandslos höchst selbst auf die Beine zu machen. Und die Damen hatten zu Hause am Stickrahmen zu sitzen.
Wer wem wann die Ehre eines Besuchs erwies, war weniger eine praktische als eine Rangfrage. So schrieb man sich und schickte Botschaften hin und her, darunter viele Hühnchen.

Frankfurter Rundschau v. 12.06.2003, S. 14

Little Big City (15): Müll

Presswagen

Bügelbrett, Eisschrank, Couch, Fernseher, Spülbecken, Spiegel: Sperrmüll. Er gehört wie die Fäkalien, das Schmutzwasser und die schlechte Luft zu den Ausscheidungen einer westdeutschen Großstadt vom Kaliber Little Big City. Was nicht für den Flohmarkt ausgemustert wird, kommt in den Sperrmüll. In Rumänien erzählt man sich, dass die Deutschen zu bestimmten Zeiten ihr Mobiliar auf die Straße stellen, um sich alles wieder neu zu kaufen. Jeder, der will, könne sich die Sachen mitnehmen. Man müsse also nur mit einem großen Anhänger nach Deutschland fahren, denken sie.
Herd, Papierkorb, Nachtschränkchen, Regalbretter, Fahrrad, Stehlampe: Sperrmüll. Die ausrangierten Gegenstände säumen den Bürgersteig. Hin und wieder bleiben ältere Leute stehen und begutachten dies und jenes. Dieser Anblick ist typisch für die Großstadt.
Während in Little Big City die FES ab sechs Uhr morgens ihre sechs "Tandems" ausschickt – einen "Presswagen", in dem der Kram zusammengedrückt wird bis es hässlich knackt, und einen Lastwagen der "Werkstadt Frankfurt", der die noch ausschlachtbaren Kühlschränke und Waschmaschinen auflädt – müssen die Einwohner kleiner Kommunen ihre Wohnreste persönlich zum Baumarkt transportieren.
Unsere Urgroßeltern schafften ihre Möbel für das Leben an. Heute dagegen gibt es "Besserverdienende", die ihre Einrichtung nach fünf Jahren auswechseln. Mit jeder neuen Wohnzimmergarnitur haben sie dann das Gefühl, ein neues Leben zu beginnen. Sie geben sich ein neues "image", ganz wie man es längst mit dem Wechsel des Autos oder der Kleidung tut.
Auch die Wohnungseinrichtung unterliegt der Mode. Die größer werdende Mobilität begünstigt den Trend zum Wechseln. Gegen die hundertste Design-Version von Korkenzieher und Klodeckel bietet ein gewisses Edel-Versandhaus Artikel von anno dazumal an, die so solid verarbeitet sind, dass man sie noch seinen Enkeln vererben kann. Die freuen sich dann über ein unzerstörbares Küchensieb oder den "Garderobenständer Alte Nicolaischule".
Gartenstuhl, Sonnenschirm, Staubsauger, Bettgestell, Radioapparat: Sperrmüll. "Wegwerfgesellschaft" ist der kritische Begriff für die Überflussgesellschaft, in der viele von allem zuviel haben. Wer zuviel hat, könnte abgeben. Man könnte, was man nicht wegwerfen, aber loswerden will, weil es abgenutzt ist oder nicht mehr gefällt, auch verschenken. Aber wem, wenn die anderen auch von allem zuviel haben? In herrschaftlichen Häusern fragte man die Dienstboten: "Hertha, können Sie das vielleicht gebrauchen . . .?"
Wer aber kennt schon heute einen richtigen Armen persönlich. Und falls doch, kann man ihm den ollen Stuhl wirklich zumuten? Vielleicht ist er gekränkt. Oder hat Geschmack.
Türen, abgeschlagene Schränke, Latten, Autoreifen, Plastiktonnen: Sperrmüll. Früher improvisierte man im Schrebergarten aus den Resten eigenartige Behausungen für das Wochenende. Heute gibt es fertige Gartenhäuschen, die wie kleine Schweizerhäuser aussehen.
Aber das Wegwerfen hat auch seine philosophische Seite. Diogenes, "der Hund", der ja in einer Tonne wohnte, hat nicht nur den großen Alexander gebeten, ihm aus der Sonne zu gehen, sondern auch das letzte fortgeworfen das er besaß: einen Becher. Er warf ihn fort, als er einen Knaben mit den Händen Wasser trinken sah. Der kynische Philosoph wollte nicht von Dingen abhängig sein, die er nicht unbedingt brauchte. Denn davon abhängig zu sein, auch das erschien ihm – zu Zeiten der Sklaverei höchst feinsinnig – als Einschränkung der Freiheit.
Auch in der Bibel steht, man solle sein Herz nicht an die irdischen Dinge hängen. Und so gibt es in einer Gesellschaft, deren Ökonomen uns dringend zum Konsumieren raten, damit "die Konjunktur wieder anspringt", gegen das Wegwerfen nicht viel einzuwenden. Besitzen? Ja, schon. Aber doch nicht immer dasselbe.

Frankfurter Rundschau v. 21.05.2003, S. 12

Little Big City (14): Hochgeschwindigkeitsaufzüge

Schnelle Lifts

"Mainhattan": ein Spitzname, gewiss, aber Little Big City trägt ihn nicht ohne Stolz, scheint die kleine Stadt damit doch in die Liga der Weltmetropolen aufgestiegen. Frankfurt ist, was Lebensstil, Tempo und die multikulturelle Zusammensetzung der Bevölkerung anlangt, ohne Zweifel die amerikanischste Großstadt Deutschlands. Ob man das nun gut findet oder nicht: es ist so. Und wir haben die meisten Hochhäuser, die noch so manchen Brandenburger zum Staunen bringen.
In Manhattan, New York, wurden die ersten Wolkenkratzer allerdings schon zum Ende des 19. Jahrhunderts errichtet, und das schlaue Konzept, kleine Grundstücke durch Hochbauten optimal zu nutzen, konnte nur realisiert werden, weil der amerikanische Erfinder Elisha G. Otis 1852 den Lift erfunden hatte. Ohne Lift kein Hochhaus.
Die neuen Hochgeschwindigkeitsaufzüge des gleichnamigen Unternehmens sollen heute 88 Stockwerke in 60 Sekunden schaffen. Keine Frage, müsste man die Hochhäuser treppenweise hinaufsteigen, wären die Direktionsetagen im Parterre und die meisten Fitnessstudios müssten schließen. Und es ginge sehr, sehr gemächlich zu. Aber Zeit ist Geld und darum gibt es eben auch schnelle Lifts.
"Morgen! Alles im grünen Bereich?" Mit solchen Sprüchen geben sich Leute im Lift als Insider zu erkennen, als Leute, die hierher gehören. Das wirkt exklusiv, wenn man selber nur Besucher ist.
Noch unangenehmer ist es, wenn überhaupt niemand den Mund auftut. Zu sechst und einander völlig fremd in einem Aufzug zu stehen, das ist eine typische Situation in Little Big City. Die Lifte sind eng. Wir bedienen die Knöpfe, indem wir über die Schulter unseres Nebenmanns greifen. Nirgends sonst ist man gezwungen, einander derart auf den Leib zu rücken. Wir müssen einander zu nahe treten, in eine Nähe, die uns gegen die animalische Natur geht, denn es kann ja sein, dass man einander nicht riechen kann.
Aber auch für die soziale Seite unserer Identität ist die Situation unangenehm. Denn wir müssen auf den Raum verzichten, den wir gewöhnlich zur Entfaltung von Persönlichkeit und Sozialstatus beanspruchen. Wenn auch nur für kurze Zeit: doch wie man weiß, ist der erste Eindruck der entscheidende, und den zu machen, bedarf es nur weniger Sekunden.
Der Mangel an Distanz ist ein Verlust an Spielraum. Unser Äußeres, unsere Kleidung, unsere Gesten, unsere Mimik, all das, mit dem wir unsere Selbstdarstellung pflegen, sind auf solch unkultivierte Nähe nicht eingerichtet. Mit Widerwillen betrachten wir die Schuppen auf dem Kragen und die Haare in den Ohren des Vordermannes. Und bei der näheren Betrachtung einer Nase drängt sich der Gedanke auf, dass die Luft, welche dem anderen entfährt, genau die ist, welche uns zum Einatmen übrig bleibt. Man schaut entweder nach oben oder nach unten. Blickkontakt ist tabu. Und man schweigt.
Eine ähnliche Situation kann man morgens in der U-Bahn erleben. In den alten Trambahnen war es der Schaffner, der mit seinem "Wer ist hier noch ohne Fahrschein . . ." die stumme Spannung erträglich machte. Denn einen, der arbeitet, zu beobachten, ist nicht ungehörig.
In den großen Lifts der Kaufhäuser und Grandhotels betrachtete man den Liftboy. Die Verlegenheit ist nun ohne Liftboy und Schaffner groß. Es kommt darin der irritierende Widerspruch zum Ausdruck zwischen einer – sonst nur Liebespaaren vorbehaltenen – körperlicher Nähe und einer völligen Fremdheit.
Zum Glück gibt es nun aber die Möglichkeit, sich aus dem eigenen Körper zu entfernen, indem man an Dinge denkt, die mit der peinlichen Situation nichts zu tun haben. Dann steht gewissermaßen nur der Körper im Aufzug und man selber ist unterdessen ganz woanders. So geht es dann. Auch in Little Big City.

Frankfurter Rundschau v. 07.05.2003, S. 12

Little Big City (13): Die Welt vom Cafétisch aus gesehen

Unter der Markise

Die Cafés haben die Stühle herausgestellt. Noch sonnenbankbraun, holt man sich mit geschlossenen Augen von der echten Frühlingssonne. Aus manchem T-Shirt lugen die neuen Tattoos.
Straßencafés sind nach dem Krieg aus Paris und Italien eingeführt worden. In Berlin konnte man allerdings schon früher bei Kempinski im Freien sitzen, um zu sehen und sich sehen zu lassen, und in Wiesbaden, da saß man im Café Blum – auf der "Rue". In Italien ist es die Sonne, in Paris sind es die breiten Bürgersteige, die mitten in der Stadt das Draußensitzen ermöglichen. Little Big City hat breite Bürgersteige nur auf der Kaiserstraße und Sonne – nun ja, es ist eben so wie es ist.
Es gibt die Möglichkeit, draußen zu sitzen, bei uns hauptsächlich in den Fußgängerzonen. Aber Ähnliches ist nicht dasselbe. Man sitzt auch nicht an der Straße. Die klassischen Straßencafés Pariser Art haben die Halböffentlichkeit des Balkons. Man sitzt im Offenen, aber eben nicht ganz, denn der Rücken ist durch die Haus-wand, das offene Fenster oder den Eingang geschützt, wohin man sich zurückziehen kann – bei Regen oder einer Demonstration oder einer Schießerei, die in Little Big City ja vorkommt.
Unter der Markise mit flatternden Seitenwänden hat das Straßencafé im Unterschied zu der Abgeschlossenheit eines Cafés etwas zeltartig Provisorisches. Man ist da und schon gleich nicht mehr da, ist nur vorübergehend anwesend. Man tut – auch wenn man da stundenlang sitzt –, als sei man auf dem Sprung, raucht eher Zigarette als Zigarre, und wohnt dort nicht etwa – wie in einem Wiener Kaffeehaus, wo der Kellner einen mit der Frage: "Wie immer, Herr Professor?" begrüßt.
Drinnen im Café sitzen die Kuchenesser, im Straßencafé dagegen glaubt man zuversichtlich, an der frischen Luft zu sein. Ein Refugium ist das Straßencafé nicht. Draußen sitzt man inmitten oder am Rande des Passantenstroms, sozusagen mitten im bunten Leben. Man hat einen weiteren Blick, der Horizont ist größer. Sartre und die Beauvoir pflegten im Straßencafé zu arbeiten (und übrigens im Hotel zu wohnen). Vielleicht vermieden sie die Weltabgeschlossenheit, um sich nicht ins Abseits zu schreiben.
Man sieht hier draußen mehr als drinnen: man beobachtet zum Beispiel ein Pferd (selten), einen Rolls Royce mit Chauffeur, einen abhauenden Taschendieb, den Mann, der seine ganze Habe in Tüten gestopft auf drei Supermarktkarren vor sich herschiebt, den abgerissenen, verrückten Schauspieler, der mit weittragendem Bariton immer "Deutschland" ruft, das er gegen die rechte Gefahr wachrütteln will. Man hört den Straßenmusikanten zu oder applaudiert dem russischen Stepptänzer, der über das Kopfsteinpflaster fliegt wie Fred Astaire. Allerdings soll es einen Mann geben, der vor den Kaffeetrinkern exhibitionistisch seine ekligen Verbände abwickelt.
Richard Sennett beklagt, dass der Voyeurismus, den Balzac einmal die "Gastronomie des Auges" genannt haben soll, das Leben in der Öffentlichkeit in ein teilnahmsloses Zuschauen verwandle. "Im Café ballte sich zum erstenmal eine große Anzahl von Menschen, die sich entspannten, die tranken und lasen, die aber durch unsichtbare Wände voneinander geschieden waren."
Das heißt man sitzt wie im Kino. Aber man kann da mit Hut sitzen, Pfeife rauchen, fotografieren, telefonieren, eine Dogge unter dem Tisch haben und kann zuschauen ohne mitzumachen – da hat Sennett ja Recht. "Hallo Uli! Ja, was machst du denn in Little Big City? Komm setzt dich!" Und dann erzählen sie sich was. Wenn sie zuende sind, gucken sie den Frauen nach – diese Voyeure, diese bloßen Zuschauer.
Nur im Straßencafé – nicht im Café – sieht man die Menschen von weiter herankommen, vorbeigehen und verschwinden im rechten Abstand, um sie ein- und abzuschätzen. Die da zum Beispiel, wow!

Frankfurter Rundschau v. 19.04.2003, S. 12

Little Big City (12): Das Kaufhaus

Ein Traumschloss, in dem man auf Überwältigung setzt

Das Kaufhaus als Traumschloss: "Weit wie eineBahnhofshalle war diese Galerie, umgeben von den Balustraden der beidenStockwerke, durchschnitten von freitragenden Treppen, überspannt von schwebenden Brücken. Und all dieses Eisen bildete unter dem weißen Licht derGlasdächer eine schwerelose Architektur, ein dem Tageslicht Zugang gewährendesSpitzengewebe, die moderne Verwirklichung eines Traumschlosses." Dies war derPalast für König(in) Kunde, die suggestive Architektur des fiktiven PariserWarenhauses Au Bonheur des Dames, das Emile Zola in seinem gleichnamigen Roman beschreibt (1882).
Nichts charakterisiert die moderne Großstadt so sehr wie das Kaufhaus, das in Little Big City allerdings weit nüchterner daherkommt als in Paris. Die Massenproduktion der kapitalistischen Industriegesellschaft konzentriert hier alle gängigen Konsumgüter der Welt. Massenhaft die Waren, massenhaft die Käufer: es ist das Massenhafte, worin sich das Großstädtische am deutlichsten ausdrückt.
Die Kaufhäuser stehen in der Stadtmitte – imUnterschied zu den Verbrauchermärkten auf der grünen Wiese. Was über denGrundbedarf hinausgeht, kauft man im Kaufhaus. Das Modische hat Tradition: Die ersten Warenhäuser hießen "Magasin de Nouveauté".
Auch in Little Big Citystehen sie in der Stadtmitte: auf der Zeil, der umsatz-stärksten"Verkaufsmeile", eins neben dem anderen. Bei uns brachten die Bomben zuwege, was in Paris unter Napoleon III. die Abbruchkommandos des Baron Haussmann besorgt hatten: Das Zentrum von den ärmeren Bewohnern frei und Platz für das große Geschäft zu machen. Die Kauflustigen strömten schon damals in Scharen herbei, nicht nur aus allen Stadtteilen, sondern sogar aus der Provinz.
Das moderne Kaufhaus – dessen Urahn der tausend Jahre alte überdachte Bazar ist – hatte ein bestimmtes Verkaufskonzept zur Voraussetzung. Ein gewisser Aristide Boucicault kam 1852 auf die Idee, in seinem Handelsgeschäft "Bon Marché" denProfit über den großen Umsatz zu machen und zwar zu festen Preisen, bei freiemZugang in das Ladeninnere sowie ohne Kaufverpflichtung. Und er wandte sich an den anonymen Käufer. Das alles war sensationell. Das zeitraubende Feilschen passte nicht mehr in die neue Ära, in der die Minimierung der Warenumschlagszeit einen guten Teil des Profits ausmacht.
Einen direktenVorläufer hat das große Kaufhaus in der Passage, die nichts anderes war als eine glasüberdachte Straße mit vielen selbstständigen Einzelhändlern. Die neuen Eisenkonstruktionen und die Erfindung des Gussglases machten das Oberlicht möglich. (Auch in Little Big City wollte man vor ein paar Jahren noch die ganzeZeil überdachen.) Das Waren-haus fasste dann alle Branchen unter einem Dach zusammen. Neu war nun die Möglichkeit, die Waren auch nach Geschäftsschluss zu begutachten: durch die riesigen Schaufenster und beleuchtet! Abends promenierte tout Paris an den durchsichtigen Fassaden entlang. Mouret, der Chef in ZolasKaufhaus und der Erfinder der "brutalen und kolossalen" Dekoration verlangte eine "Feuersbrunst von Stoffen. Den Leuten müssen die Augen weh tun, pflegte er zu sagen." Und im Inneren des Hauses hörte man bald nichts mehr "außer dem starken Rauschen des Verkaufs". Die Dekoration, sie war auf Überwältigung besonders der Damen hin angelegt.
Der subtilen Verführung dienten dieEinrichtung von Restaurants, Cafés, Bars, Gemäldegalerien und Lesesälen. DieseIdeen sind also durchaus nicht neu. Das pompöse Kaufhaus suchte – wie die etwa zeitgleich errichteten Bahnhöfe – eine sakrale Wirkung zu entfalten. Zelebriert wurde der Fortschritt: der Überfluss an Waren und die Überwindung des Raums. Zola beschreibt das Kaufen in der Belle Époque als einen Rausch.
Und heute? Heute gilt – wie Umfragen ergaben – das "shopping" auch in Little Big City fürviele als ein Vergnügen, das gleich hinter dem Sex rangiert.

Frankfurter Rundschau v. 09.04.2003, S. 13

Little Big City (11): Denkmäler

Geld und Geist

Dass sie dem größten Sohn von Little Big City auf den Kopf machen, kann man den dummen Tieren nicht vorwerfen. Sie wissen nicht, wer Goethe ist. Das Denkmal – vormals auf dem Goetheplatz – steht abseits, an der Gallusanlage, und schön ist es nicht. Wie alle Großstädte hat auch Little Big City seine Denkmäler. Sie wurden entweder gestiftet oder von der Kommune selber finanziert.
Im 19. Jahrhundert gab es keinen Platz, in dessen Mitte nicht eine bedeutende Persönlichkeit in Stein gemeißelt oder in Bronze gegossen auf einem Sockel stand. Auf dem Platz stand und steht sie, weil dieser noch immer Symbol der städtischen Öffentlichkeit ist – obgleich die moderne Öffentlichkeit – von großen Demonstrationen abgesehen – längst bloß noch medienvermittelt ist. Meist ist das Denkmal einem großen Mann gewidmet, der in der jeweiligen Stadt geboren ist oder wenigstens in ihr gewirkt hat und hier nach seinem Tode verewigt wird. War der große Mann ein Feldherr, sitzt er zu Pferde. Und steht dazu noch auf dem Sockel. Denn der garantiert, dass der Bürger zum Höheren aufschauen muss – wie in Hannover zu Ernst August auf dem Pferd, der dort zu einem Treffpunkt geworden ist. Man sagt da: "Wir treffen uns um drei bei Ernst August unterm Schwanz."
Ein Denkmal ist ein Mal, das heißt ein Zeichen des Gedenkens, der nachdenklichen Erinnerung an eine wichtige Person und ihr Wirken. "Monument" formuliert darüber hinaus einen normativen Anspruch: denn ein "Mahnmal" ist ein moralischer Appell, der von mehr oder weniger guten Künstlern mehr oder weniger frei gestaltet wird. Doch der Übergang ist fließend – wie etwa bei Constantin Meuniers Dockarbeiter von 1893 an der Sachsenhäuser Auffahrt zur Friedensbrücke: Von schwerer Arbeit gezeichnet, doch stolz steht er da. Er fordert kein Mitleid, sondern sein Recht – nicht nur für sich, sondern auch für die anderen. Vergesst nicht die, welche die schwerste Arbeit tun!
Meist hat man sich bald nach den Einweihungsfeierlichkeiten an ein Denkmal oder Mahnmal gewöhnt. Man geht vorbei und seinen Geschäften nach. Nur die japanischen Touristen fotografieren es auf alle Fälle als etwas Besonderes. Der überlange Goethe mit dem Lorbeerkränzchen in der Linken erinnert zwischen den Banktürmen daran, dass es in Little Big City nicht nur um Geld gehen soll, sondern auch um Geist. Oder am besten um beides.
Da die meisten Einwohner ein Denkmal nicht weiter beachten, ist die Mahnung allerdings umsonst. Wozu also Denkmäler, wenn sie keine Wirkung haben? Es ist das Selbstverständnis der Stadt, die sich derart den Fremden darstellt. Denkmäler akzentuieren das Image. Während Residenzstädte an Fürsten und Bischöfe erinnern, denen sie Schlösser und Kirchen verdanken, wenn nicht gar ihre Gründung, gedenkt Little Big City seines klugen Weltbürgers. Die einen nennen sich Barockstadt, Little Big City will "Weltkulturstadt" werden.
Frankfurt war freie Reichsstadt, und in der Paulskirche trat später das erste Parlament zusammen. Die Freiheit ist es, die Little Big City seit je ausgezeichnet hat. Als Patin von Bürgersinn und Krämergeist gehört sie zur großen Tradition dieser Stadt, deren Liberalität sich auch heute in der Gelassenheit gegenüber Ausländern beweist. Müssen andere ihrer Fürsten gedenken, erinnern wir uns eines Dichterfürsten – ohne dabei freilich das "Business" zu vergessen.

Frankfurter Rundschau v. 17.03.2003, S. 13